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Band 1: Das dunkle Zeitalter

Das dunkle Zeitalter

Roman

Alle Figuren in diesem Roman sind fiktiv,
auch wo sie realen Personen ähneln mögen.
Nichts, was einer Figur zugeschrieben ist,
bezieht sich auf eine reale Person.

Das Dunkle Zeitalter

Worte des Herausgebers

Seit 250 Jahren, seit einem Vierteläon, gilt das titellose Typoskript, das damals unter dem Titel »Das Weiße Dorf« erstmals ediert wurde, als das wertvollste Dokument der Neuen Menschheit. Bis heute ist es das einzige sprachliche Zeugnis der Endzeit der alten Menschheit, das auf uns gekommen ist, heute errichtet man den Büchern, die sein Rätsel, die Rätsel seiner Errettung und die Rätsel seiner Erzählung, zu lösen versuchen, eigene Bibliotheken, und heute erscheint mit dem vorliegenden Buch die erste Ausgabe dieses Menschheitsdokumentes, die beansprucht, seine Worte vollständig erfaßt und dadurch das »dunkle Zeitalter« seiner Lückenhaftigkeit endgültig überwunden zu haben.

Die alte abendländische Rationalität hätte sich über den Rätseln der Errettung und der Erzählung sicherlich sehr viel schneller beruhigt, als darüber, – worüber wiederum heute niemand mehr rätselt –, daß der Autor des »Weißen Dorfes« das fast fünf Jahrhunderte bergende Dunkle Zeitalter, das die Neue Menschheit von der alten scheidet, hell genug zu durchsehen vermochte, um noch uns die Stromlinien zu erhellen, die in den Großen Untergang münden. Heute wissen wir um die wundersame Macht der Sprache, Jenes ans Licht zu fördern, was unkenntlich in den irrationalen Tiefen der Nachtvernunft dunkelt. Schon damals jedoch, schon vor 250 Jahren, als der Fund des Finders gefunden wurde, hatte sich die Tagesvernunft der Neuen Menschheit ihren Ursprüngen zu hochhinaus entfremdet, um in sich noch sprachlich gestaltbare Ungestalten aus der Zeit des Großen Untergangs zu begreifen, und so wird, – sollten nicht noch weitere spracharchäologische Wunder geschehen, die freilich sehr viel seltener zu erwarten sind als sprachliche –, so wird wohl die vollständig erfaßte und dadurch erstmals als Kunstwerk wiedergewonnene Sprachgestalt des »Weißen Dorfes« für immer die einzige bleiben, worin die letzten Jahrhunderte vor dem Dunklen Zeitalter, worin Verfall und Untergang der alten Menschheit umfassend erkannt und – was die Grenzgebiete der transrationalen Reichweite der Sprache angeht – irrational erfahrbar aufgehoben sind.

Wie für Alle, die uns in der Herausgabe des »Weißen Dorfes« voraufgegangen sind, war es auch für uns das höchste Ziel, sein postapokalyptisches Deutsch, das Absurde, Hyperbolische, Naive, Primitive, Epigonale, Eklektische, Widersprüchliche seines Körpers, seine Inkohärenz und Inkonsistenz, so weit wie möglich zu erhalten. Wie Alle, die es auf diese Weise vollständig wiederherzustellen suchten, mußten auch wir damit beginnen, es behutsam in Neues Deutsch zu übertragen, behutsam es dort zu rekonstruieren, wo harmlose oder schwere Korruptelen seine Auferstehungskräfte schwächten, und wie Alle mußten auch wir alle unsere Eingriffe in die Gestalt, die uns der Finder hinterlassen hat, kennzeichnen, – und niemals, zu keinem Zeitpunkt dieser dunklen Jahre, glaubten wir, wir könnten diese Wiederbele-

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bungsmühsal so weit treiben, daß eines Tages das ersehnte Wunder, das seit einem Vierteljahrtausend ersehnte Sprachwunder geschehen könnte: Doch es geschah, eines Tages gebar der seit 250 Jahren unermüdlich, Wort auf Wort auf Wort, nachgeschöpfte Sprachkörper des »Weißen Dorfes« sich neu, so daß alle Kreuze und Konjekturen, Verletzungen und Verstümmlungen selbstheilten und der Text buchstäblich vor unseren Augen, auto-logisch, zu einem letztgeschliffenen Kunstwerk zusammenschoß! Heute ist »Das Weiße Dorf« – solange uns die erregte Fachwelt keinen Fehler nachweist – erstmals seit seiner Findung wieder ein Kunstwerk! Hier muß nichts mehr kenntlich gemacht werden, hier ist alles kenntlich.1 Diese Sprache ist wieder lebendig. Sie ist eine Zwischengestalt, eine Gestalt, die in einem Reich zwischen ihrem ursprünglichen postapokalyptischen und einem Neudeutschen oszilliert, eine Gestalt, die – man beweise uns das Gegenteil! – sich zu ihrer ursprünglichen so verhält wie die heutige Zeit zu der ihres Ursprungs, und unsere heutige Tagesvernunft kann sich mittels dieser Sprachgestalt endlich die Nachtvernunft des Dunklen Zeitalters, da die Zeit des Großen Untergangs noch unmittelbar zugänglich war, fruchtbar machen. Im achten Jahrhundert ihrer Geschichte kann die Neue Menschheit die Katastrophe der alten, der sie ihr Dasein verdankt, nun erstmals lückenlos erfassen.

Danken möchten wir zuerst – auch hier unseren Vorgängern folgend – dem Autor des »Weißen Dorfes«, Anonymus, der wohl niemals Genaueres von Sich preisgeben wird als jene so oft gedichteten Sätze: Sein Leben ist auf den Bücherfluchten einer monumentalen Bibliothek vergangen, die das unermeßliche Wissen der alten Menschheit barg. Alle Hauptwerke aus der Blütezeit der alten Kultur, Seine Sprache zeichnet es nach, waren Ihm greifbar. Und Seine Sprache zeichnet Ihn, der dem Dunklen Zeitalter entstammte, das Er mit Seiner Schöpfung ans Licht brachte, als den ersten Menschen der Neuen Menschheit, – wogegen der Finder, dem wir an zweiter Stelle zu danken haben, der letzte der alten Menschheit bleibt, dem Dunklen Zeitalter verhaftet, obwohl mehr als ein Jahrhundert später lebendig, auf dem Höhepunkt der Neumenschlichen Kolonisationsbewegung. Auf einem Müllhügel fand er das Typoskript, barg es und sicherte es, wo es dreieinhalb Jahrhunderte später zu finden war, doch seine Sprachlosigkeit begründet seine Ferne. Er ahnte wohl erst die nachtvernünftige Macht der Sprache.

Wir danken allen Forschern, die in den vergangenen 250 Jahren den Durchbruch vorbereitet haben, den wir mit diesen Worten der Neuen Menschheit eröffnen. Vor allen danken wir denjenigen, die in jüngster Vergangenheit den historisch-wissenschaftlichen Grund bereitet haben, auf dem die folgenden 700 Seiten beweisen können, daß der Finder tatsächlich vor 600 Jahren ein titelloses Typoskript aus dem Müll gegraben und in einem Tresor aus alten Tagen verwahrt hat, daß Anonymus tatsächlich vor heute 733 Jahren die letzten Worte des »Weißen Dorfes« gefügt und daß die Geschichten, die Er zur Sprache gebracht hat und die in den Untergang der alten Menschheit mündeten, tat-

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sächlich vor ungefähr 1250 Jahren geschahen; und vor allen danken wir denjenigen, die sprachwissenschaftlich erklären, woraus all die alten, abgestorbenen Sprachen, – und eben nicht nur das Deutsche, das aus der beispiellosen Schöpfung des »Weißen Dorfes« keimte –, woraus alle alten, abgestorben Sprachen neu erwachsen konnten: Sprachen sind notwendige Gestaltbildungen der aus dem Ungestalten schöpfenden Nachtvernunft.

Zuletzt, – und hier nun können wir den einen scheidenden Schritt weitergehen als alle unsere Vorgänger –, zuletzt danken wir: Thomas Brook: dem Autor des dreibändigen Epochenromans, der im neuralgischen Zentrum steht des folgenden, so tief vergangenen Geschehens. Erst heute, da »Das Weiße Dorf« wieder ein Kunstwerk ist und also die darin bewahrten Geschichten historisch verbürgt, ist das Dasein des Thomas Brook letztgültig bewiesen, aus dem die Inspiration des Anonymus lebendig quoll. Der Autor des »Weißen Dorfes« hat den dreibändigen Epochenroman gekannt! Er war der letzte Mensch, der ihn gekannt hat, der letzte Mensch, bis zum heutigen Tag, dem Thomas Brook rational zugänglich war. Mit dem heutigen Tag nun ist die widersinnige Argumentationskette endlich gesprengt, die Generationen der Neuen Menschheit den Weg zu ihren Ursprüngen versperrt hat: die Behauptung: Anonymus und Thomas Brook, der Autor des »Weißen Dorfes« und der Autor des dreibändigen Epochenromans seien ein und dieselbe Person: die Behauptung: »Das Weiße Dorf« und der dreibändige Epochenroman seien identisch.

Darüber sind wir nun hinaus.

Herausgeber ED7469iklq
Stadt 1,
im Jahr 733 d.N.M.,
n. a. Z.: 1450 p.r.,
M1T1

  1. Als Neige des Apparates bleibt, editorisch zu notieren, daß unsere Druckgestalt der Tradition folgt, die von D019ol begründet worden ist. Die schreibmaschinenschriftlichen Anführungszeichen in dem aus der αω000001 gesetzten »Weißen Dorf« interpretieren wir als die sich semiotisch manifestierenden Einfallsschleusen der Nachtvernunft, die fehlenden Einzüge aber als Symbol dafür, daß all die alten Menschheitsepochen vor den Geschichten des »Weißen Dorfes«, für immer unverbürgt, in vorgeschichtlichem Dunkel verborgen bleiben müssen. ↩︎

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Das Weiße Dorf

ERSTER TEIL
Die zwanzig Patriarchen

1

Die Magie, die sich der Geschichte des Menschen, seines Geistes und seiner Gemeinschaft in manchen unbegreiflichen Momenten der Zeit bemächtigt, diese wundersame Zauberkraft, scheint ge­paart mit dem Superlativ des Grotesken. Mit dem Superlativ einerseits deshalb, weil sich das Groteske zwar eine unauslöschbare, ja, eine unentbehrliche Zutat des menschlichen All­tags in seinen Metamorphosen der Liebe, des Hasses und der Gleichgültigkeit preist, dieses natürliche und allgegenwärtige Groteske jedoch ein Phänomen darstellt, daß der einfachen Wahrnehmung durch die Sinne des Menschen meistenteils verbor­gen bleibt, denn es beruht auf den wirren Schwankungen der menschlichen Gefühle und entzieht sich daher weitgehend dem durchdringenden Blick des erkennenden Verstandes. Die wirren Schwankungen der Geschichte jedoch sind diesem enthüllenden Blick schutzlos preisgegeben, (schutzlos, wenn man die Leib­garde der Dummheit vernachlässigt, doch diese Leibgarde ist Legion), denn ihre Wahrnehmung wird nicht durch das Bollwerk der Gefühle behindert, mit dem sich der Mensch vor der allzeit drohenden seelischen Verheerung zu erretten versucht, so daß das Groteske der Geschichte selbst für niedrigere Ränge des Geistes eine unerschöpfliche Quelle der Erheiterung und der Verblüffung bedeutet.

Andererseits könnte man das Wagnis des Wortes „Superlativ“ auch mit der Behauptung rechtfertigen, daß das Groteske nicht nur ein ewiger Bestandteil des intimen menschlichen Alltags sei, sondern darüberhinaus auch ein bedeutsamer Bestandteil der gewöhnlichen Geschichte und ihrer Schöpferin – der Politik –, und daß diese ständige Groteske menschlicher Gemeinschaftlichkeit in den großen unbegreiflichen Momenten der Zeit end­lich eine Dimension annehme, die alle anderen Dimensionen des Grotesken himalayahoch überrage. Allein es scheint, als wäre der bildenden Geschichte diese gigantischste, diese vollendete Mutation des Grotesken derart überlebensgroß geraten, daß das erhellende Auge des Verstandes ihre wichtigsten Teile gar nicht mehr zu erkennen vermag. Und somit stößt man auf den Be­griff des „Magischen“.

Denn es sind wohl zweifellos magische Momente, wenn die Ge­schichte sich zu der Hybris versteigt, große Teile der Menschheit unter einem einzigen Dach – dem Dach der friedlichen Ein­heit in der Vielheit – versammeln zu wollen. Oder wenn sie – die Geschichte, diese Furie der Abstrakta – in wütender Rache eines ihrer gescheiterten Dächer mit einem einzigen Schlag in tausendundein Splitter zerschmettert. Doch der Mensch sollte in diesen unbegreiflichen Au-

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genblicken darauf bedacht sein – ungeachtet des blendenden Schillerns der Magie und trotz des schmalen Blickfeldes seines Verstandes –, das überlebensgroße, aufgeplusterte Groteske dieser Albernheiten der Geschichte zu erfassen, denn anderenfalls könnte es sich zutragen, daß diese Momente unverstanden und mithin wirkungslos an ihm vorüberzie­hen oder sich gar in seiner Wahrnehmung zu derart ernsthafter, strahlender und absolutistischer Würde steigern, daß er den Blick für die lächerliche Kleinlichkeit des Menschen verliert und sich in das heimtückische Gewand des naiven und abgehobenen Schwärmers hüllt. Sieht er indes nur das Groteske, so verwest er zum Zyniker.

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Vielleicht offenbart sich der Zynismus bei genauerer Betrach­tung jedoch als jene Geisteshaltung, die als Antwort auf die Albernheiten – oder besser: Wunderlichkeiten – der Geschichte am angemessensten erscheint, denn auch die vermeintlich schwer steuerbare Furie der Abstrakta fußt doch letztlich auf den Entscheidungen der Menschen und diese Entscheidungen wiederum zu einem erheblichen Teil – wenn auch unbewußt und unentdeckt – auf den wankelmütigen Geistesverfassungen der Entscheidenden, so daß – stellt man die möglichen Wandlungen des Aggregatzu­standes, die bei diesem metamorphen Werdegang der Geschichte vorkommen können, hintan – das Groteske der Geschichte mit seiner lächerlichen und zugleich grauenvollen Kapuze auf einen gewissen Zynismus als Bestandteil der Geistesverfassungen der Entscheidungsgewaltigen schließen läßt, und als Erwiderung auf Zynismus eignet sich am besten Zynismus.

Ob jener sonderbar hohle, durchsichtige, glasklare Augustwind, der wütend die sonnengrünen Platanen Südfrankreichs durchheulte, winselnd durch die düstere Würde der Pinien strich und schließlich ächzend an den verwilderten Kalkfelsen zerbrach, die schroff und zackig jenen gewaltigen unterirdischen Bunker umschlossen, in dem sich die letzten Präsidenten und Außenmi­nister an irgendeinem der ersten Tage irgendeines Augustes zusammengefunden hatten, um sich im Angesicht des Todes und der Verheerung ein allerletztes Mal zu vertragen, ob dieser Wind als Erwiderung der Gekreuzigten gedacht war, mag dem Urteil des Staubes überlassen bleiben, der die Welt in diesen fernen Tagen bedeckte; in den zumeist greisen Köpfen dieser verschwindenden zwanzig Oberhäupter einer Welt der undenkbaren Grausamkeit indes hatte der Zynismus sicherlich seine quecksilbrigen Abla­gerungen hinterlassen, und während sich die beiden verfeinde­ten Protagonisten dieser sogenannten Familienkonferenz in ei­nem grauenumjaulten südfranzösischen Bunker um ihre längst zwischen den Zahnrädern der Macht zermahlene Würde stritten, bedachten die Vasallen dieser stählernen Patriarchen die Unbe­teiligten im Feindesland mit nutzlosen Terroranschlägen – der letzten verbliebenen Beinprothese des Krieges –, womit sie dem Gegner gar eine Freude bereiteten, denn die Unbeteiligten wa­ren ausnahmslos Unzivilisierte und mithin nichts weiter als Giftspinnen am Militärstiefel der Macht.

