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tropfen, quellen, stehende gewässer

tropfen, quellen, stehende gewässer: Der Kreislauf der Gesteine und der Sprache

Visuelle und gelesene Gedichte

Am 9. September 2016 im Rahmen des 17. Symposions sine nomine von Maria Eger im Forsthaus Schweigelberg in Gößweinstein

Zuvor am 9. Juli 2016 im Rahmen des 3. Nittendorfer Gartenkolloquiums zum Thema »Natur«

Vielen herzlichen Dank an Maria Eger für die Vorstellung und überhaupt für die Einladung zum Auftakt dieses 17. Symposions sine nomine.

Gemäß des Begleitschreibens soll ich hier ja – neben Hans Wollschläger für das 20. und E.T.A. Hoffmann für das 19. – die Poesie des 21. Jahrhunderts repräsentieren, was ein bißchen zuviel der Ehre ist, aber ich habe doch die Hoffnung, daß ich einen kurzweiligen und schönen Auftakt werden bieten können, einen Prolog gleichsam, und wie dieser sich thematisch in das faszinierende Programm dieses Wochenendes fügt, wird sich weisen. Es gibt sicher Beziehungen, untergründige und oberflächlichere, nicht zuletzt zu Hans Wollschlägers Enuma-elisch-Text, den wir zum Ausklang des Symposions hören werden: „Geschiebelehm der Silben“, heißt es dort , „von dem ich genommen“ …

Die in einen kleinen Vortrag eingebettete Lesung, die ich heute darbieten möchte, habe ich zuerst auf Heinz Neumann-Riegners 3. Nittendorfer Gartenkolloquium zum Thema „Natur“ vorgestellt, an dem – Anfang Juli – auch Maria Eger teilgenommen hat und wo sie wohl genug Beziehungen entdeckt hat, um mich hierher einzuladen. Meinen damaligen Beitrag habe ich für heute leicht erweitert und verändert.

Es handelt sich um einzelne Gedichte aus einem größeren Kontext, aus dem Roman „homo fluidus oder das Schöpfungsspiel„, der noch tief im Entstehungsprozeß begriffen ist und sich aus vielen verschiedenen Textsorten zusammenfügen wird: aus novellistischen Abschnitten, aus Essays, Dialogen, Collagen, Aphorismen, Kurzprosa, aus Fragmenten, Gedichten, auch einer lyrischen Großform (einem Epos).

Insbesondere die lyrischen Teile umkreisen zwei Motivkomplexe aus der Natur: Wasser und Stein, Wasser natürlich für das Fließende, Veränderliche, das Werden; Stein für das Starre, Beharrende, das Sein. Und (wiederum:) natürlich wird bei genauerem Hinsehen erkennbar, daß es sich dabei eigentlich nicht um Gegensätze handelt: Das Fließende ist mitunter nicht vom Starren zu unterscheiden, Wasser verwandelt sich in Stein und umgekehrt, das Sein ist in ständigem Werden begriffen: „Halten wir aber fest, daß alles fließt“, heißt es bei Heinz Neumann-Riegner in seiner „Kleinen Phänomenologie des Unterwegsseins“. Natürlich gibt es nicht nur einen Kreislauf des Wassers, sondern auch einen Kreislauf der Gesteine

Die Begriffe „Werden“ und „Sein“ weisen schon darauf, daß ich die Motive „Wasser“ und „Stein“ als Metaphern für zwei verschiedene Aggregatzustände der Sprache verwende: die „Sprache des Seins“, die abstrakte, starre Begriffs-Sprache; und die „Sprache des Werdens“, die sinnlich-konkrete metaphorische Ausdrucks-Sprache. Von der Sprache des Seins zu einer Sprache des Werdens soll die Sprache des „homo fluidus“ sich entwickeln (besser: kreislaufen) und, damit einhergehend, die Figuren des Romans vom homo sapiens, dem „vernünftigen“, zum homo fluidus, dem flüssigen oder fließenden Menschen. Die Welt der Romanfiguren soll sich verwandeln von einer Welt der harten, unveränderlichen Wahrheiten zu einer veränderlichen Welt der Transformationen, Metamorphosen, Verwandlungen. Und – natürlich – bleibt am Ende die Frage, ob nicht doch allem Veränderlichen ein unhintergehbares, gleichsam ununterspülbares Beharrendes zugrundeliegt. Idealismus und Romantik versuchten – flußweise – auf dem „Ich“ zu beharren. „Ich bin“ …