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Omnipräsenz und Omnipotenz war man demnach gezwungen dem Zy­nismus zuzugestehen, als João Ignácio de Cobo Borda – Präsi­dent Brasiliens und der Lateinamerikanischen Union und somit mächtigster Mann der verbliebenen Zivilisation – und Christoph von Dauthendey – Präsident der Europäischen Union und lebens­langer Gegenspieler der prächtigen Cobo-Borda-Dynastie – in jenem verlorenen Bunker der Müdigkeit ihre schwierigen Bemü­hungen um ein zufälliges Ableben ihrer vertrackten Streitig­keiten begonnen nannten, ihrer widersinnigen Zankereien, die sich seit mehr denn zwei Jahren in transkontinentale Terroran­schläge zu übersetzen pflegten. Am ersten Juni vor zwei Jahren war Carlos César de Cobo Borda, jüngster Bruder des lateiname­rikanischen Präsidenten und dessen designierter Nachfolger, von einem europäischen Geheimdienstkommando entführt worden, was zu bestreiten Christoph von Dauthendey sich vehement wei­gerte. Carlos César de Cobo Borda war bis heute verpufft ge­blieben, doch er war Gouverneur von Confluência, und Confluência war nicht nur die einzige brasilianische Stadt, die sich noch nicht dem verätzenden Exkrementeschimmel der Unzivilisa­tion ergeben hatte, sondern darüberhinaus auch jene Stadt, die bereits geplant und gezeichnet worden war als Symbol für die unter dem Dach einer einzigen, vereinigten, friedenzaubernden Familie zusammengeflossenen Menschheit und seit ihrer kunstvol­len Reißbrettgeburt vor einem Ozean voll veraschter Tage wahr­haftig als Symbol für diese weltumfassende Familie diente, der sich alle in jenem finsteren Bunker Südfrankreichs zusammengekommen zwanzig Weltenlenker zugehörig wußten. Seit sich Carlos César, der Freund der Kunst und des schönen Lebens, zu einem Urwaldgeist verflüchtigt hatte, focht Confluência unter der Dummheit der dort ausharrenden Gouverneursfamilie mit dem ewiglich lauernden Schatten der Bedeutungslosigkeit.

An der Stirnseite eines großen, runden Tisches saßen João Ignácio de Cobo Borda und Christoph von Dauthendey unmittelbar nebeneinander, die unumschränkte Hegemonialstellung ihrer bei­den erhebenden Kontinente bezeugend. Schwer lasteten die üblen Jahrzehnte auf seinen Stimmbändern, als der souveräne, dreiundsiebzigjährige Brasilianer das haßerfüllte Geifern Europas ein schwächliches Hüsteln des Neides, ein stinkendes Macht­lechzen der degenerierten Dauthendeys hieß, dieser erbärmli­chen Maden, dieser räudigen Köter, dieser faulenden Wurmfort­sätze seiner mächtigen, äonenalten Familie. Tiefe Zeitfurchen zerklüfteten das bronzene Antlitz des cholerischen Brasilianers, der seinen Jähzorn die alleinige Ursache der Erdrotation meinte. Christoph von Dauthendey hingegen schul­terte erst einundfünfzig Jahre, und seine krafterfüllte Größe, sein Haß auf die erstarrte Senilität des brasilianischen Pa­triarchen,

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muteten an wie ein Schneeglöckchen, das sich mühsam unter einem im Fäulnisprozeß winterlich erstarrten Laubhügel hervorkämpfte. Energisch erläuterte er seine zeitgemäßen For­derungen an den brasilianischen Weltenthron, denen jeder, der die erschreckende Machtfülle der Cobo Bordas als Herrscher über Mittel- und Südamerika nicht gutheißen könne, zuzustimmen habe. Der Rat der Lateinamerikanischen Union sei die bei weitem mächtigste politische Institution auf dem Planeten, und keine Region könne sich seiner Hegemonie entziehen. Seine, Christoph von Dauthendeys, entscheidende Forderung sei also selbstver­ständlich: Der Rat der Lateinamerikanischen Union müsse in eine Weltregierung verwandelt werden, in welcher die übrigen neun Unionsräte voll stimmberechtigt vertreten sein müßten! Der lateinamerikanische Rat habe zuviel Einfluß auf alle Staa­tengebilde der Erde gehamstert, als daß man ihn in der Kontrol­le eines einzelnen Mannes belassen dürfte, noch dazu in der Kontrolle eines alten Mannes. „Im Alter denkt man nicht mehr, man erinnert sich nur noch!“ schmetterte Christoph von Dau­thendey. Und er glaube nicht, daß das die richtige Basis für pragmatische, diplomatische, verantwortungsbewußte Weltpoli­tik sei.

Umschlossen von meterdicken Betonmauern kauerte die zwanzigkö­pfige Runde der letzten Präsidenten und Außenminister unter dem Vorsitz eines Geistes an einem runden Tisch und ignorierte alles, was sie umgab, und draußen, in der glühenden Öde eines unwirklichen Windes, ächzte eine der letzten zivilisierten Landschaften Europas unter der Vergänglichkeit ihres Daseins als Exklave der Kultur. Ein paar menschenarme Fleckchen an den bestürmten Gestaden des Mittelmeeres ergänzten sich mit dem leise davondriftenden englischen Eiland und jenen geschrumpf­ten Stadtskeletten, die sich vor der seuchenzersetzten, ver­faulten, staatslosen Unzivilisation in verminte Todesgürtel und wolkenstürmende Betonmauern geflüchtet hatten, zum erbar­mungswürdigen Rest der europäischen Zivilisation, und Europa ergänzte sich mit Lateinamerika zur Neige der Welt. So saßen die zwanzig Patriarchen einer verlorenen Welt in einem gigantischen Bunkerareal im weisen Süden der französischen Hölle, und schickten sich an, einen Krieg zu beenden, den es überhaupt nicht gab, schickten sich an, eine Familie zu retten, deren adliges Blut durch die Venen eines Geistes pulste.

Ist sie das, die überlebensgroße Groteske der großen Geschich­te? Besteht sie aus der vollendeten Sinnlosigkeit allen ge­schichtsträchtigen Handelns? Es mag wohl so sein, daß jene Menschen, die in den unbegreiflichsten Momenten der Zeit zu leben gezwungen sind, verfolgt von den mannigfaltigsten

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schimärischen und tatsächlichen, abstrakten und konkreten Mon­stern, daß jene Menschen selbst irgendwann zu Monstern werden. Wenn alles Geschehen, alles Leben, alles Alltägliche, das den Menschen umtost, seinen Sinn einbüßt, dann wird sich der Mensch selbst irgendwann nicht mehr bereit und vielleicht auch gar nicht mehr dazu fähig finden, sein Handeln nach seinem Sinn zu überprüfen. Er handelt sinnlos, ohne es zu merken. Es ist, als wäre der Gedanke, daß irgendetwas Sinn, Bedeutung, Nutzen be­sitzen könnte, vollkommen aus den Gehirnen der Menschen ge­tilgt. Und nicht nur das: Auch der Überlebenstrieb und das urmenschliche, urirdische Prinzip des Nützlichkeitsdenkens, das Zivilisation und Evolution – in jedem Sinne – erst möglich macht, all das scheint in einer Welt, in der vermeintlich nichts mehr irgendetwas bewirkt, allmählich zu verpuffen.

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Wenn aber das Groteske der großen, unbegreiflichen Momente einzig auf totaler Sinnlosigkeit beruhte, so wäre es nicht überdeckt vom blendenden Schillern der Magie, denn unbe­schränkte Sinnlosigkeit besitzt nichts Magisches. Nein, hier muß noch ein anderes Phänomen heimlich seiner Entdeckung entgegenfiebern, und möglicherweise handelt es sich hierbei um das Paradox der sekundären Sinnlosigkeit: Der geschichtslen­kend Entscheidende mißt seine Entscheidungen an den Grundsät­zen jener Ideologie, die seiner Politik zugrundeliegt – auch die Ideologie der Pragmatik existiert! –, was jedoch nicht bedeuten will, daß seine Entscheidungen immer tatsächlich die Verwirklichung seiner Ideen zur Folge haben, sondern im Gegen­teil, daß diese Geschichtsschöpfungen den Betrachter und sogar den Entscheidenden selbst oftmals mit ihrer scheinbaren Sinn­fälligkeit, Logik und Zielgerichtetheit blenden, um am Ende – unbemerkt – genau das Gegenteil des Erwünschten zu bewirken. Vielleicht entspringt an dieser paradoxen Stelle nicht nur die Hauptquelle der überlebensgroßen Groteske, sondern auch gleichzeitig jenes magische Schillern, das den Blick auf die wahren Ausmaße dieser Groteske der unbegreiflichen Momente der Zeit versperrt.

Diesen Gedanken entwickelt der junge englische Romancier Tho­mas Brook im philosophischen zweiten Band seines dreibändigen Epochenromans, den er viereinhalb Jahre vor dem finsteren Be­ginn der südfranzösischen Bunkerkonferenz in einem brasiliani­schen Verlag veröffentlichte. Thomas Brook war ein brillanter, genialischer Dichter und Denker aus einem britischen Äst­chen der großen Familie, dessen Vater die sozialsäubernde Pro­vinzpolitik eines öden cornischen Moornestes lenkte. Sein mei­sterhaftes, feuersprühendes Werk, mit dessen Manuskript sich Thomas Brook auf Anraten seiner geistigen Mäzenin an Carlos César de Cobo Borda, den kunstfreundlichen Gouverneur von Confluência, wandte, erzählt – wahrlich ein explodierender Vulkan des Lebens – den Aufstieg der großen Familie zu einer weltum­spannenden Herrscherdynastie; und er erzählt die Wahrheit, ge­schöpft aus den blubbernden Ursuppen der Geschichte:

Die Keimzelle der Familie siedelt Brook in Brasilien an, bei den Urahnen der Cobo Bordas, eines reichen, schweren, jahrhun­dertealten Geschlechtes, das verwandt ist mit vielen Elitehäu­sern, verteilt über alle Kontinentalplatten der Erde. Finan­zieller Adel Lateinamerikas, erstarren die urzeitlichen Cobo Bordas in den labyrinthischen Wirren nach dem

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Niedergang der alten digitalen Weltordnung Europas, Nordameri­kas und Asiens zu einem brasilianischen Machtkristall, vor dem der Präsident der Republik mit erhobenen Händen in das lilafar­bene Gemach seiner Konkubine flieht.

Auf den seuchenbedingten Zusammenbruch Nordamerikas und das erbärmliche Verpuffen des europäischen Staates, der unter dem barbarischen Brüllen analog einfallender afrikanischer Horden in regionenübergreifende Volksaufstände zerstiebt, gründet Brook den apokalyptischen ersten Teil seines ersten Bandes, der die Paralysierung der abhängigen Regierungen Lateinamerikas und die gleichzeitige Stärkung des bürokratischen Generalsekreta­riats der schwachen Konferenz Lateinamerikanischer Länder, dessen einheitshuldigende Polemik die aufgewühlten Volksmassen in ihrem saubergekehrten Hinterhof zur bedrohlichen Umzinge­lung ihrer türmchenverzierten Präsidentenpaläste anstachelt, als grollende seismische Nachbeben des nordwestlichen Weltein­sturzes beschreibt. Einer der mächtigsten Generäle der brasilianischen Streitkräfte – ein legendärer Cobo Borda – nutzt die wirre Lage seiner Nation in Absprache mit den patriarchali­schen Finanzpaten seiner Familie, um sich in Brasília vom über­wältigenden Freudengestöhn des muskelhungrigen Volkes getragen an die Macht zu putschen, das höchste Staatsamt feierlich an den achtundsiebzigjährigen Patriarchen des cobobordischen Ge­schlechtes zu verscherbeln, den bisherigen Präsidenten für den kurzen Rest seines Lebens in einer lila Kemenate zu entsor­gen, die astronomischen Besitztümer seiner Familie heldenmütig zu Staatseigentum zu deklarieren und somit unbemerkt den brasilianischen Staat in das gigantische Vermögen derer von Cobo Borda einzugliedern. Den sich unverzüglich abzeichnenden Kon­flikt mit dem unabhängigen Generalsekretariat entschärft die Staats- und Familienführung der urtümlichen Cobo Bordas durch die epochale Aufforderung an alle Regierungen südlich des Rio Bravo del Norte, das Generalsekretariat als Vorläufer einer föderativen Zentralgewalt Mittel- und Südamerikas anzuerken­nen. Der Geld-, Sach- und Machtbesitz der Cobo Bordas ginge im Falle der Konstituierung eines Bundesstaates in lateinamerika­nisches Staatsvermögen über. Die Vereinigung zu einer Union biete die einmalige, unwiederbringliche Möglichkeit, Lateiname­rika als alleinige Supermacht aus der Asche der zerborstenen Weltordnung steigen zu lassen.

Da sich die meisten der orientierungslosen mittel- und südamerikanischen Regierungen dem integrativen Aufruf verschließen, läßt Brook im zweiten Teil das mächtige Brasilien eine bemer­kenswerte Kehrtwendung vollziehen und sich mit drei wohlgeson­nenen Alliierten zu einer winzigen Föderation unter dem Balda­chin eines supranationalen

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Präsidentenrates zusammenschließen, den der cobobordische Patriarch als Präsident Brasiliens uneingeschränkt beherrscht. Seine frunzelnden Hinterhofbrü­der, die sich argwöhnisch hinter ihren innenpolitischen Schutthaufen verschanzen, verblüfft der greise Mächtige mit der zirpenden Erklärung, die neugeborene Amerikanische Gemein­schaft habe sich dem langfristigen Ziel einer friedlichen Ei­nigung Süd- und Mittelamerikas verschrieben und stehe folglich jedem Land offen, dem die Zukunft des wahren Amerika als unent­behrliches Weltgewicht schwer am patriotischen Herzen liege; und bereits ein turbulentes halbes Jahr später bekundet einer der bevölkerungsreichsten lateinamerikanischen Staaten sein Interesse an der kontinentalen Einheit und entsendet einen glubschäugigen Beobachter in das zu Brasília tagende Föderationsgremium, der alsbald von seinem freundlich lächelnden Prä­sidenten abgelöst wird. Als Verlobungsgeschenk vermacht das neue Bundesglied dem cobobordischen Häuptling zwei kleine, ebenfalls beitrittswillige Staatengerüste, woraufhin der grei­se brasilianische Patriarch dankbar versichert, er werde als Ratsvorsitzender einem umfassenden Rotationssystem weichen, sobald die Stellung der Föderation auf dem Kontinent gesichert sei. Als die von der neuen Gemeinschaft unterminierte Konfe­renz Lateinamerikanischer Länder, deren Generalsekretär seinen Armsessel Stück für Stück nach Brasília entschwinden sah, ent­täuscht und verbittert ihre Arbeit für beendet erklärt und daraufhin dem Föderationsrat als legislative, exekutive, judi­kative und imperative Präsidentenversammlung ein beratender Tisch gegenübergestellt wird, an dem die Mitglieder der ehema­ligen Konferenz ihre bescheidenen Wünsche formulieren und sich durch Wohlverhalten der Föderation assoziieren dürfen, erin­nert der cobobordische Patriarch seine Präsidentenbrüder an sein dankbares Versprechen, weigert sich jedoch, seinen Rats­vorsitz niederzulegen, da einige Staaten ihre Stühle an diesem Eckigen Tisch unbesetzt gelassen hätten. In keinem Fall werde er indes versuchen, den Kontinent mit Gewalt zu einen. Zwei Mo­nate später wagt sich der dritte mächtige Staat Lateinamerikas in eine Assoziation mit der Gemeinschaft. Um die widerstreben­den, den Eckigen Tisch fliehenden Länder erfolglos eines Bes­seren zu belehren, wird der Förderationsrat in Rat der La­teinamerikanischen Union umbenannt, der große Cobo Borda als Interimspräsident der Union vereidigt und der dienernde Tisch in ein rasch ausblutendes Wartezimmer zum Paradies verkehrt, in einen Quarantänepavillon für zweifelinfizierte Regierun­gen, den die Lateinamerikanische Union bereits wenige Monate später bei ihrer ersten großen Häutung angeekelt abzusteifen vermag.

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Das verkümmerte Übrige des geschleiften Erdballs beherrscht zunächst den entscheidenden dritten Teil des ersten Bandes. Die ein wenig zu Kräften gekommenen Restbestände der europäischen, der asiatischen sowie der nordamerikanischen Staatsgewalten – von Militärstreichen sowie der üblichen wankelmütigen Unbe­ständigkeit empörter Volksmassen stabilisiert – haben inzwischen in altgedienter Eintracht die Besänftigung der Welt an­gesichts der neuen Machtzentrale in Brasília genutzt, um mit Blei, Panzerstahl und steinerner Seele einen Hauch Kontrolle über ihre Völker zurückzugewinnen. Dabei spült die Neukonsti­tuierung Nordamerikas einen alten, dumpfen Generalstabsrumpf in das wiedererstandene Washington, einen gestutzten Krieger­zirkel, der seine einzige Überlebenschance darin sieht, sich vor den mächtigen Brasilianern unaufgefordert in den Staub seines öden Landes zu werfen. Den Kretinismus seines wirrsten Generals lohnt die waffentragende Führungsclique mit dem nutz­losen Washingtoner Präsidentensessel, worauf dieser Tor – nordamerikanischem Ideenreichtum gemäß – den Beitritt seiner Regierung zum Geschlecht der großen Cobo Bordas erklärt und die fehlende Blutsverwandtschaft mit den freimütig dargebotenen Unterleibern heiratswilliger Söhne und Töchter der Herren Mi­nister herbeizumendeln begehrt. Der fassungslose brasilianische Präsident schließt seinen Mund schneller als der Rest der Welt und nutzt die heruntergeklappten Kinnladen seiner lateinameri­kanischen Präsidentenkollegen, um seinen eigenen Götterpalast zu Brasília, in dem der ratlose Rat seit mehreren Jahren ohne Unterbrechung krisensitzt, unter vernehmlichem Panzergedröhn erbeben zu lassen. Während dieses spontanen Autoputsches materialisiert sich der totale Führungsanspruch der Cobo Bordas auf wundersame Weise in der Verfassung der jungen Lateinameri­kanischen Union zu einem unveräußerlichen Menschenrecht. Jene kurzsichtigen süd- und mittelamerikanischen Länder, die ängst­lich vor der pfauengeplusterten Union geflohen sind, werden mit einer kollektiven Invasion der Paktstaaten überzogen und nahezu kampflos niedergeworfen. Und statt aufzubegehren, spen­det die in Anarchie versunkene, autoritätsbedürftige Zivilisa­tion begeistert Beifall, versammelt sich zu einem gewaltigen Weltsymposium über die vom Tropenhimmel gefallene Gelegenheit zur Gründung einer unter dem Dach der friedlichen Einheit in der Vielheit vereinigten Völker- und Kulturenfamilie, die-sich-niemals-wieder-bekriegt-weil-sie-sich-ewig-liebt, und be­schließt einstimmig unter frenetischem Verzückungsgeheul, die bedrohte Menschheit zu einer einzigen großen schützenden Ver­wandtschaft zusammenzuerklären. Der nordamerikanische Kre­tin, der verständnislos in die überhängenden Sitzreihen der jubelspeienden Delegierten äugt, wird für seinen

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zeitenwende­schöpfenden Einfall zum Helden des Universums und der Patri­arch derer von Cobo Borda zum Vater der Menschheit auf Lebens­zeit geschlagen. Bescheiden verbeugt sich der Herr vor seinen liebenden Kindern. Häuflein für Häuflein folgen nun alle poli­tisierenden Familien dem kulturbewahrenden Beispiel Nordameri­kas, treten der cobobordischen Göttersippe bei als handle es sich um eine in Mode geratene Religionsgemeinschaft und setzen ihren Nachwuchs einem weltweiten Chromosomenwettbewerb aus, dessen erwählte Gewinner die Erlaubnis ereilt, ihr Blut mit den veredelnden Wassern des Amazonas zu mischen. Unter dem Hinweis auf die seit allen amerikanischen Zeiten außergewöhnlichen Beziehungen zwischen Amerika und Europa öffnet der Patriarch den Mitgliedern der europäischen Regierung und deren adligen Familien mit besonderer Herzlichkeit seinen tropenwarmen Schoß der Großfamilie Völkerfrühling, was im liebkosten München be­dingungslose Unterwerfung säht und zunächst zu einer viele Generationen überdauernden, hingebungsvollen Verehrung der brasilianischen Gönnergötter führt, die letztlich jedoch zu einem derart manischen Kult entgleitet, daß dieser transat­lantischen Geschwisterliebe dasselbe Schicksal widerfährt wie vielen zu großen, zu tiefen und zu langen Lieben, in denen die Liebenden der langsamen Zerstörung durch die Empfindlichkeiten des jeweils anderen schutzlos ausgeliefert sind.

Der erste Band von Thomas Brooks tausendzweihundert Seiten starkem Epochenroman schließt mit dem vielstimmigen Chor der universellen Cobo Bordas, der in jubelnden Arien – lauthals zwitschernd – die zeitlose globale Brüderlichkeit ausruft. Un­fähig und unwillig ihre bettelnden Völker zu regieren, ziehen sich die zusammengepuzzelten Äste der großen Menschheitssippe auf allen Kontinentalplatten in ihre Präsidentenpaläste und Königsmetropolen zurück wie in winzige Zivilisationsexklaven und fallen müde in einen weltumspannenden Familienfrieden, wäh­rend die bedrohten Menschen in ihren außerfamiliären Lebens­räumen in einem blutrünstigen Chaos archaischer Gewalt gänz­lich verelenden, zu Unzivilisierten verfaulen wie die nun an­brechenden ungezählten Jahrhunderte der Kulturenbrüderlich­keit zu den Ausdünstungen einer rauschenden Familienparty.

Doch Brooks Roman begnügt sich nicht mit der schillernden Schilderung der Vergangenheit, strebt über seine Gegenwart hinaus und zeichnet im dritten Band zukünftige Entwicklungen vor, deren Kern in einem Konflikt der lateinamerikanischen Blüte mit dem liebesverdrossenen, zürnenden, machtdurstigen Europa liegt. Diese empfindsame literari-

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sche Prophetie frei­lich überanstrengte um viele Kapitel die Toleranzkraft der Dauthendeys, des europäischen Herrscherzweiges, der den erst siebenundzwanzigjährigen Thomas Brook zu terrorisieren begann, indem er ihn durch ein Todesurteil in die Unzivilisation trieb, gejagt von willen- und wahrheitslosen Geheimdienstwesen. Die­ses Todesurteil markierte den Beginn des tatsächlichen Kon­fliktes zwischen Brasilien und Europa, zwischen Christoph von Dauthendey, der seit seinem Amtsantritt unermüdlich die Um­wandlung des lateinamerikanischen Rates in eine Weltregierung einforderte, und João Ignácio de Cobo Borda, der Thomas Brook schon bei der Veröffentlichung seines Werkes in Brasilien un­terstützt hatte, den Beginn eines Konfliktes, der zweieinhalb Jahre nach dem Erscheinen des dreibändigen Epochenromans mit der Entführung des Gouverneurs und schließlich den ersten Bom­benanschlägen in Europa eskalierte, bis schließlich eine zwan­zigköpfige Familienkonferenz einberufen wurde, um dem Morden ein Ende zu setzen.

Thomas Brook, der brillante, genialische englische Romancier lebte noch damals in der Unzivilisation.

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ZWEITER TEIL

Das Weiße Dorf

1

Jener regnerische erste Juni, an dem der großartige Carlos César de Cobo Borda im atlantischen Confluência seine Freiheit verlor, verdichtete sich im Laufe des Vormittags über dem end­losen Tropengrün Amazoniens zu einem alten, verknitterten und gebrechlichen Tag, der bereits wieder vergangen schien, bevor er sich überhaupt gänzlich aus dem unförmigen Dunst des Morgens zu erheben vermocht hatte. Ein dichter Schleier aus Tau und flüssiger Luft waberte durch die schemenhaften Baumkronen des Regenwaldes, und das Weiße Dorf Fordlândia war bedroht von der seltsamen Trübsal urzeitlicher Nebelwolken. Besorgt blickte Ernesto de Cobo Borda durch das klare Fensterglas in den dam­pfigen Himmel, argwöhnisch und verunsichert, denn er wußte um die höhlenden Kräfte des tropischen Regens und er wußte ebenso, daß die amazonische Natur in jede ihrer eindringlichen Regun­gen alle Feindseligkeit legte, die sie gegen ihn und seine wichtige Familie aufzubringen imstande war.

„Das Wetter spielt mit uns“, sagte Ernesto und lächelte halb­herzig zu seiner Zwillingsschwester Susana hinüber, die wenige Meter von ihm entfernt auf einem runden Sessel saß und träumte. „Oder besser: mit mir. Denn du willst ja ohnehin hier fort, und überdies bin ich derjenige, der bei diesem tagelangen Regen jede Zellteilung in seinen Eingeweiden spürt.“

Seit zwei Stunden saßen die beiden hier in Ernestos weitläufi­gem Arbeits- und Gesellschaftszimmer und unterhielten sich zärtlich über die Polarsterne der Liebe. Die vergangenen Wo­chen zählten zu den wundervollsten Ewigkeiten ihrer elfjähri­gen Liebesbeziehung, und beide fühlten sie sich erfüllt von einer unerhörten Aufbruchsstimmung, die seit mehreren Tagen immer mächtiger wurde, was Ernesto – ganz im Gegensatz zu sei­ner Schwester – mit tiefer Beunruhigung zur Kenntnis nahm, denn natürlich begnügte sich diese Aufbruchsstimmung nicht mit sich selbst, sondern verlangte dringend nach irgendeinem tatsächli­chen Aufbruch. Ernesto jedoch bedurfte keinerlei persönlicher Neuerungen, weshalb er in diesem gefährlich zweisamen Augen­blick beinahe erleichtert war, als er am Telefon von der Ent­führung seines Onkels Carlos Kunde erhielt. Susana dagegen erschrak derart über dieses Unglück, daß sie meinte, vor Übelkeit das Bewußtsein zu verlieren, nachdem ihr geliebter Bruder das Zimmer in Richtung Regierungspalast verlassen hatte.

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Einsam und menschenleer moderte Fordlândia im warmen Tropenre­gen, als Ernesto de Cobo Borda an jenem grauen Junitag von sei­nem privaten Wohnhaus dem weißen Regierungspalast entgegeneil­te, verwirrt von einer unglaublichen Entführung und getrieben von der keimenden Furcht vor einem vernichtenden Konflikt. Sein cholerischer Vater würde mit unglaublicher Brutalität auf Christoph von Dauthendey einschlagen, sollte sich herausstellen, daß München diese Entführung zu verantworten hatte, und niemals könnte diese winzige, zerbröckelnde Welt eine offene Feindschaft zwischen ihren beiden mächtigsten Führern verkraf­ten. Vom Regen gebückt, huschte Ernesto über den glitschigen Marmor des runden Vorhofes, auf dem die prallen Tropfen dumpf wie Tränen der Vergangenheit platzten, bevor er durch das wuch­tige Portal den Regierungspalast betrat und unverzüglich zum Innenministergemach seines ältesten Bruders Oswald strebte, in dem sich außer diesem nur noch Ernestos zweiter Bruder Armindo sowie sein Onkel Luis Alberto befanden, der machtlose Ministerpräsident in seiner gleichgültigen Trägheit.


„Wo ist Vater?“ fragte Ernesto, als er eintrat.
„Er sitzt mit Jorge im Flugzeug nach Washington“, erwiderte Os­wald. „Er ist noch nicht informiert, was Armindo zum Anlaß nimmt, mich ununterbrochen der Mittäterschaft zu beschuldi­gen.“
„Halt den Mund!“ zischte Armindo.
„Ich nehme an“, sagte Ernesto, indem er Armindo ignorierte, „du möchtest verhindern, daß Vater sein Flugzeug gleich nach München umdirigiert, um sich im Kamikazekurs auf Dauthendeys verwunschenes Schlößchen herabzustürzen. Ich unterstütze das! Setze du dich am besten mit Europa in Verbindung, Oswald, damit Vater und Jorge keine Katastrophe provozieren!“
„Halt doch den Mund!“ fuhr Armindo seinen jungen Bruder an. „Auf welcher Seite stehst du? Diese Schweine haben Carlos gekidnappt! Dauthendey ist an allem Schuld, und er wird dafür büßen!“
„Christoph ist ein Verbrecher“, sagte Luis Alberto, der träge Ministerpräsident, „aber diese ganze Streit ist nichts wert. Wozu sich streiten, wegen diesem Brook? Im übrigen bitte ich höflichst um die Unterlassung übertriebener Illoyalitäten. Meine Brüder sind keine Kriegstreiber; sie sind erfahrene Staatsmänner, die mit dem Kobold aus München an der Gurgel zwei Jahre lang Frieden zu erhalten vermocht haben. Wir sollten uns darauf konzentrieren, das jüngste Verbrechen zu beleuchten.“
„Warum nutzen wir die Gelegenheit nicht und knallen in Confluência ein paar hundert Unzivilisierte nieder?“ knurrte Armindo. „Jetzt hätten wir endlich wieder einen Vorwand gegenüber den Schwächlingen aus der Gouverneursfamilie. Sonst können wir auch diese Stadt bald abschreiben.“

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„Ich bin nur froh”, sagte Ernesto, „daß Vater die überflüssigen achtundzwanzig Jahre seines Sohnes Armindo auf dem nutzlosen Posten des Verkehrsministers entsorgt hat. Anderenfalls wären wir alle schon in großen Schwierigkeiten.“
Armindo griff zornig nach Ernestos Handgelenk, doch Oswald hielt ihn zurück: „Ich warne dich, Armindo, ich schicke dich zu Magri, wenn du dich so benimmst!“

*

Durch die alte Staatskanzlei zu München wehte die spannungs­volle Stille tatenlosen Wartens. Es war kurz vor zwanzig Uhr. Behäbig goß die matte Abendsonne des ersten Juni-Tages ihr lan­ges, schweres Licht über die knospenden Baumkronen des blumen­reichen Englischen Gartens. Ruhe senkte sich langsam auf die ängstlichen Schwabinger Straßenzüge und befreite das Viertel vom störenden, lärmkranken Tagesaktivismus der Bürger. Chri­stoph von Dauthendey fühlte die entspannende Ebbe, mit der sich seine Stadt unter ihre privatistische Decke verkroch, setzte sich auf seinen geschichtsstarrenden Thron und atmete tief in den prächtigen, prunkenden Empfangssaal der Staatskanzlei. Hier, in diesem eindringlichen, gebieterischen Raum wartete der Diktator Europas mit seinen beiden engsten Vertrauten, seinem ältesten, vierundzwanzigjährigen Sohn Wolfram und sei­nem Bruder Gottfried, auf Nachrichten aus einer anderen Welt.

Christoph von Dauthendey: Ein großer, kraftgeladener Mann. Neunundvierzig Jahre alt, war er das bei weitem jüngste Ober­haupt eines Familienzweiges, und niemals wäre er bereit gewe­sen, sich zu bescheiden, sich unterzuordnen, niemals wäre er bereit gewesen, selbstherrliche Hegemonialgelüste von ergrau­enden, senilen Patriarchen kampflos hinzunehmen, Gelüste, die seine jugendliche europäische Gesellschaft zu zersetzen drohten. Er verachtete die Herrschaft des Jähzorns und der Alters­einfalt. Oft veranlaßten ihn Ratschläge seines Sohnes Wol­fram, vielgestaltige Entscheidungen im letzten Moment zu modi­fizieren, so daß Wolframs Weltsicht in unzähligen Metamorpho­sen hinaus in ihre Epoche verdampfte; Europa hatte sich zu ei­nem absonderlichen Kontinent gewandelt, zu einem paradoxen, verschrobenen, aufgefächerten Ort der Merkwürdigkeiten, zu ei­ner Tropfsteinhöhle, in der mördermuschel- und

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galeerenqual­lenförmige Urinsekten um neonblau leuchtende Stalaktiten schwirren, zu einem Wildpark der Phantasie. Wolfram von Dauthendey war blind.