In den wenigen Gedichten, die ich heute vorstellen kann, wird sich diese Entwicklung nicht nachvollziehen lassen, ich wollte nur den Kontext skizzieren, in dem diese Gedichte stehen oder unterwegs sind. Aber ich kann mit dem ersten Text, den ich lesen möchte, vielleicht einen Eindruck vermitteln, wie die Motive aus der Natur metaphorisch mit dem Gegenstand der Sprache verbunden werden, die natürlichen Kreisläufe mit dem sprachlichen Kreislauf. Es handelt sich – bei den Seiten 1 und 2 auf Ihrem handout – um einen experimentellen Text (vielleicht ein Prosagedicht), der Sätze, Strophen, Verse aus einem Kapitel des erwähnten Romans, einer 50-seitigen Collage, zusammen-, ineinanderschüttet: „homo fluidus oder: Das Meer“ ist der Titel dieser Collage. Ins Meer – wie in die meisten anderen der heutigen Texte – ergießen sich Zitate, auch Zitate anderer Autoren, bekannter wie weniger bekannter; in gewisser Hinsicht haben weite Teile des Romans Collagen-Charakter, „Einflüsse“ sind ein zentrales Thema, das gemeinsame Sprach-Meer der Menschen. Die erwähnte 50-seitige Collage, die heute zu diesem 2-seitigen Experiment hier verdunstet, gibt ein Gespräch zweier Menschen wider (die durch die beiden Farben unterschieden sind oder werden), ein Gespräch von den allerersten zwischen diesen beiden Menschen gewechselten Worten bis zu ihrer körperlichen Vereinigung, vom sprachlichen zum ebenfalls sprachlich sich vollziehenden physischen Ineinanderfluß; allerdings wird dieses Gespräch, dieser Dialog nicht auf der Ebene der ausgesprochenen Worte wiedergegeben, sondern auf tieferen Sprachebenen, hindurch durch die absteigenden (Wasser-)Schichten, die durch verwirbelte Unterströmungen untergründig, unausgesprochen, unlogisch miteinander kommunizieren.  – – Das Meer aber ist sehr tief, und in der Tiefe löst die Sprache sich auf. — So tief wie das ursprünglich 50-seitige Meer, in dem sich alles vereinigt und löst, ist diese 2-seitige Lagune hier, die sich aus jenem Meer speist, nicht; aber zur Auflösung der Sprache kommen wir dann trotzdem noch, später, in luftiger Höhe  …

homo fluidus oder: Das Meer

Wie gesagt, das war nur eine Lagune, wer möchte, kann auch einmal ins 50-seitige Meer hinabtauchen, hier, im Manuskript meines Romans …

Die Nietzsche-Kenner unter Ihnen haben vielleicht schon bemerkt, daß Nietzsches berühmter früher erkenntnistheoretischer Text „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ ein wichtiger Ausgangspunkt für den „homo fluidus“ ist: Vom „Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse“ ist da bei Nietzsche im Hinblick auf den Kreislauf der Sprache die Rede, der vom sinnlichen Eindruck über den metaphorischen Ausdruck zum „Auftürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes“ läuft. Es ist eben keine lineare Entwicklung, sondern ein Zyklus, ein Kreislauf – dem Kreislauf der Gesteine vergleichbar –, und so sieht Nietzsche den „Trieb zur Metapherbildung“, den er mit einem Fluß vergleicht, immer wiederkehren, und zwar im Mythos und in der Kunst. Und so habe auch ich meinen Kreislauf der Sprache im Mythos beginnen lassen, und zwar im (Verwandlungs-)Mythos der Arethusa aus Ovids „Metamorphosen“. Das Gedicht, das diesen Mythos direkt verarbeitet, ist hier auf S. 3-5 abgedruckt; ich werde es nicht lesen, weil – ungeachtet der mythologischen Metamorphosen – es mehr zu einem speziellen Themenkreis des noch traumatisch festsitzenden homo sapiens gehört als zu unserer Gegenwelt der wunderbaren poetischen Transformationen.

quellen

Ebenso das nächste Gedicht (S. 6), das nun zwar geologische, mythologische und historische Motive ineinander verwebt und auch schon das Getränk bereitstellt, das die metamorphen Prozesse des „homo fluidus“ entzünden könnte, aber andererseits noch der starren Großschreibung verhaftet bleibt.

(der Kiesel …)

Das nächste Gedicht (S. 7) kann ich gar nicht lesen: Es ist ein rein visuelles Gedicht:

giess(sturz)bäche wasserfälle undichte oder überlaufende dachrinnen

(Die Buchstaben aus der Titelzeile finden sich wieder zunächst in den beiden Wasserfällen, dann im blauen See und endlich im Ablauf inklusive des Untertitels und symbolisieren so die immer unvollkommene Verwandlung von Wasser in Stein, von Festem in Flüssiges.)