Vor vier Stunden, am fröhlichen Nachmittag dieses ersten Ju­ni-Tages, hatte das europäische Herrscherhaus von der unerwar­teten Entführung des Cobo-Borda-Erben geheimdienstliche Kunde erhalten, hocherfreuliche Kunde, die so haargenau zu dem jah­relangen Streitgeplänkel mit Brasilien paßte, daß das macht­starrende dauthendeysche Triumvirat diese gespenstische Nach­richt für seine unrühmlichen Zwecke zu nutzen gedachte. Nun sah man beklommen der ungewissen Reaktion Lateinamerikas entgegen, man hoffte auf eine Konfrontation, man hoffte, die Weltherr­schaft des Altersverfalls zu brechen. Als Oswald de Cobo Borda seine verantwortungsschwangere Stimme über den Ozean funkte und die Frage nach den Hintergründen der Entführung stellte, antwortete Dauthendey ihm, er wisse nicht, wovon sein verehr­ter Bruder spreche, fordere aber die sofortige Einstellung jedweder Unterstützung der Lateinamerikanischen Union für Tho­mas Brook. Anschließend sagte er zu seinem leiblichen Bruder:

„Gottfried: Du hast Brook gefunden. Jetzt veranlasse seine Exekution!“

*

Fordlândia war ein eigentümliches Dorf. Einhundertfünfzig Ki­lometer südlich des Amazonas an den dampfenden Wassern des mächtigen Rio Tapajós gelegen, war es völlig umschlossen vom greisen, urkräftigen tropischen Regenwald, und diese höllische Verdammnis des immerwährenden Inseldaseins hatte seinen schwarzen Niederschlag in den gepeinigten Seelen der Bewohner gefunden. Unten, am feuchten Bett des fülligen Rio Tapajós, ließ sich noch wenig ahnen von dem weißen Teufelslabyrinth, das wie eine tödliche Falle hinter dem sanften Hügel lauerte, denn hier, am fransigen Ufer eines der mächtigsten Nebenarme des Flußkaisers, hatten sich einige archaische Reste des alten, verschütteten Fordlândia erhalten. Neben dem morschen, knar­renden Steg schunkelten zwei kleine Fährschiffe auf dem wie­genden Wasser – häßlich und schmutzig, von dicken Leinen gefes­selt –, die dem Fluß an dieser zahmen Stelle etwas Gemütliches, Wohnliches verliehen. Fünfzig Meter vom Tapajós entfernt, un­genügend verdeckt von zwei jahrhundertealten Baumkronen, saß ein regengraues Gebäude, eine Halle mit mansarddachähnlichem Kopf. Und im Hinter-

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grund, auf dem flachen, bewaldeten Hügel, der einen unruhigen Kiesweg zum Ufer herabsandte, überragte ein weißer Kirchturm die eigenartige Szenerie. Vor dem offenen Tor in der dem Steg zugewandten Schmalseite der Halle standen zwei schwerbewaffnete Soldaten in grünen Uniformen; ein drit­ter Wehrhafter erschien eben auf dem Kiesweg, der den Hügel hin­auf dem Kirchturm entgegenkurvte, und indem er seinen beiden Kollegen etwas Zackiges zurief, schritt er eilig zur Halle hin, die man nun zu dritt vor den gierigen Blicken des Flusses be­schützte. Sie standen beisammen, redeten und gestikulierten, nicht erregt, eher gelassen-fröhlich, heiter und in jener überlegen-selbstherrlichen Art, die waffenverdeckter Einfalt eigen war. Folgte man aber dem knirschenden Kiesweg, der neben der Halle in die Uferebene mündete, durch das verminte Sperrge­biet des waldtrunkenen Hügels bis an das marmorne Stadttor und schließlich hinter die hohe, weiße Steinmauer, die Fordlândia umrahmte, so geriet man in eine bizarre, hermetische Welt aus langen, schmalen Gassen, gepflastert mit weißen Kopfsteinqua­dern und gesäumt von endlosen weißen Häuserfronten, die wie zweigeschoßige Doppelhaushälften miteinander verwachsen wa­ren. Heimlich verbanden sich diese tausendundein Gassen und ihre eintönigen Hausfassaden zu einem riesigen, nahezu un­durchdringlichen Labyrinth, das sich schützend um einen kreis­runden, atriumähnlichen Platz aus milchigem Marmor wickelte, der von einem prächtigen Gebäude, von einem alabasterweißen Palast umfaßt war: Es war der brasilianische Regierungssitz, der Tagungsort des Rates der Lateinamerikanischen Union, das Schloß der Familie Cobo Borda.

Ernestos Arbeits- und Gesellschaftszimmer, das sich nahe des Palastes im Obergeschoß eines dieser gesichtslosen Häuser­schläuche befand, war ein großer, mondäner Raum, hoch und lichtdurchflutet, und zwei zimmerbreite Treppen führten vom Arbeitsbereich mit seinem halbrunden Schreibtisch und seinen prall gefüllten Bücherregalen, in die tieferliegende Wohnlandschaft hinab, die von der geräumigen Bar in der Zimmerecke be­herrscht wurde. Hier in diesem beeindruckenden Raum, übersetzte Ernesto seine weltpolitischen Erlebnisse als Schüler seines präsidialen Vaters zu jugendlichen Essays, Erzählungen oder Gemälden. Als der Dreiundzwanzigjährige nach der geheimen Kri­sensitzung am ersten Juni in sein geliebtes Gemach zurückkehr­te, saß seine Zwillingsschwester Susana noch immer auf ihrem runden Sessel und schien sich mit ihren aufgequollenen, trä­nenglitzernden Augen selbst verschlungen zu haben.

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Bleich und regungslos starrte sie auf einen unsichtbaren Punkt in ihrer Seele, und Ernesto benötigte zehn Minuten, um sie mit winzigen Zärtlichkeiten aus ihrem inneren Versteck zurückzuholen.

„Dauthendey hat die Verantwortung für die Entführung übernom­men“, sagte Ernesto. „Vater ist benachrichtigt. Sein Flugzeug mußte mitten über der Karibik umkehren.“ Susana schwieg und musterte ihren Bruder unverwandt. „Es bleibt uns nichts ande­res übrig, Susana, als unsere Zukunft zu vertagen. Es gilt, den letzten Rest Amerikas vor der europäischen Machtgier zu bewah­ren.“

*

An ein sehr, sehr altes Dorf hatte sich Ernesto de Cobo Bordas Ururgroßvater einst erinnert, als die allmächtige Diktatoren­familie noch in ihrem Götterpalast in Brasília residierte. Der Vater João Ignácios, des heutigen lebensgegerbten Präsidenten, hatte eben erst die warme Heimat in seinem Mutterbauch mit jener entstellten Welt vertauscht, deren Thron er ein halbes Jahr­hundert später als Erstgeborener von seinen Eltern erben soll­te, da gönnte sich sein Großvater einen langen Blick tief in die pergamentene Geschichte seines Landes und erspähte mit den wachen Augen eines Patriarchen die überfällige Rettung für seine bedrohte Familie.

In diesen fernen Tagen des Südens hauchte durch die klaren Straßenzüge Brasílias der faulige Leichenodem der Unzivilisa­tion. Zuvor hatten die kulturlosen Untermenschen bereits Stein um Stein das farbige Leben aller anderen großen, alten brasilianischen Städte vergast: São Paulo, Rio de Janeiro, Belo Hori­zonte, Salvador da Bahia, Porto Alegre, Recife waren nachein­ander unter den Pestwinden des Elends erstickt. Seit Monaten wagten sich die Hundert weisen Köpfe derer von Cobo Bordas keinen Schritt mehr aus den verwinkelten Sälen ihres Sonnenschlosses zu Brasília, denn ein graues Meer aus leprösen Armutsgesich-tern hatte sich an den Grenzen des Machtparks zusammengerottet, die wortlose Sucht nach dem sagenhaften Reichtum des Prä­sidentenpalastes in den schleierzerflachsten Augen. Wütend entließ das Militär seine Granaten in die totenstillen Massen, zerfetzte tausend graue Gesichter, doch sobald sich die qual­menden Pilze aus Blut, Knochensplittern, Hautfetzen welkend verzogen hatten, ersetzten schon tausendundein neue Gesichter die gefallenen Brüder, bis der trübe Generalstab erniedrigt seine beschämende Machtlosigkeit eingestand. So wuchtete denn der zornige Kaiser Brasiliens und der Lateinamerikanischen Union, Ernestos

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Ururgroßvater, die vergilbte Chronik seines Landes auf seinen gebrechlichen Regierungsschreibtisch, krei­ste wie ein flüchtender Geier der Einsamkeit über dem amazonischen Regenwald, dessen ursprüngliche Kraft über alle Wunden zu obsiegen vermocht hatte, und setzte seinen Finger schließ­lich auf jenes erstandene Fleckchen Urwald, das einst beschei­den den fleißigen Händen der wirtschaftlichen Usurpatoren gewichen war.

Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in den boomenden Jahren vor der schwarzen, höllischen, kulturlosen Weltwirtschaftkrise, schickten die stolzen Fabrikarbeiter des unvergeßlichen Henry Ford jährlich mehrere tausend pferde­kutschenförmiger Knatterkisten in die staunende Welt, zusammengeschraubt aus wenigen Einzelteilen, die Ford alle in den Vereinigten Staaten zu produzieren vermochte – alle, nur eini­ge wenige nicht: die Reifen; denn Großbritannien hatte sich besessen auf das lockende Kautschukmonopol gestürzt, das seine südostasiatischen Kolonien unterwürfig darboten, angeregt von Henry Wickham, der bereits 1876 eine zukunftsträchtige Samen­flut des Hevea brasiliensis, des Gummibaums, vom zornigen Amazonas in den erhabenen Königlichen Botanischen Garten in Kew bei London entführt hatte. Hungrig verweigerten die impe­rialen Briten der Neuen Welt den Zugang zu ihrem zähen Gummi­reichtum, so daß sich Henry Ford schließlich – wie Ernestos Ururgroßvater unzählige Generationen später – an das ausschweifende Orakel der Atlanten wandte, um nach ergebnislosen Missionen in Afrika, Peru und Kolumbien Gefallen an einem Fleckchen Wildnis im brasilianischen Bundesstaat Pará zu fin­den, dessen Regierung bereit war, sich von den zivilisierten Gringos um zehntausend Quadratkilometer unzivilisierten Urwald entlasten zu lassen. War dies nicht ein Fleckchen, das dem Gum­mibaum ein paradiesisches Dasein versprach? Über den Rio Tapajós und den Amazonas konnten Maschinen und Gummi bis in die Vereinigten Staaten verschifft werden – oder nach São Paulo, wo Henry Ford bereits suchte, sich mit einer Autofabrik zu verewi­gen.

Mitten im unberührten tropischen Regenwald gebar die walzende Ford Motor Company am Rio Tapajós eine Industriestadt für acht­tausend Arbeiter, pflanzte nahezu zwei Millionen Gummibäume, verschleppte Werkstätten und ein Kraftwerk aus ihrer gemäßig­ten Heimat in den grenzenbrechenden Dschungel und mauerte in guter Conquistadoren-Tradition einen Kirchturm in die feuchten Winde. Henry Ford und seine Unsterblichkeit: Er wollte die wirtschaftliche Ungewißheit überlisten und taufte die neuen­glische Metastase Fordlândia. Nun: Die Familie Cobo Borda ver­half dem alten Herrn zu einem späten Sieg.

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Aus ganz Brasilien strömten zukunftssuchende Abenteuerlustige an den fülligen Rio Tapajós, um sich als Kautschuksammler oder Mechaniker zu verdingen, um im Herzen ihres lebenslustigen Landes nordamerikanischen Kapitalismus zu kosten. Ford führte die Stechuhr ein, lockte mit südamerikafremden Löhnen, goß Bier in die Becher der durstigen Arbeiter und erstaunte jeden Tag mit unbegreiflichen Hollywood-Filmen, die zackig über die Leinwand eines Urwaldkinos flimmerten. Zwischen den Fabrikhal­len erzimmerte man ein Krankenhaus, das „Hospital Henry Ford“, dessen moderne Geräte, dessen moderne Ärzte und deren kosten­lose Dienste im grünen Land zu einer Legende aufglühten, so daß selbst São Paulo bald eine Delegation seiner Siechen nach Fordlândia schickte.

Die wirtschaftliche Ungewißheit: Anfang der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts brach ein Arbeiteraufstand gegen die nordamerikanische, puritanisch-ziviliserte Gewaltherrschaft über Fordlândia los, der vom brasilianischen Militär niedergeschlagen werden mußte, und Ende der Dreißiger Jahre vergriffen sich Schädlinge an dem reichen fordlândischen Gummibeet, Parasiten, deren harmlosere Abart mit insektischer Brutalität in die weichen Rinden biß, wogegen die weltgefährdende Mutation dieses Ungeziefers im fernen vordauthendey’schen Deutschland mit der Herstellung von Kunstkautschuk be­gann. Henry Fords Enkel erlöste sich 1945 von der Last der Fremde, stellte die erfolglose fordlândische Gummiproduktion ein und jagte das Abenteuer seines Großvaters in die Hände des Landwirtschaftministeriums in Brasília, das fortab die Einwoh­ner Fordlândias dazu anhielt, die Zeit zu verleugnen. Die genu­in zivilisierten Gringos verließen das künstlich zivilisierte Fordlândia ebenso phantasmagorisch-plötzlich wie sie es der­einst erschaffen hatten, aber ihre bizarre neuenglische Wirt­schaftswelt vermachten sie stillgelegt dem grummelnden Rio Tapajós, und während die kraftvolle Tropenvegetation schäumend durch den spröden Asphalt der Hauptstraße brach, um die ster­bende Straßendecke rachelüstern zu bezwingen, fegten noch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts freundliche Damen allmorgendlich die verlassenen Eigenheime der Amerikaner mit ihren Kühl­schränken aus Connecticut und Standuhren aus Des Moines, we­delten über das Porzellan und die greisen Möbel, indessen die Angestellten in der ungenutzten Fabrikhalle die ruhiggestell­ten Maschinen ölten und die Wirtin der einstigen Betriebskan­tine umständlich die Tische deckte, so viele Tische, als kämen die hungrigen Arbeiter noch immer von ihrer vielköpfigen Schicht. Das vorcobobordische Landwirtschaftsministerium zahl­te ihnen allen weiterhin die Gehälter. Jahrzehntelang. Und auch im fordlândischen Krankenhaus, dem berühmten „Hospital Henry Ford“, das vor langer Zeit den Versehrten São Paulos als Pilgerstätte gedient hatte, weigerte sich die Zeit, größere Anstrengungen zu entfalten: Noch zur Jahrtausendwende knirsch­te die gelangweilte Krankenschwester, verborgen unter ihrem weißen Arbeitskittel, jeden Morgen

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den hügeligen Kiesweg hin­auf, um im Zentrum Fordlândias das einsame Hospital ihres ver­gangenen Gebieters zu erwecken. Fröhlich trat sie in das gegen­wartsfreie Schwesternzimmer und kochte kräftigen Kaffeeduft in die feuchte Amazonasluft, bevor sie in der Leichenhalle mit der Sekretärin und dem Krankenpfleger die Vergangenheit über ihre Seele goß, tote Bilder aus alten Jahrzehnten in die Gegenwart rief, tote Bilder, die damals tief in den Eingeweiden des kleinlauten, vergessenen Fordlândia ruhten. Wozu nur all das Sterben? Wo doch die Saat unseres bizarren Dorfes erst fünfund­sechzig Jahre zuvor hier am Rio Tapajós aufgegangen war, als unser guter, alter Herr im fernen Detroit von der Eroberung des Amazonas schwärmte.

Unter dem wundersamen Triumvirat der Schwester, der Sekretärin und des Pflegers hatte sich das „Hospital Henry Ford“ nichts als einen schimärischen Tropenschein der Lebendigkeit erhal­ten, denn Patienten und Ärzte mieden es bereits seit einem hal­ben Jahrhundert, hatten es mit seinen Operationssälen und Röntgenapparaten, mit seinem Zahnarztstuhl und seinem Brutka­sten aus den seligen Staaten des Franklin Delano Roosevelt der Hohnfolter der Zeit überantwortet. Achthundert Menschen lebten gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch im zukunftsträchtigen Fordlândia, ohne Strom, ohne Arzt, ohne fließendes Was­ser; doch nur eine Generation später verstarb die neuenglische Kleinstadt im amazonischen Brasilien und verweste verlassen unter dem weisen Lächeln des Waldes.

Schwer ruhte der verknitterte Finger von Ernesto de Cobo Bordas Ururgroßvater auf dem fortgewilderten Fordlândia, als der Prä­sidentenpalast zu Brasília seine Gemütlichkeit defäkierte. Confluência war die unentbehrliche Metastase an der Küste, Manaus eine Freundin der Unzivilisation, Marabá eine abscheuliche Kloake des Militärs, Santarém ein Opfer des Wassers und der Lepra und das restliche Amazonien war ein vergessener Sieg des grenzenbrechenden Urwalds. Wo soll sie hin, die armutssichere Burg für meine edle Familie? Der Patriarch überlegte an seinem wackelnden Machtschreibtisch in Brasília und entsann sich der zerfressenen Urwaldlegende, die zentral, aber verborgen in der grünen Erdenlunge schlief und deren Geschichte so wunderschöne Minnelieder an den Pioniergeist sang. Nun karrte er seine ver­ängstigten Angehörigen, seine loyalen Knechte und sein Leibmi­litär an den dampfenden Rio Tapajós, rodete eine Landebahn in den Dschungel und ließ die Reichtümer derer von Cobo Borda aus Brasília evakuieren, mit Transportflugzeugen, die wie ein apo­kalyptischer Heuschreckenschwarm tagelang den Himmel über dem Tapajós verdunkelten. Inmitten eines Gebirges aus Gold und Silber, aus Seide und Samt, aus Kaschmir und Leder, aus Elfen­bein

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und Alabaster hauste die hundertköpfige Diktatorenfamilie viele Wochen auf dem schwammigen Insektenboden des tropischen Regenwaldes, während der Patriarch die umwucherten Ruinen des Scheiterns, die sich klaglos dem tropischen Leben unterworfen hatten, niederriß und die ersten Gebäude des neuen Fordlândia erschuf, jenes maschinenpistolengeschützten Labyrinthes aus endlosen, geklonten Häuserschläuchen, das als „Weißes Dorf“ Geschichtsbücher zu füllen begann. Nur die alte Gringo-Kirche war renoviert, unter Denkmalschutz gestellt und mit einem schlichten Platz umpflastert worden, so daß sie nun wie der em­porgereckte Mittelfinger der Cobo Bordas über den Erdball grinste.

Fordlândia. Ja, Fordlândia. Tatsächlich unsterblich. Heute war die gestoppte Metastase der vorschwarzen, vorhöllischen US-Wirtschaft das Oval Office des Weltherrschers, das Hauptquar­tier der totalen Macht. Unerreichbar für den grauen Ozean der leprösen Armutsgesichter.

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DRITTER TEIL

Licht und Finsternis

„Die Nachwelt wird es nicht fassen können,
daß wir abermals in solchen dichten Finsternissen
leben mußten, nachdem es schon einmal
Licht geworden war.“
Sebastian Castellio, 1562 n.Chr.   

1

Beklemmung. Mißtrauische Stille. Mißtrauen im zahnschmelzgel­ben Düsterlicht der Straßenlaternen. Mißtrauen in den dunklen Gassen und Hauseingängen. Mißtrauen überall.

Kaum ein Licht brannte in den Häusern – den alten, mehrgeschossigen Häusern der Innenstadt. Licht ruft Ungeziefer. Aber Licht vertreibt Räuber, Licht vertreibt Stille. Licht ist das Urprinzip des Wortes. Licht ist Zivilisation. Die Häuser, die Straßenzüge, das Steinpflaster, die Gassen, die Treppen, die Stadtbäume: Alles verlor sich gestaltlos, gesichtslos, wortlos im höhlentiefen Dunkel irgendeiner Nacht, nur müde angehaucht von den kraftlosen, vergilbten Lichtkegeln der Straßenlater­nen.

München. Die Stadt der Dauthendeys. Die besterhaltene Groß­stadt der Welt. Kleiner zwar als früher, enger, gepreßter; ge­schrumpft auf uralte Größe, mit Befestigungsanlagen – einer mittelalterlich-anmutenden Stadtmauer –, Befestigungsanlagen nördlich von Schwabing, östlich von Bogenhausen, südlich der Theresienwiese und westlich des Nymphenburger Schlosses, doch sauber, ruhig, reich, gebildet und lebendig; bedrängt zwar von draußen, vom Schmutz, vom Lärm, von der Armut, der Unzivilisation, vom Tod, doch geschützt, ehrfurchtgebietend und sicher. München. Die Stadt der Dauthendeys. Die Stadt Europas.

Eine schwarze, wolkige Nacht hing gefahrverheißend über dem alten Stadtkern und senkte sich immer tiefer, tiefer und tiefer auf die umdunkelten Straßen und Gebäude. Der unvergängliche Marienplatz, steingrau und knorrig, schüchtern bemalt von den kümmerlichen Straßenlaternen, die gespenstisch-düstere Licht­kegel warfen, weiche Lichtkegel, deren starrer, pergamentener Schein den Steinplatz und die schmutzigen Fassaden eher zu verfinstern denn zu erhellen trachtete – der verwitterte, ver­lebte Marienplatz ruhte bewußtlos vor dem schlafumhüllten Rat­haus, und das Leben schien so tot während dieser nächtlichen Stunden des Mißtrauens, so weit, so unsichtbar, daß sich die umherwabernde Stille, die sich langsam und gelassen in jeden alten Winkel fraß, etwas Allumfassendes, Endgültiges, Letztes anzunehmen getraute. Undenkbar, daß dieses kosmische Schwei­gen, dieses universale Nichts jemals wieder gewillt sein soll­te sich zurückzuziehen. Kein Geräusch tauchte von irgendwo aus der Dunkelheit, um dumpf durch die leeren Gassen zu hallen, kein menschliches Wesen trat mit klackenden Absätzen die ge­pflasterten Straßen, um sein hohes Echo

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erlösend über die schwarz-verwischten, konturlosen Dächer zu jagen, nicht einmal Mäuse oder städtische Ratten huschten schattenhaft zum näch­sten Kanaldeckel, um einen Hauch von Leben auf den versunkenen, unheimlichen, gleichmütigen und verborgen drohenden Marien­platz zu schleudern.

Christoph von Dauthendey, der jugendlich-energische Präsident der Europäischen Union, hatte mit dem Beginn des innerfamiliä­ren Konfliktes über seine Heimat- und Residenzstadt den Aus­nahmezustand verhängt. „Nächtliche Ausgangssperre“ lautete das Zauberwort, das dem altersbuckligen München die todgemahnende, finstere Leere beschert hatte. Und die Münchener gehorchten. Es verronnen Nächte, denen die Polizeipatrouillen bescheinig­ten, nicht ein einziges Geräusch geboren zu haben, Nächte, in denen das All mit seinem vollendeten Nichts wahrhaftig über die Stadt kam und wie ein schwarzes Loch alles Leben, alles Licht, allen Schall verschluckte, Nächte, die in einer derart gigan­tischen Lautlosigkeit aufgingen, daß die Polizisten zu Proto­koll gaben, eine dröhnende Stille hätte ihnen zerreißende, marternde Ohrenschmerzen verursacht. Kurzum: München erlosch. Gladius Dei.

Jedoch … es gab auch andere Nächte, Nächte, die fraglos Ge­räusche gebaren; zwielichtige Geräusche, die sogleich verpuff­ten, wenn ihnen selbstbesinnend bewußt wurde, daß sie polizei­liche Ohrenschmerzen linderten. Und des öfteren entsprangen Geräusche dieser unbeständigen, heilenden Art im Bereich der Stadtrand-Gegend um die Ludwigsbrücke: Die undurchdringliche Stadtmauer, die zähnefletschende Befestigung, die das zivili­sierte München vor der elenden Anarchie dort draußen bewahrte, verlief südlich der Theresienwiese in östlicher Richtung bis zur Isar, dann den berühmten Fluß entlang, der hier einem Burg­graben gleichkam, in nordöstlicher Richtung bis zur Ludwigs­brücke, um auf der Brücke einen knappen Neunzig-Grad-Knick nach Südosten zu beschreiben, sich schließlich erneut direkt nach Osten zu wenden und im weiteren das ehemalige Haidhausen zu zerteilen. Dieser Verlauf implizierte, daß das große, ver­fallende, ungenützte Gebäude des ehemaligen Deutschen Museums, neben der Ludwigsbrücke auf einer Isar-Insel gelegen, nicht mehr zum Stadtgebiet zu rechnen war, sondern direkt hinter der Demarkationslinie, von der Mauer nur durch einen der Flußarme getrennt, im hochmilitarisierten Sicherheitsgebiet lag, jenem tausend Meter breiten Todespark, der ringförmig um das ver­bliebene München gezirkelt worden war. Wo nun die zwielichti­gen, ohren-schmerzenlindernen Geräusche, die zu nächtlichen Allstillestunden manchmal vernommen werden konnten, entspran­gen, das war eben dort, in jenem wuchtigen Riesengebäude, dem „Deutschen Museum“ …

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In der Sendlinger Straße, direkt gegenüber der Asam-Kirche, in einem alten, vierstöckigen Wohnhaus mit freiem Giebel und pit­toresk verzierten Erkern, dessen Erdgeschoß von einer Bäcke­rei, einem Blumenladen sowie einem Bekleidungsgeschäft genutzt wurde, lebte Heinrich Fleckenstein mit seiner Frau Alexandra.

Fleckenstein war ein privilegierter Mann: Im Auftrage des Hau­ses von Dauthendey beobachtete der erfolgreiche Soziologe die Entwicklung des sozialen Gefüges der Unzivilisierten. Täglich durfte er in seinem staatseigenen Wagen das Stadtgebiet ver­lassen, über die Ludwigsbrücke in den Sicherheitsring und schließlich in das grenzenlose, nahezu unendliche Gebiet der Unzivilisierten eindringen, das den gesamten Bundesstaat Deut­schland umfaßte, mit Ausnahme der vier kräftigen Städte, deren Antikörper sich gegen jeden Ungehorsam verwahrten. Flecken­stein besaß einen Sonderausweis, der ihn nicht nur berechtig­te, die Befestigungsanlagen des einsamen Münchens zu durch­dringen, sondern ihn auch von der nächtlichen Ausgangssperre ausnahm – seine Studien erforderten dies, denn in den kochen­den, brodelnden Nächten der Unzivilisation waren die aussage­kräftigsten Erkenntnisse zu gewinnen. Heinrich Fleckenstein ging einer gefährlichen Arbeit nach – er mußte oftmals versu­chen, mit Unzivilisierten in Kontakt zu treten –, und seine Frau bangte um ihn.

Es war in einer jener Nächte, deren erbarmungslose Lungenkräf­te das Universum aufzusaugen schienen, deren allgegenwärtige Gegenwartslosigkeit den nervösen, dauthendeyschen Polizeibe­amten Ohrenschmerzen verursachte. Heinrich Fleckenstein ver­abschiedete sich eine Stunde vor Mitternacht von seiner ängst­lich-bohrenden Frau – sie verstehe nicht, warum er immer so spät aufbrechen müsse, es sei doch auch schon früher dunkel und Nacht, und die Unzivilisierten seien gewiß auch um neun schon unzivilisiert, nicht erst um zwölf –, schlenderte die breite, helle Treppe hinunter und trat ein in die schwarze Wolkennacht. Der tiefe, dunstige Himmel klebte wasserschwer über der Innen­stadt. Es war nicht kalt, eigentlich eine Sommernacht, und vor vierundzwanzig Stunden noch hatte der Mond sein klarweißes Licht grellend auf die Sendlinger Straße hinabgestrahlt, als wollte er den matten Laternen mit ihrem zahnschmelzgelben Schummer-Schein überlegen und lächelnd beweisen, daß Licht auch wirklich hell sein kann. Es herrschte eine atemberauben­de, sinnesbetäubende Stille. Der privilegierte Soziologe trug Turnschuhe, elastische, weichbesohlte Turnschuhe, weil er ver­hindern mußte, daß klackende Absätze ein hohes Echo über die schwarz-

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verwischten, konturlosen Dächer jagten. Behutsam schritt Heinrich Fleckenstein durch die engsten, dunkelsten Gassen, überquerte vorsichtig den breiten Altstadtring, der schon vor langer Zeit zu einer prächtigen Promenade gekrönt worden war, marschierte eilig zum Gärtnerplatz und schlüpfte dort, kurz vor dem Beginn der innerstädtischen Kontrollzone, durch die Eingangstür eines Wohnhauses neben dem nutzlosen Theaterbau.

Seinen Freund und Helfer Anton Herrnberger, der im dritten Stock des Hauses wohnte und ihm diesen verbotenen Weg erst aufgetan hatte, konnte Fleckenstein in dieser frierenden Stun­de nicht besuchen – die Zeit drängte. Er stieg in den Keller hinab, öffnete mit seinem Schlüssel eine schwere Eisentür und durchmaß hektisch-schnellen Schrittes einige schmale, kühle Gänge, in denen die freiliegenden Leitungsrohre klickend ru­morten – durchzuckt vom spätabendlichen Privatleben des Mün­chener Bürgertums –, erreichte schließlich die wagenfreie und gerümpelberstende Tiefgarage, die er jedoch durch eine andere Tür umgehend wieder verließ, wodurch er in einen niedrigen Raum gelangte, dessen alleiniger Zweck nur darin bestand, wiederum die Wahl zwischen drei verschiedenen Türen zu ermöglichen. Fleckenstein entschied sich für folgende Aufschrift: „KEIN DURCHGANG! ELEKTRISCHE ANLAGEN! VORSICHT LEBENSGEFAHR!“ Doch die erwartete stromspeiende Atomturbine fand sich dahinter nicht, sondern vielmehr eine hühnerleiterartige Treppe, die zwei Meter emporführte, um unmittelbar vor einer neuerlichen Türe zu enden. Heinrich Fleckenstein kletterte, steckte einen ungewöhnlich geformten Schlüssel ins Schloß und befand sich – im Theater am Gärtnerplatz.

Es war grabesdunkel. Der Eindringling griff in seine Westentasche und zog eine bleistiftkleine Taschenlampe hervor, die einen überraschend hellen Lichtstrahl zu erzeugen vermochte. Das Theater wurde von der Stadtverwaltung nur äußerlich noch am Leben erhalten; seine Eingeweide waren erstorben und zersetzt, seit vielen Jahren faulten sie ungenutzt vor sich hin. Nachdem Fleckenstein im zerstörten Unterleib des Theaters abermals einen türen- und stollenreichen Geheimweg zurückgelegt hatte, zauberte er mittels einer Falltür ein Loch in den dicken Beton­boden und verschwand im Kanalnetz Münchens.

Schnurgerade flüchtete die Unterweltbahn nach Südosten. Vier­hundert Meter mußte der Soziologe Fleckenstein geduckt und vor Gestank heftig durch die Nase prustend zurücklegen, um endlich einen würzigen Hauch frischer Luft zu erschnuppern: das Ende des Kanals! Showdown!

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Der Kanal war immer niedriger, immer enger geworden, und hier, unmittelbar vor dem Ausgang ins Freie, konnte man nur noch knapp neben dem Jaucherinnsal dahinkriechen. Aufatmend vernahm Fleckenstein ein flüsterndes, plätscherndes Rauschen. Er war fast am Ziel, und erlöst, aber bereits angespannt bebend lugte er aus dem autoreifengroßen Loch hervor, das der Straße der Unterwelt die Oberwelt öffnete, horchte er in die wolkige Fin­sternis dieser gefahrverheißenden, bedeutungsschwangeren Nacht. Direkt über ihm ragte die bleiern beschützte Stadtmauer mit ihren Wachtürmen und Scheinwerfern in die Dunkelheit em­por; einen Meter vor ihm wälzte sich die Isar durch ihr steini­ges Kiesbett; und dort drüben, auf der anderen Seite des fünf­zig Meter breiten Flußarmes, auf der wasserumspülten Insel, thronte im wolkigen Schwarz der lichtlosen Nacht, hin und wie­der von einem grellen Scheinwerfer gestreift, dunkelgrau, kon­turlos, gespenstisch-verlassen ein wuchtiges Riesengebäude – das „Deutsche Museum“.

Vorsichtig und lautlos kletterte Heinrich Fleckenstein, der privilegierte Soziologe, durch den runden Kanalausgang, aus dem die Jauche in das kiesige Isarufer sickerte, und drückte sich schwer atmend gegen den kalten Steinsockel der Stadtmau­er. Der Sicherheitsring. Der Todesstreifen. Falls die Wachen ihn hier entdeckten, würden sie ihn sofort erschießen. Ohne Warnung, ohne Zögern. Auf den Wachtürmen sah man die Polizisten im schwachen Licht ihres Kabäuschens, zwei auf jedem Turm, und fünfhundert Meter die Isar hinunter, am Ende des gigantischen Museumsgebäudes, saß die mächtige, waffengraue Stadtmauer auf der breiten Ludwigsbrücke, nur erkennbar kraft des gedimmten Lichthauchs im dortigen Wachturm, der die düstere Stadtmauer sacht von der sattschwarzen Nacht schied. Showdown. Flecken­stein schob sich an der Steinmauer entlang, ganz langsam, ganz an die kalte Wand gepreßt, bis er sich nach einigen Metern so nah an einen größeren Steinbrocken herangepirscht hatte, daß er sich bücken und den Brocken umdrehen konnte, ohne ausladen­de, gefahrvolle Bewegungen zu benötigen. Unter dem Stein tat sich ein Loch auf, ein menschliches Loch in der Erde, aus dem Fleckenstein einen Plastikbeutel hervorzog, der Schwimmflossen und einen schwarzen Taucheranzug enthielt. Er versenkte seine Weste sowie seine Schuhe in dem Beutel, den Beutel unter dem Stein und schlüpfte mit umständlich geräuschlosen Verrenkungen in die Taucherkluft; und dann, unerwartet plötzlich, stand der bedrohlichste Moment auch schon bevor, schneidend und puls­treibend: Der dauthendeysche Soziologe krabbelte über das zwei Meter breite Ufer und glitt ungesehen in die eisigen Fluten der Isar, denen er mit all seiner Kraft entgegenarbeiten mußte, um nicht von der souveränen, gelassen-starken Entschiedenheit der Strömung

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mitgerissen zu werden. Auf der Museumsinsel ange­langt, entledigte er sich der Schwimmflossen und lief – nun außer Gefahr, da verborgen hinter den sommernächtlichen Bäumen – zu dem umfinsterten, deutschen Museums-Gebäude, das seine Besucher einst in die Welt der Technik zu entführen gewußt hat­te, klopfte ungeduldig gegen eine unscheinbare Tür, trat nach einigen wartenden Sekunden ein und tauchte in völlige Dunkel­heit; doch sobald er die Tür hinter sich zugezogen hatte, er­glimmte wieder das helle Licht, das nach seinem Anklopfen hek­tisch gelöscht worden war, und beleuchtete eine große, breite, hohe Halle, deren Fenster mit schwarzem Karton verdeckt waren und in der sich einige merkwürdige Gestalten aufhielten.