Aber nicht nur in der Kunst verwandelt sich Wasser in Stein und Stein in Wasser, sondern tatsächlich auch in der Natur: im Karst. Dieses nächste visuelle Gedicht „karst“ (S. 8) ließe sich zwar lesen, aber zuviel sitzt mir jetzt auch hier noch fest, zu viele „Abkömmlinge der Unterwelt“ …

karst

Kleiner Exkurs (oder Exkursion): Die Fränkische Schweiz, in der wir uns hier so schön und gut befinden, ist ja eine Landschaft, die zutiefst geprägt ist von der geologischen Erscheinung „Karst“! In nächster Umgebung von Gößweinstein könnten wir den erdichteten „karst“ gewissermaßen verwirklichen: Wir könnten zu Karstquellen pilgern, zu Dolinen oder Sinterterrassen; wir könnten in eine der unzähligen Höhlen hinabsteigen, die die Landschaft unterminieren (oder kurz vor dem Abstieg umkehren), es gibt Versturzhöhlen, Höhlenruinen, trockenliegende Flußhöhlen, Tropfsteinhöhlen, die Höhle Riesenburg, die Zwergenhöhle, die Mysteriengrotte (etwas weiter entfernt), die Binghöhle in einem Steilhang des Schauertales und natürlich die berühmte Teufelshöhle bei Pottenstein, in die wir durch das sogenannte „Teufelsloch“ oder das „Tor zur Unterwelt“ eindringen würden … dies nur als ganz kurze sprachliche Exkursion …

Und zur Verwandlung von Wasser in Stein und Stein in Wasser sei noch hinzugefügt: Geologisch gilt auch Eis als Mineral (was an einer Stelle auch in dieses Gedicht „karst“ einfließt: Die steinernen Abkömmlinge der Unterwelt beginnen zu schmelzen).

Aber nun!: nun wird es zunächst luftig und dann brackig: Das nächste Gedicht „tropfen (weltwort)“ (S. 9-13) verwickelt den Leser – oder den Zuhörer – in einen Tropfenwirbel: Aus den Buchstaben des blauen Weltworts – vielleicht den Äther symbolisierend – bilden sich auch alle anderen blauen Worte und – abgeleitet – die blauen Buchstaben, und der schwarze Tropfenwirbel läßt sich auf zwei verschiedene Weisen lesen: Einerseits in vier einzelnen vertikalen Spalten, die Satzfragmente bilden, um endlich doch im umfassenden Tropfenwirbel aufzugehen, andererseits als von Anfang an allumfassenden Wirbel aus allen schwarzen Worten und Buchstaben. Es endet mit dem Aufprall und Zerspritzen des Tropfens auf dem Boden. Dies vorzulesen ist eine ziemliche Herausforderung (die ich jetzt aber annehme), herausfordernd vor allem ab dem Punkt, wo sich die Sprachlogik aufzulösen beginnt, wo die Auflösung der Sprache (der Sprache des homo sapiens) beginnt und wo sich gleichsam die Tiefe der Ozeanosphäre in der Atmosphäre widerspiegelt. Zunächst also die fragmentarischen vertikalen Spalten:

tropfen (weltwort)

Die Stelle, wo der Tropfen zerspritzt, wird dann im darauffolgenden Gedicht des Romans zum Thema, aber das würde schon wieder zu weit von unserer wunderbaren romantischen Gegenwelt wegführen. Allerdings sind die „pfützen lachen tümpel (stehenden gewässer)“ des nächsten Gedichtes auf Ihrem Ausdruck (S. 14) auch mit dem „tropfen“ verbunden: Die Verdunstung deutet hier den Kreislauf des Wassers an, und über das Gedächtnis des Wassers sind die stehenden Gewässer nicht nur mit den wirbelnd ineinanderspritzenden Tropfen, sondern – wie diese – sogar mit dem erlösenden  Meer verbunden. Dieses brackige Zeug hier zu lesen wird jetzt auch eine Herausforderung, aber es löst sich zumindest nicht auf wie der Tropfen und das Meer, mal sehen, ob und wie es mir gelingt:

pfützen lachen tümpel (stehende gewässer)

Im letzten Abschnitt kommen wir jetzt zum bereits angespielten Kreislauf der Gesteine, der in dem nun folgenden kleinen Gedichtzyklus – der nicht voll eigenständig, vielmehr auch Teil des vielstimmigen Romans ist –, der also in dem auf S. 15 beginnenden Gedichtzyklus dargestellt wird an der Entstehung des Minerals Azurit, wobei der natürliche Kreislauf der Gesteine erweitert wird um einen ihn unmittelbar fortsetzenden Kreislauf der Kunst, der in den Kreislauf der Gesteine gleichsam hineingefaltet wird: Azurit nämlich, das sogenannte Bergblau, wurde in Antike und Mittelalter als Farbpigment abgebaut, es wurde also – und wird in viel geringerem Maßstab, für Restauratoren und spezialisierte Künstler, auch heute noch – abgebaut, um zu einer blauen Mineralfarbe verarbeitet zu werden, in Antike und Mittelalter als Ersatz für den edelsteinteuren Lapislazuli, das Ultramarin. Der Kreislauf der Gesteins-Transformationen setzt sich also fort in einer Verwandlung des Azurits zu kleinen Blaubrocken, zu einem Pulver in einem kleinen Gefäß in der mittelalterlichen Künstlerwerkstatt, zur „lazur“ genannten Mineralfarbe und schließlich zu einem leuchtenden Blau auf der Leinwand des Künstlers, im Gedichtzyklus ist es Albrecht Dürer, der nachweislich Azurit und wahrscheinlich auch solches aus dem Blauberg bei Wallerfangen im Saarland verwendet hat, dessen Transformation hier nachgedichtet wird. (Gestern übrigens habe ich schon die Gedenktafel für Albrecht Dürer in Bamberg aufgesucht: sehr passend, denn sein Haar sieht aus wie die wellende Regnitz beim Alten Rathaus.) Die verschiedenen Kreisläufe fließen hier also ineinander: Meeressedimentgestein – vor 190 Millionen Jahren schon einmal aus dem Magmaozean ausgehärtet – dringt wieder zurück in die Tiefe des Erdinneren, wird dort wieder aufgeschmolzen zu Magma, dringt flüssig zurück an die Oberfläche, härtet wieder aus, löst sich in Wasser, lagert sich ab, verwittert zu Azurit, wird aus seiner Matrix (seinem Kontext) herausgebrochen, zermahlen, zu blauer Farbe (re-)verflüssigt, auf der Leinwand zu einer leuchtend blauen Fläche gestaltet, in ein Meer (zurück-)verwandelt, und schließlich, in diesem Gedichtzyklus, verdichtet zu Sprache: Vom Gestein zum Gewässer zum Gedicht, das wieder mit „Gestein“ beginnt. Hier: Vom Geröll (dem ersten Wort) ins Gedicht (in das letzte Wort des Zyklus).  – Den ganzen Gedichtzyklus zu lesen, würde zu lange dauern; ich habe einige Gedichte ausgewählt, die das Ineinander der Kreisläufe zur Sprache bringen und rhythmisch erlebbar machen sollen, wobei zuletzt noch ein ganz anderer Kreislauf aufbricht, der bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen ist, eine ganz andere Tiefe: Der künstliche Transformationsprozeß zur schönen azurblauen Farbe beginnt nämlich an einem Ort, der zwar ein Ort der Verwandlung und auch wiederum einer der Auflösung der Sprache (und der Gesteine) in der (ganz anderen)Tiefe ist, aber weder ein schöner noch ein poetisch-wunderbarer:

singularität (S. 18; S. 20; S. 21; S. 22; S.24; S. 26; S. 27; S. 31; S. 32)

(Auch hier sind zwei oder sogar drei Lese-Weisen möglich: die einfache Gedichtfolge; nach jedem Gedicht nochmals dessen erste und letzte Zeile; oder nur die erste und letzte Zeile jedes Gedichts.)

Noch ein letztes Wort zu Wasser, Stein und Sprache: Es ist die sedimentäre Abfolge des Kreislaufs der Gesteine, die in diesem Gedichtzyklus den Transport der wasserlöslichen Silben und Staben von einem Wort zum anderen, von einer Zeile in die andere bedingt …

Eigentlich sind wir damit fertig. Ganz zum Schluß finden Sie, zur Auflockerung mit tragischem Kontrapunkt, noch zwei Kleinigkeiten, ein Gedicht und ein Stück Kurzprosa, die sich dann zum Abschluß doch noch zu einer ersten Miniatur jenes erwähnten traumatisch festsitzenden homo sapiens fügen, von dem bislang nur raunend die Rede war.

Der homo sapiens entdeckt im vereisten Gefrierfach seines zu lange nicht abgetauten Kühlschranks die große weite (die Eisriesen-)Welt: (S. 34)

eisriesenwelt (sturm im wasserglas)

Und der homo sapiens wird vom endlich vollkommen sublimierten und nicht mehr erkenn- und erfahrbaren Mythos zu Tode erschüttert: (S. 35)

(In einer mitteleuropäischen Sprache …)