Es handelte sich um drei Männer, frisch gebadet und sauber ge­kleidet, sowie um eine junge Frau, deren in zerrissene Lumpen gehüllter schmutziger, verschwitzter Körper in krassem Gegen­satz zu den drei Herren stand, mit denen sie offensichtlich gut bekannt war. Alle vier starrten gebannt und leicht verängstigt auf Heinrich Fleckenstein, der, obwohl seine Schwimmflossen in der Hand, energisch auf die Gestalten zuwatschelte.

„So, meine Damen und Herren: Es kann beginnen!“ sagte Flecken­stein, indem er die Flossen zu Boden fallen ließ und sich tatendurstig die Hände rieb. „Heinrich Fleckenstein hat den Herrschaften den Ablauf bereits erklärt: Die drei Herren wer­den jetzt die Taucheranzüge überziehen und Heinrich Flecken­stein nach draußen folgen. Dort warten sie am Ufer und beobach­ten Heinrich Fleckenstein, wie er auf die andere Seite schwimmt und im Kanal verschwindet. Dann tut es ein Herr nach dem ande­ren Heinrich Fleckenstein gleich. Ganz wichtig: Der nächste Herr darf erst starten, wenn der vorangegangene bereits im Ka­nal verschwunden ist, sonst entsteht zu viel Bewegung dort un­ten. Heinrich Fleckenstein wird die Herren im Kanal erwarten. Sobald Heinrich Fleckenstein und die drei Herren den gefährli­chen Kanal hinter sich gelassen haben, legen die Herren die Taucheranzüge ab, lassen sich die Augen verbinden, und Hein­rich Fleckenstein wird sie ins Innere von München geleiten. Dort sind die Herren dann auf sich allein gestellt, Heinrich Fleckenstein ist ihnen nie begegnet und lehnt jede weitere Verantwortung ab. Was die Herren in München tun werden, Einbrü­che begehen, Raubüberfälle begehen oder versuchen, irgendwie unterzukommen, ist Heinrich Fleckenstein vollkommen gleichgül­tig, solange sie nicht ihn selbst überfallen. Ihre gefälschten Papiere, die die Herren in dieser Stadt übrigens immer bei sich tragen müssen, erhalten die Herren von Heinrich Fleckenstein unmittelbar vor Ende der gemeinsamen Aktion, die jetzt gleich beginnen wird. Wann das Mädchen wird nachkommen oder in die Gebiete

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zurückkehren können – ganz nach Belieben – kann Hein­rich Fleckenstein den Herrschaften jetzt noch nicht sagen. Jetzt wird sie erst einmal eingesperrt.“ Und mit diesen Worten faßte Heinrich Fleckenstein die junge Frau am Arm, zerrte sie zu einer schweren Eisentür und sperrte sie in den dahinterlie­genden abstellkammergroßen Raum. Die Gesichter der Herren überzogen sich währenddessen mit steinharten Eisesmienen, ihre Kiefermuskeln arbeiteten zornentbrannt, doch sie konnten den Soziologen nicht zurückhalten: Er hatte sie in der privile­gierten Hand.

„Was schauen die Herren so belämmert?“ fragte Fleckenstein, als er die junge, schmutzige, lumpige Frau verstaut hatte. „Das war doch mit Heinrich Fleckenstein so vereinbart. Wenn die Her­ren den Preis für die lebensgefährlichen Bemühungen Heinrich Fleckensteins jetzt nicht bezahlen wollen, läuft gar nichts. Verstanden? Gar nichts!“ Und bei diesen letzten Worten war die leise, spitze Ironie aus seiner Stimme einer drohenden Überlegenheit gewichen. „So, die Aktion beginnt!“

Die drei künstlich zivilisierten Männer stiegen in die bereit­liegenden Taucheranzüge und folgten Heinrich Fleckenstein, dem privilegierten Soziologen, in die schwarze, wolkige Nacht.

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2

München, diese janusköpfige Stadt, leuchtet so schwarz und so erloschen, daß selbst an lichtenden Tagen dunkelnde Nächte vom sonnigen Himmel der finsteren Schattenwolken fallen. Immer hängt über der müden Sendlinger Straße auf ihrem historischen Weg zum versunkenen, unheimlichen, gleichmütigen und verbor­gen-drohenden Marienplatz, immer hängt über dem stofflosen Zahnschmelz der blindgetrauerten Straßenlaternen entlang der hallenden, kryptadüsteren Theatinerstraße, immer hängt über dem bewußtlos geprügelten, schwachsinnig gehämmerten Odeons­platz und über den ungehörten Mahnungen der wundersamen Feld­herrnhalle, immer hängt über der altehrwürdigen, prachtboule­vardverschnittenen, hochstapelnden Ludwigsstraße mit ihren kulissenhaften Staatsbauten und ihren berüchtigten grau-beigen Geschichtsfassaden, immer hängt über dieser aufgeschnittenen Pulsader, die lanzenhart in das gepökelte Fleisch des eng be­grenzten europäischen Nordens stößt, immer und zu jeder Stunde hängt über all diesen krebszerfressenen, kaffeeparalysierten, alkoholverschwemmten, tabakverbrannten und gehirnzellengiftverätzten Münchener Organen irgendeine dieser feucht-vernebel­ten, ohrenschmerzenlindernden Museumsnächte, deren erbar­mungslose Lungenflügel das Universum atmend durch ihre mond­großen Alveolen zuzeln, immer dieser schwarz-verwischte, poli­zeiverrußte, gefahrverheißende Nachthimmel, immer und zu jeder Stunde und an jedem lichtenden Tag und auch an jenem schwären­den Morgen, an dem sich ein von fahler Föhnsonne benetztes, von langgestreckten, überfahrenen Faserwolken versponnenes und von dünner, felsenstaubtrockener, gletscherwuchtiger Alpenvor­landsluft beschwertes Tagesgewölbe über das weite Parkareal neben der Ludwigsstraße bog, das als lefzenfletschender Sperrbereich stadtlebenfressend von der alten Staatskanzlei über den imposanten, majestätischen, schloßgleichen Dauthendey-Pa­villon bis zum gereinigten Monopteros wütete, ja, auch an jenem zellulitischen Morgen, an dessen schwitziger Hand die verloge­ne Heimathöhle der göttergeküßten Herrscher über die versunke­ne Alte Welt bonsaigepflegt erwachte, an jenem mitteleuropä­isch-kleinmütigen Morgen, an dem Wolfram von Dauthendeys ab­sonderliche Weltsicht zum allerersten Mal hinaus in ihre Epo­che verdampfte.

Erstickt in fauligem Zitronengelb, staubten die verdursteten Sonnenstrahlen schimärenspeiend auf den prachtvollen Dauthendey-Pavillon hinab, die schneegekrönte Felsensilhouette der Alpen in die granitschwere Höhenluft phantasie-

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rend. Inmitten eines absolutistischen, sonnenkönigsbunten Monarchenparks erhob sich der verwinkelte Wohnpalast des europäischen Weltfamilienzweiges, der preziöse Dauthendey-Pavillon, mit seinen vier schloßhohen Stockwerken, seiner kolossalen Marmorterrasse und seinen güldenen Tor- und Fensterbögen in die föhnige Galle­luft. Dort drüben, hinter den duftenden englischen Baumkronen, in der ausladenden Staatskanzlei aus gläsernem Aluminium, re­gierten die Dauthendey-Brüder Christoph und Gottfried ihren verschrobenen Kontinent der grenzenbrechenden Unzivilisation an die klippigen Gestade der Weltpolitik, und hier, neben dem müde plätschernden eisigen Bach, im vergilbten Schatten des langbeinigen Monopteros, der die herrschaftliche Sperrzone des Englischen Gartens in greisem Gewölbematt beschloß, hier zer­trat der fünfzehnjährige Wolfram in seinem Pavillon-Schlafsa­lon aufgelöst und panisch eine schwül-heiße Mondnacht, indem er seine auseinanderstrebenden Glieder, die der tödliche Föhn­odem bunsenbrennerscharf zu verwehen drohte, vollzählig fest­zuhalten suchte in seinem übermüdeten, geräderten, rohen, ver­dorrten Herrscherfleisch.

Wolfram von Dauthendey war blind seit seiner Geburt. Und als er an jenem brennesselgiftigen Sonnenmorgen – ebenso wie an jedem anderen stinkenden oder salbungsvollen europäischen Tag – am haarigen Arm seiner rundlichen Pflegerin über den breiten Mar­morweg durch das weitläufige Blumenparkareal des bürgergesäu­berten Englischen Gartens zur weltmachtbeschwörenden Staats­kanzlei schritt – vorbei an den sechsundachtzig Gärtnern, die geschäftig herumschnibbelten, -gruben, -feilten, -polierten, -sägten, -jäteten, -schrubbten, -schminkten an allem grünge­tünchten Leben –, da ahnte er noch nicht, daß ihm dieser übel angebrochene Tag in wenigen Minuten ein flimmerndes Trugbild der Macht überreichen würde, ein ultraviolettes Negativ der Diktatorenkraft, das den Rest seines madenfaden Lebens un­sichtbar, doch jupitermaterieschwer in seinen blassen, kno­chigen Händen ruhen sollte, koboldkreischend, kautschukkle­bend, kastratenkarg. Zum urknallersten Mal bat ihn sein büf­felblaffender Vater an diesem föhnflunkernden Tag nicht zu einer raschen, jugendfrei gekürzten Lagebesprechung in sein ovales Machtgemach, nein, freundschaftlich lenkte er ihn in das gigantische Arbeitszimmer des glubschäugigen Gottfried, drückte ihn sacht auf einen der vielen thronweichen Samtsessel des Sieges und durchbohrte ihn mit den wollüstigen Worten: Es habe sich ein bedeutendes politisches Problem ergeben, in das er ihn, seinen inzwischen fünfzehnjährigen Sohn, bedingungslos einzuweihen gedenke, denn nun sei er, sein herangewachsener Sohn, endlich alt genug, um seine bedeutende Meinung zu bedeu­tenden Fragen dieser bedeutenden Art männlich, selbstgewiß und herrisch kundzutun.

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Einige kurze – einige viel zu kurze – sechsäugige Machtminuten später traumwandelte Wolfram – fassungslos angesichts seiner ersten Protonenprozession im Atomkern der Entscheidungsgewalt – am gleichgültigen Arm seiner rundlichen Pflegerin über den breiten Marmorweg durch den Europäischen Blumengarten zurück zum schloßgleichen Dauthendey-Pavillon, doch als die schnip­selnden und säbelnden Gärtnergeräusche der schmutzuniformier­ten Grünpflegerschar, die den undenkbarsten Park der Welt mit ihren geierkrummen Scheren, Gabeln, Messern herausfordernd streichelte, durch seinen dickhäutigen Herrscherkokon in hel­len Farben an seine sehenden Ohren drangen, blieb er unvermit­telt stehen und befahl seiner denkfreien Pflegerin, sich für seine umständlichen Augen vernehmlich zu verflüchtigen, wo­rauf er den nächsten ergebenen Gärtner jenen Mann herbeirufen hieß, der allein ihm in dieser außergewöhnlichen Situation seelenstützenden Beistand zu gewähren verstand, jenen eigen­tümlichen, kauzigen, schrulligen Mann, der hier irgendwo durch die blumigen Beete und beerigen Büsche und blättrigen Bäume krabbelte, jenen Mann mit dem ungeheuer treffenden Namen: Bonsai.

Bonsai war ein kleiner Mann. Sein eigentlicher Name lag so tief unter dem abgefallenen, vertrockneten Laub eines äonenlangen Lebens verborgen, so tief, so dunkel, so lichtlos, daß sich so­gar der sechzig Zentimeter hohe Bonsai selbst außerstande sah, ihn aus den rissigen Buchstaben seines frühen Daseins, die bis­weilen zwischen dem erinnerungsdurchwühlten, zerpulvernden Laub schemenhaft hervortauchten, zeitbeständig zu rekonstruie­ren, und auch der geistblitzende Schöpfer seines ehrlichen Spitznamens sollte wohl für den kalkigen Rest aller stachel­drahtzerfurchten Epochen verschüttet bleiben unter den herbst­bunten Tränenhügeln der blätterweinenden Äste. Hunderte von Jahren waren von Bonsais rostbemoostem Leben abgetropft wie brackiges Regenwasser und hatten sich zu einem gigantischen Meer zusammengesammelt, zu einem strandlosen Stillen Ozean der Zeit, den schon seit ewigen Generationen keine menschliche Erinnerung mehr zu durchschwimmen vermochte. Unaufhaltsam füllten sich die Lungenflügel seiner frühen Münchener Jahre mit dem fauligen Wasser dieses anschwellenden Ozeans, und auch die Wörter und Bilder seines erdzeitalterhohen Gärtnerlebens drohten alsbald in der Jauche der Zeit zu ersaufen.

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Ja: Das verkrüppelte München pries sich Bonsais Mutterstadt. Vor unzähligen Generationen entdeckte ein vergessenes junges Mädchen auf dem mürbegealterten Marienplatz einen winzigen, handschuhgroßen Säugling, der bestrebt war, nackt die riesen­hafte Dachrinne des Rathauses emporzuklettern, gnomenulkig, satyreklig, bonsaiknorrig. Das verschwindende Wesen klammerte sich mit daumengroßen Beinen, deren fuchsrote, furchige Haut an die polsterweiche Fossilienrinde einer Riesen-Sequoie ge­mahnte, wie ein urtümlicher Koboldmaki an die Hände des gerühr­ten Mädchens und blickte seiner Retterin aus einem schon damals greisenhaften Kopf ins Gesicht, einem zapfenförmigen Kopf, der anmutete wie nicht von dieser Welt gespeist. Die Familienange­hörigen des vergessenen jungen Mädchens, die sich des sagen­haften Geschöpfes klaglos duldend annahmen, tauschten voraus­ahnend – mit bekreuzigendem Kopfnicken – die Überzeugung, daß der blasphemische Säugling zweifellos die Frucht zweier not­züchtender Unzivilisierter sei, weshalb sie das Teufelskind wochenlang in ihrer gemeinsamen Wäschetruhe verstauten, wo es, gedüngt vom Polster muffiger Höschen, tagtäglich einen voll­ständigen Zentimeter wuchs, bis die Klappe der bauernhölzernen Truhe nicht mehr schloß und sich die entsetzte Familie gezwun­gen meinte, das sechzig Zentimeter große Ungeheuer im entfern­testen Winkel der gefangenen Stadt zu entsorgen. Bonsai-der-Säugling indes war bereits eine Stunde nach dieser nieder­trächtigen Feigheit zur tränenfeuchten Freude des vergessenen jungen Mädchens aus seiner schäbigen Verbannung zurückgekehrt, um vor der Haustür seiner ratlosen Retter spitzelbeglückend nach der schlüpfrigen Wäschetruhe zu plärren – und während der folgenden elf Jahre kannte ihn seine zwangsadoptierte Familie unter seinem eigentlichen, in der Jauche der Zeit ersoffenen Namen, der damals wohl dem gefühlpinkelnden Mitleid des vergessenen jungen Mädchens entsprang, und das urzeitliche Gewächs mit seiner knorrigen Rindenhaut maß noch immer sechzig Zentimeter, als die grölenden Häscher der Dauthendeys, die in aller zivilisierten Welt nach herkunftslosem Unkraut kramten, um ihre Loyale-Knechte-Zucht zu erfrischen, den elfjährigen strampelnden Winzling in einem Sack verschnürten, die Retter­familie mit ihrem vergessenen jungen Mädchen durch gewaltmüde Genickschüsse liquidierten und den lächerlichen Bonsai der fünfundachtzigköpfigen, schmutzuniformierten Gärtnerschar eingliederten, die sich bereits damals – zahllose Generationen vor jenem föhnfauligen Tag, an dem Wolfram-der-Sohn saftige Blutorangen der Befehlsgewalt schälte – zeitenlos durch das sonnenkönigsbunte Blumenparkareal um den schloßgleichen Dauthendey-Pavillon wühlte.

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Vom ersten Tag an fühlte sich Bonsai zwischen der herrlichen Blütenpracht, die leuchtend seiner dankbaren Kleinwüchsigkeit huldigte, wohler und heimatdurchbluteter denn je, und alsbald beförderte ihn, den baumgleichen Baumpfleger, irgendein Urururahn Christoph von Dauthendeys aufgrund seiner künstlerischen Buddelbegeisterung zum befehlshabenden Präsidenten der ge­sichtslosen Gärtnerschar. Jede Stunde seines unendlichen, epochenüberdauernden Lebens genoß er inmitten einer stumm und fromm und zärtlich wuchernden Liebeswelt der Pflanzen, und wann immer Bonsai seine schnurrenden Gefährten verständnisvoll liebkoste, schienen auch die Tulpen, Osterglocken und Trauben­hyazinthen im glücklichen Gegenzug die Seele ihres noch immer sechzig Zentimeter hohen Bonsai verständnisvoll zu liebkosen, Bonsais blütenförmige Staubblatt-Seele, die sich zwischen Be­gonien und gefüllten Tagetes, zwischen Kaktusdahlien und Ti­gerlilien, zwischen langstieligen Edel- und vielblütigen Polyantharosen ein enges, urwaldbuntes Universum erschuf, dessen Galaxien in einem Nebel aus Kronenanemonen und Strohblumen, aus indischen Chrysanthemen, Wohlriechenden Wicken, Pelargo­nien, Mittagsblumen, Nachtkerzen und lanzigem Rittersporn strudelnd vergingen, wabenförmige Pollengalaxien, deren Sonnen sternförmig strahlten wie Gazanien oder Rudbeckias oder wie die goldgelben Supernovä der Helianthus, umzirkelt von den el­lipsenziehenden Planeten der Wucherblumen, der Mignon-Dahlien, der Federnelken, der Glockenblumen, der Jalappenwinden und der Byzantinischen Gladiolen, deren lichtbrechende Atmosphären – getränkt vom traurig prasselnden Gemeinen Goldregen – se­kündlich aufjauchzten in der bunten Kometenpracht der Rhododendren und Pfirsichbäume, der Tulpen-Magnolien, der Rotblühen­den Roßkastanien, der Gemeinen, der Persischen und der bastardierten Chinesischen Fliedergewächse – alle schöpferisch be­wacht von den göttlichen Barmherzen der Lampionblume, die sich mit allem farbigen Leben der Erde zu umgeben schien, um verbor­gen in der Pracht ihrer eigenen Schöpfung zu vergehen. Bonsai, die sechzig Zentimeter hohe Riesen-Sequoie, reifte in diesem Europäischen Blumenpark zu einem knorrigen, rindenknusprigen, wurzelstarken Mann heran, der derart sicher durch das münchenerische Hirn Europas strich, derart souverän, derart selbst­gewiß, derart weise, derart in-sich-ruhend, daß die dauthendeyschen Präsidenten und Präsidentensöhne ungezählter diktato­rischer Jahrhunderte jeder für sich auf den winzigen chef de jardin aufmerksam wurden, ihn nach einigen zögerlichen Wochen des moribunden Herrscherstolzes allein und heimlich und unge­sehen in ein grünes Versteck zitierten und für die kümmerlichen Reste ihrer psychopathischen Leben all ihre unantastbare Mo­narchen-Erhabenheit in gleichgültiger Schwäche fahrenließen, indem sie – gefangen in politischen oder menschlichen Mäuse­fallen – an ungezählten

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schmachvollen Tagen mit geschwollenen Köpfen an Bonsais epochengepolsterte Rinde klopften, um den liebenswürdig lächelnden Zwerg, der seinen Gebietern geduldig wie eine viertausend Jahre alte Grannen-Kiefer seine baumau­genähnlichen Ohren lieh, dammbruchartig mit den quälenden Problemchen der gegenwärtigen oder zukünftigen Allmacht zu über­gießen. Gemächlich wie alles in den Zellen eines Mammutbaums avancierte Sequoien-Bonsai allmählich zum unerkannten chef de cœur der europäischen Diktatorenfamilie, und als Wolfram-der-Sohn an jenem föhnflirrenden Tag einem gesichtslosen Un­tergärtner nach dessen Chef, einem eigentümlichen, kauzigen, schrulligen Mann, zu schicken befahl, wußte nur Therapeuten-Bonsai persönlich, daß er sich in seiner diktatorenlenkenden Funktion als ehrenamtlicher Couchgebieter eigentlich auf sternenzählige staatsgeheimste Einblicke in die tiefsten Seelen­seen aller dauthendeyschen Patriarchen des vergangenen Jahr­tausends zu berufen vermochte. Grotesk, daß einzig die ver­schämte Vollendung der Heimlichkeit der ratlosen politischen Pavillon-Götter das edle Wurzelholz Europas seit Jahrhunderten vor der rindenzerschmetternden Axt bewahrt hatte, denn wäre auch nur ein einziger der furzblassen Schwächlinge, die sich bei dem seelenmüllfressenden Blumenparkpfleger im dichten Un­terholz des Monopteros-Hügelchens angstdurchknorpelt thera­piert hatten, dem gestadelosen Gärtnerleben in seinem unum­schränkten Allwissen auf die fingerfertige Schliche gekommen, hätte der gleißende Name Dauthendey kaum eine feuerwutspeiende Nanosekunde gezögert, den zwergwüchsigen Mammutbaum mitleidlos zu fällen, und als Wolfram-der-Sohn an jenem zellulitischen Morgen, an dem seine absonderliche Weltsicht zum allerersten Mal hinaus in ihre Epoche verdampfte, seine sechzig Zentimeter hohe Seelenstütze zuhören hieß, da wußte weder der in der Staatskanzlei regierende Präsident, daß sein Sohn ihn mit dem Chefgärtner betrog, noch wußte der blinde Thronfolger, daß sein Vater, der gewaltige Christoph von Dauthendey, es ihm in mitteleuropäischer Regelmäßigkeit einmal wöchentlich gleich­tat, indem er seinen wuchtigen Kopf problemeweinend auf den nadelholzstarken Schultern eines äonenalten Pygmäen parkte.

Im finsteren Alter von zwölf Jahren hatte sich Wolfram von Dau­thendey erstmalig dem besänftigenden Lächeln Bonsais geöffnet – nachdem er dem fünfundachtzig-Gärtner-führenden Wurzelwicht tagelang durch die unsichtbaren ozeanischen Blütenbrecher des Englischen Gartens hinterhergekrochen war, seelisch verzwei­felnd an dem zwanghaften Versuch, Bonsais schluchtenzerschnit­tenes Gesicht mit Leuchtstift in seine Finsternis zu zeichnen –, und während

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der folgenden Jahre beschwichtigte er seine juckenden pubertären Wespenstiche einer mädchenlosen Welt, indem er sie heftig an der zerklüfteten Rinde des Chefgärtners rieb. Und an jenem lichtenden Tag, der – benetzt von fahler alpenvorländischer Föhnsonne – jugendschwanger über den ängstlichen Schwabinger Straßenzügen vom Himmel gebrochen war, an jenem mitteleuropäisch-kleinmütigen Tag, an dem die absonderliche Weitsicht des fünfzehnjährigen Wolfram von Dauthendey konti­nentalplattenformend hinaus in ihre Epoche verdampfte, an je­nem Tag trug der erschlagene Präsidentensohn zum allerersten Mal keine unterleibsschweren Phantasien an den leise lächeln­den Bonsai heran, sondern vielmehr ein frühes, handfestes Pro­blem der Macht, ein Problem, das ihm sein entscheidungsgewal­tiger Vater wenige Minuten zuvor mit seinen wollüstigen Worten von der bedeutenden Meinung eines bedeutenden Sohns zu bedeu­tenden Fragen dieser bedeutenden Art in den versteinerten Leib gesenkt hatte, mit seinen Worten von einer jungen Süditaliene­rin, die in ihrer halbwegs lebenstüchtigen Heimat nahe Cosenza eine Schule eröffnet hatte, in der unzivilisierten Kindern zwar nicht das Alphabet, aber doch immerhin das Überleben ohne Töten vermittelt werden sollte, und welche Lösung, mein reifer Sohn, würdest denn du nun bevorzugen, die Bombardierung der Schule durch Jagdflugzeuge, die Abwicklung der ungezogenen Frau durch ein geheimdienstliches Killerkommando, oder möch­test du gar dafür eintreten, diese halbzivilisierte Süditalie­nerin in ihrem Tatendrang gewähren zu lassen, ich schenke dir vier Stunden, um deine erste politische Entscheidung zu über­denken.

Schwerwiegend saß Wolfram, wie seit drei fragenquillenden Jah­ren üblich, neben dem sechzig Zentimeter hohen Bonsai im satten Gestrüpp am verborgensten Fuße des kleinen, spitzen, brust­förmigen Unterholz-Hügels, auf dem sich der steinerne Monopteros langbeinig in den Alpenhimmel wölbte, und hüpfte von einer der drei väterlichen Lösungen zur anderen, bis sich Bonsai räusperte und zwischen seinen hölzernen Stimmbändern in thea­tralisch therapiestärkender Wortverästelung hervordumpfte, daß er, Bonsai, Lösung eine vierte vierte wünsche vierte, näm­lich muß muß Frau muß aus Italien werden werden hierher werden gebracht, um elternlose Kinder Kinder München Kinder zu erzie­hen, damit mit elf elf erst elf nicht wie er, Bonsai, machen machen Knecht machen zu können, früher früher sondern früher schon, und außerdem Frau Frau Wolfram Frau können haben haben endlich haben dann Wolfram Frau lieben lieben, und der lichtlo­se Thronfolger begeisterte sich derart spontan und unbedacht für des Bonsaibaums Idee, daß er

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sich sofort unterleibsgesto­chen von seinem verschmitzten Therapeuten zum schloßgleichen Dauthendey-Pavillon zurücklenken ließ und dort den haarigen Arm seiner rundlichen Pflegerin barsch und bissig anwies, sei­ne führungsbedürftige Majestät unverzüglich hinüber zur Staatskanzlei zu steuern, wo Christoph und Gottfried von Dau­thendey im schamroten Angesicht der jugendlichen Machtbegabung glubschäugig staunten über den kaleidoskopischen Frauenvor­schlag – warum, Gottfried, muß erst mein Junge die Idee entwer­fen, den Kindern in unserer Obhut das Gehorchen zu lehren? – und widerspruchslos die geheimdienstliche Morsezelle Südita­liens dazu veranlaßten, die absonderliche Weltsicht des poli­tisch angereiften Erbfolgepräsidentensohns dampfend hinaus in ihre Epoche zu verkochen.

Knorriger Adonis zärtlicher Gewächse, freute sich Bonsai über Wolframs süditalienische Liebeschance wie ein Kaktus über einen lauen Wassertropfen, denn er wußte, daß sich der Fünf­zehnjährige hoffnungslos nach einem außerfamiliären Mädchen verzehrte, und er wußte, daß die Fieberqualen eines begehrlich brennenden Körpers nicht nur die männliche Regierungsfähigkeit eines gottgleichen Diktators, sondern sogar die kleinwüchsige Gärtnereibegabung eines loyalen Knechtes zu bedrohen vermoch­ten – er wußte es seit jenem strahlenden Julitag vor einem ge­viertelten Jahrtausend, da er der aufgetakelten, gezierten orientalischen Blütenbeauties seiner Parkanlagen, die mit ih­rer leuchtenden Tünche alles farbenempfindliche Leben Europas zu betören begehrten, überdrüssig geworden war, seit jenem Tag, da er traurig, heimatlos, lebensmüde durch die gärtner- und blumenleeren Randbiotope seines vergrünten Universums ge­trottelt war und sich schließlich in eine Kornblume verliebt hatte, in eine ungeschminkte, natürliche, empfindsame Kornblu­me. Fernab von aller aufdringlichen Glitzerpracht, ertrug das verlassene Ackergeschöpf in einem ungepflegten, schattigen Winkel demütig sein einsames Dasein, um die trübe Welt mit sei­ner zart schimmernden Köpfchenpracht schüchtern zu veredeln. So verbrachte Bonsai die letzten Sommerwochen dieses ersaufen­den Jahres glücklich im Staub neben seiner entzückten Gelieb­ten, mit zärtlichen Worten sein unmögliches Leben berichtend, und während der endlosen Einsamkeit der folgenden Wintermonate schmückte der Kavalier die Heimat seiner weggeeisten Korn-Kon­kubine mit frischem Ackerboden und wassergeschliffenen, orna­mentbesprenkelten Flußkieselsteinen, doch als endlich der Frühling in das steinharte Eis des Bodens kroch und den knu­sprigen Greis zu jubelndem Warten auf die ersten Triebe seiner Geliebten zwang, mußte Bonsai verzweifelt gewahren, daß sich kein einziger grüner

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Sproß schmachtend durch den getauten Ackerboden zwängte, daß kein wonniges Mädchen zwischen den lie­bevoll arrangierten Kieselsteinen erschien, und mit jedem ein­samen Tag wuchs eine unheilvolle Verzweiflung wie Wundbrand der Seele seine frierende Bauchschlagader empor, und das trau­rige Frühjahr verstrich in ungeschauter Sonnenpracht. Erst im Juli, ein Jahr nach der Vermählung, erhellte im rotglühenden Spiegel seiner schmerzlichen Reflexionen eine feuerheiße Er­kenntnis die abgründige Finsternis seiner Ungewißheit, die Erkenntnis nämlich, daß sein liebes, einsames, zärtliches, himmelblau-purpurnes Ackermädchen für alle schminkeübertuschten Zeiten verborgen bleiben sollte unter dem im Wechsel der Jahre verfaulenden Kornfelderboden, denn – siedendheiß entsann sich Bonsai seiner entsetzlichen Gärtnererfahrung – Kornblumen waren einjährige Gewächse, einjährig und verdammt zum ewigen Tod im frostbewirtenden November! Ein halbes Jahrhundert benö­tigte der sequoienalte Bonsai, um zwischen den aufgetakelten, gezierten orientalischen Blütenbeauties seiner Parkanlagen abermals eine Heimat emporzujähten.

Nun denn: Hände und Augen der lehrenden Süditalienerin wünsch­te Bonsai seinem blinden fünfzehnjährigen Erbfolgepatienten. Das dunkle Mädchen landete im erbarmungswürdigen Zustand to­dessüchtiger Verzweiflung mit einem hämmernden Polizeiheli­kopter im waffenstarrenden Hofgarten neben der metallisch-glä­sernen Staatskanzlei, wurde ohne knechteteure Verzögerung ih­rer selbsterwählten Lebensaufgabe höflich vor- und bestimmt zur Verfügung gestellt und richtete fortab, bis zu ihrem al­tersschwachen Tod im greisen Alter von siebenundvierzig Jah­ren, alle bonsaiähnlichen Neugeborenen, die elternlos und un­zivilisiert irgendwelche Münchener Dachrinnen emporzuklettern versuchten, zu formen- und denkfreien loyalen Dauthendey-Knechten ab, womit sie der europäischen Herrscherfamilie das menschenmangelmahlende elfjährige Warten auf die uneinge­schränkte Arbeitsfähigkeit der Weisenkinder und das ärgerliche Töten tränentriefender Retterfamilien ebenso wie die haar­sträubende Gefahr ersparte, mit in elf Jahren Rettermitleid erzogenen Menschenkindern eine selbständige, folglich subver­sive Geistestätigkeit in ihren gläsernmetallischgoldgrünbun­ten Pavillonschloßblumenstaatskanzleisperrbereich einzu­schleusen.

Kamerascharf musterte Bonsai die junge Süditalienerin mit sei­nen rindenverwachsenen Äugelein, um den sehenden Ohren seines blinden Erbfolgepatienten jede duftende Pore ihrer Gestalt sequoienplastisch beschreiben zu können, und der fünfzehnjäh­rige Sehnsucht-Wolfram begehrte die gesichtslose Erzieherin männermächtig in seinen lichten

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Tagstundenträumen, die härteproblemefrei jede erregende Perversion mit einer noch erregen­deren Perversion belohnten, doch sobald Wolfram die dunkle Ge­spielin seiner Finsternis porenduftend in seine verbotene Nähe dringen spürte, erlosch in seinem Inneren jede glimmende Feu­erspur des Verlangens, so daß sich Wolfram auch weiterhin hoff­nungslos nach einem außerfamiliären Mädchen verzehrte. Und wie porendetailliert der lichtlose Wolfram sich den mediterranen Körper seiner Süditalienerin auch einzuphantasieren vermochte: Das Gesicht seiner ungreifbaren Geliebten tauchte niemals un­ter der vulkanhohen Lavamasse der Finsternis hervor, und es muß­ten noch einige peinvolle Jahre der Mädchenlosigkeit vertropfen, bis Wolfram erstmalig das plastische Antlitz eines Men­schen vor seinem verborgenen inneren Auge wundersam bewundern sollte.

Der äonenalte Cheftherapeut Bonsai verschrieb sich zwölf Mo­nate lang dem aussichtslosen Unterfangen, Wolfram von Dauthendey von seinen hände- und augenlosen Träumen in die greifbare Frauen-Wirklichkeit zu überführen. Schließlich gab er auf und begann, seine vernachlässigte Pygmäen-Phantasie mit kornblu­menfreundlichem Ackerboden zu marinieren.

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3

Thomas Brook.

Der brillante, genialische englische Romancier hielt sich am ersten Juni, dem Tag der Entführung des brasilianischen Thron­folgers, in einem Versteck in Südfrankreich auf. Bereits seit nahezu zweieinhalb Jahren befand er sich damals auf der Suche nach seinem Leben, seit nahezu zweieinhalb Jahren existierte sein Dasein nur noch als Metamorphose einer endlosen Flucht, der er gezwungenermaßen, aber auch in der sehnsüchtigen Hoff­nung folgte, sie, die unsterbliche Flucht, könnte ihn eines Tages doch noch zurück zu seinem Leben führen. Wer weiß? Nun, Thomas Brook, neunundzwanzigjährig, saß im azurblauen Süden der Provence, im Keller einer Hafengaststätte, der ihm schon vor Monaten als Hauptunter­kunft zu Verfügung gestellt worden war, und hatte keine Ahnung, daß die Späher der Dauthendeys ihn seit eineinhalb Wochen unun­terbrochen observierten.

„Gottfried“, sagte Christoph von Dauthendey zu seinem Bruder, als er von der überraschenden Entführung Carlos César de Cobo Bordas Kunde erhalten hatte. „Du hast Brook gefunden. Jetzt veranlasse seine Exekution!“

Thomas Brook war es gelungen, das kleine Kellerzimmer, das ihm der Wirt mit einer stolzen Geste der Großherzigkeit angeboten hatte, derart einladend und liebenswürdig auszugestalten, daß daraus eine neue, unverbrauchte Mutation der Hoffnung erwach­sen war, die Hoffnung nämlich, sein Leben könnte sich von der unterirdischen Gemütlichkeit angezogen fühlen, könnte den Weg in das träge, mediterrane Provence-Nest finden und sich wieder mit ihm versöhnen. Und tatsächlich: Aus der robusten Einsam­keit in diesem südfranzösischen Hafenkeller erstanden Momente, wunderbar und beglückend, Momente, von einem himmlisch sanften Wind leise durch das geöffnete Kellerfenster gehaucht, die erhaben und würdevoll wirkten wie Boten des verschollenen Le­bens. Dann saß Thomas Brook in dem kastanienbraunen Lederses­sel, der dem Privatkontor des gebenden Wirtes entstammte, im Mund den tristen Rauch einer französischen Zigarette, in der Hand einen warmen Cognac-Schwenker, und atmete den Duft und die Geräusche der lenzenden Hafennacht, die ihm durch das gähnende Kellerfenster entgegentröpfelten, dann saß er so bis spät in die Nacht, durchflossen von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, von der Überzeugung, sein Leben sei schon da, es sei hier neben ihm und er brauche ihm nur seine Seele zu öffnen, durch­flossen von einem Gefühl, das ihm die Tränen

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über das Gesicht trieb, heiße Tränen, die aus seiner Brust nach oben kochten, dann saß er da bis spät in die Nacht, ungesehener Beobachter der Welt, der in seinem kleinen Kellerverlies die Hafenspazierer zu belauschen vermochte, und wähnte sich stark, lebens­kräftig, unbesiegbar und glücklich. Doch am nächsten Morgen erwachte er dann aufgedunsen von einem eigenartigen Kater, der nicht auf den warmen Cognac-Schwenkern beruhte, sondern auf den Glücksströmen, die in berauschenden Mengen seine Adern durchwässert hatten, während der Nacht zu klumpigen Ablagerun­gen vertrocknet waren und ihm nun den salzigen Frühlingsmorgen verdarben: Er fühlte sich taub, seine Augen lagen tief in einem aufgeblähten Gesicht, feucht und verklebt, in seiner rechten Stirnseite fraß ein glühender Schmerz und jede Bewegung verur­sachte ihm einen beunruhigenden Schwindel, der sich jeder Zel­le seines Körpers bemächtigte. Dann wußte er, es waren Traumge­spinste gewesen, hinterhältige Schimären, erweckt von der trü­gerischen Tatenkraft des provenzalischen Frühlings, und sein Leben war fern wie zuvor.

In jener Nacht, der Nacht vom ersten auf den zweiten Juni, wäh­rend João Ignácio de Cobo Borda, viele atlantische Seemeilen und Universen des Bewußtseins entfernt, im Zorn über die Ent­führung seines Bruders und den ersten Bombenanschlag in Bahia die Familienkriegs-Maschinerie anzuwerfen befahl, in jener Nacht tigerte Thomas Brook aufgewühlt durch seinen Kellerkä­fig. Sein Schicksal lag urknallplötzlich – ohne sein Wissen und ohne sein Einverständnis – in den schmierigen, unberechen­bar-zittrigen Händen der Weltpolitik, und in der greisen Staatskanzlei zu München weigerten sich die schneidigen Worte Christoph von Dauthendeys seit Stunden zu verhallen: „Gott­fried: Du hast Brook gefunden. Jetzt veranlasse seine Exekuti­on!“

Thomas Brook stand an seinem Fenster und starrte durch den Lichtschacht und den Gitterrost auf den kristallklaren Ster­nenhimmel, der sich in einer weiten Sichel über die provenzalische Mittelmeerküste bog. Zärtlich drang aus einer nahen Knei­pe fröhliche Musik über den steinernen Port, irgendwo platsch­te einige Male das Hafenwasser auf – vielleicht warf jemand Steine zwischen die geankerten Fischerboote – und oben in der Gaststätte des stolzen, großherzigen Wirtes schwirrten die al­koholisierten Stimmen und klapperte das Besteck auf den Tel­lern. Es roch nach Fisch oder nach schmutzigem Wasser. Thomas Brook betrachtete mit flauem Kopf sein Kellerverlies – den Allzweck-Schrank, der in seiner Niedlichkeit nahezu die gesam­te Wandfläche in ihrer noch größeren Niedlichkeit einnahm; den antiken, hochbeinigen Sekretär aus dunklem Holz mit den vier Schubladen, auf dem sich ein persönliches Chaos aus Papieren und

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Buchstaben gruppierte; der kastanienbraune Ledersessel hinter dem niedrigen, goldumrandeten Glastisch; der Barschrank mit den vielen Flaschen und dem surrenden Kühlaggregat; das schmale Bett in der Ecke; der zwei Meter hohe, goldglänzende Deckenfluter; die klapprige Kellertür, die auf den Gang hinaus führte, der den Weg ins Bad, ins Privatkontor des Wirtes, in die Vorratsräume und über die Treppe hinauf in den hinteren Bereich der Gaststätte eröffnete; das kleine, zweiflüglige Kellerfenster mit dem schmierig-verdreckten Lichtschacht, in dem sich die Insekten und Spinnen tummelten, sowie dem begehba­ren Gitter oben auf dem Hafenkai –, Thomas Brook betrachtete sein Kellerverlies und fühlte eine melancholische Dankbarkeit in seinem Innern keimen, eine weiche Dankbarkeit gegenüber seinen unzivilisierten Helfern, die ihm diese möblierte Unter­kunft aufgetan hatten, nachdem er zwei Jahre lang nackt durch ganz Europa gekrabbelt war, die ihm die angstschwere Last der besitzlosen Flüchterei vor den brandschatzenden Dauthendey-Hä­schern durch ihre kulturlose Freundschaft erleichtert hatten. Er hätte es kaum geschafft ohne seine wechselnden unzivili­sierten Freunde und auch nicht ohne die zivilisierte Unter­stützung aus Brasilien. Viermal schon hatte ihm der brasilia­nische Geheimdienst angedeutet, daß die dauthendeyschen Späher seinen Aufenthaltsort erschnüffelt hatten, viermal hatte ihn der brasilianische Geheimdienst wieder in die Unsichtbarkeit geschleust, und eines Tages – vor über einem Jahr – war Ernesto de Cobo Borda in einer südspanischen Höhle erschienen wie die Inkarnation eines guten Dämons, hatte sich mehrere Stunden mit ihm unterhalten und auf die Frage, warum die brasilianische Regierung ihren schreibenden Schützling nicht nach Südamerika ausfliege, beschämt, traurig und beunruhigt geantwortet, daß er, Ernesto de Cobo Borda, seinen mächtigen Vater auf diese Möglichkeit zwar aufmerksam gemacht habe, dieser aber davon nichts habe wissen wollen – aus welchen hochpolitischen Gründen auch immer. So sollte seine Reise durch die Unexistenz wohl niemals enden. Niemals.

Thomas Brook tigerte die halbe Nacht durch seinen Kellerkä­fig. Hin und wieder setzte er sich an den Schreibtisch und be­sah seine jüngsten Sätze, fühlte sich aber nicht imstande, bei ihnen zu verweilen, so daß er sich schnell wieder erhob und fortfuhr, seinen Körper durch das Zimmer und seinen Geist durch die Welt zu schicken. Er trank viel in dieser Nacht, und der morgige Kater würde diesmal wohl doch von den Cognac-Schwen­kern herrühren. Um 3.15 Uhr – die fröhliche Musik, die alkoho­lisierten Stimmen und das Klappern des Besteckes waren längst erloschen – meinte er sich

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von bleischwerer Müdigkeit umzin­gelt. Er warf sich auf sein Bett, löschte das Licht und starrte eigenartig nervös in die Finsternis seines Gefängnisses.

Seine Gedanken wollten sich nicht beruhigen, sie kreisten wild um irgendeinen Mittelpunkt, um einen Mittelpunkt, dessen Iden­tität in dem kaleidoskopischen Tohuwabohu der Geistesimpulse vollkommen unsichtbar blieb. Thomas Brook erschrak. Was war das für ein Mittelpunkt? Wo kam er her? Was besagte er? Wie war es möglich, daß er den Ursprung seiner psychischen Erregung so deutlich spürte, ihn aber dennoch nicht kannte, ihn nicht be­nennen, nicht besehen konnte? Was ging da vor? Was geschah mit ihm?

Waren da wieder jene pestschwarzen Schatten, die – seit er hof­fend in diesem gastfreundlichen Kellergemach lagerte – biswei­len wie Brüder der paranoiden Schizophrenie über seine blauge­frorene Seele zogen? War da wieder seine kindheitsalte blu­tige Untat? War da wieder seine Geschichte, die ihn in den Mi­krowellenherd der Erinnerungen bannte? War da wieder seine emporflammende Vergangenheit, die ihn folterte wie der perver­se calvinische Scheiterhaufen den wilden Servet, die ihn fol­terte, seit er in jenem dunklen, provenzalischen Maulwurf-Verlies der unmittelbaren, nanosekundenfressenden Lebensgefahr entronnen war? Einst – als er noch bei seinen üblen Eltern im fernen britischen Cornwall durch die feuchte Luft eines atlan­tischen Moordorfes gedümpelt war –, einst hatte er durch ein einziges hochrotes Kopfnicken Hunderten unschuldiger Menschen den Tod zu gewähren gewagt, und dieses nie wieder löschbare Verbrechen kochte in den einsamen, luftleeren Stunden der Ein­tönigkeit, die tagein tagaus über den blauen südfranzösischen Mittelmeerhimmel zogen, in seiner verlassenen Seele empor wie ein vom Wind angefachter Dornbuschbrand.

Thomas Brook grübelte noch eine Weile und wurde schließlich von seiner körperlichen Erschöpfung übermannt. Das kaleidoskopi­sche Tohuwabohu seines Geistes mündete eben in die ersten gro­tesken Traumbilder, das Gelaß mit seiner lebensfreundlichen Möblierung transzendierte verschwommen und flimmernd in laute, sattfarbene Schlafvisionen – da knarrte plötzlich die Türe auf und riß Thomas Brook aus seinen üblen Traumanfängen. Ein wider­hakender Schreck raste stechend in seine Brust. Verstopfte ihm den Hals. Kappte seine Adern. Die Schatten dreier Männer dran­gen in den Raum. Thomas Brook fuchtelte um sich. Doch da blitz­te schon das Licht und biß feuerheiß in seine Augen. Nichts geschah. Und als Thomas Brook wieder sehen konnte, erkannte er in den drei Männern Mitarbeiter des

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brasilianischen Geheim­dienstes. Der schnurrbärtige Riese, der direkt neben seinem schmalen Bett stand, war der Chef des nämlichen in Europa. Pedro Magri.

„Gosh!“ stöhnte Brook und schloß schweißgebadet seine schmerz­pochenden Augen. Er richtete sich auf, drehte den Männern sein bleiches, eingefallenes Gesicht zu und sagte in wortgewandtem Brasilianisch: „Habt ihr mich erschreckt! Muß denn das so kli­scheehaft geheimdienstlich ablaufen? Ihr könnt doch auch nor­mal hier hereinkommen, anklopfen und so weiter. Das hält man ja im Kopf nicht aus!“ Und mit diesen energischen Worten wollte er sich schwungvoll erheben, was sich indes sein alkoholge­schwächter Kreislauf dringend verbat, indem er Brook mit einem schwarzen Schwindel wieder zurück auf das Bett nötigte.
„Es ist nicht die Zeit für solche Höflichkeiten“, sagte Magri und half dem Romancier beim Aufstehen. „Es ist ernst! Dauthendey hat Carlos Cobo Borda entführen lassen und einen Terroran­schlag in Brasilien verübt. Der brasilianische Präsident trifft Kriegsvorbereitungen und hat mich angewiesen, Herrn Thomas Brook nach Sizilien zu geleiten.“
Brook erstarrte. „Kriegsvorbereitungen?“ stammelte er. „Meine Güte! Und was mache ich dabei in Sizilien?“
„Dort erwartet Sie ein Schiff, das Sie nach Bizerte bringen wird. Von Bizerte aus werden Sie schließlich nach Brasilien ge­flogen. Ziehen Sie sich jetzt an und packen Sie das Nötigste ein!“
„Wo liegt Bizerte?“ fragte Thomas Brook, während er ungelenk in seine Kleidung schlüpfte, die er vor fünfzig Minuten umnachtet auf den kastanienbraunen Ledersessel geworfen hatte. Es war fünf Minuten nach vier Uhr. „Und was passiert mit meinen Arbei­ten hier?“
„Um die können wir uns jetzt nicht kümmern, und Sie dürfen jetzt auch nur das Allernötigste mitnehmen. Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden. Wir vermuten, daß ein Terrortrupp von Dauthendey hier Feuer legen will. Vielleicht sind wir ihnen nur um wenige Minuten zuvorgekommen.“ Pedro Magri blickte bei diesen schauerlichen Worten unbeteiligt zum Fenster hinüber. „Bizerte liegt an der Nordküste Tunesiens.“

Thomas Brook schüttelte sich und sagte nichts mehr.

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VIERTER TEIL

Der Mord an Confluência

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3

In jenen unheilvollen Julizeiten, da München, Fordlândia und Confluência seinem Schicksal die Sporen gaben, verlor der große Romancier Thomas Brook seine todgeborenen Tage an der sonnenzerstaubten Westküste Siziliens, indem er ungläubig auf das leere Meer starrte, das ihn rauschend vom rettenden Norden Tunesiens schied. Die nächste Ortschaft lag fern hinter ir­gendwelchen getrockneten Hügeln verborgen, und sein Heim er­schöpfte sich in einem kleinen militärischen Zelt, dessen Stofftür einen hoffnungsvollen Blick auf die zynische Gleich­mütigkeit des Wassers ermöglichte. Hier, in dieser verfluchten Oase des Gestrüpps, auf dieser Anhöhe der Zwergpalmen und Fei­genkakteen, hatte ihn der brasilianische Geheimdienst vor über einem Monat ausgesetzt, denn hier sollte ihn das versprochene Schiff nach Bizerte erreichen, das Schiff, das niemals kam. Der Romancier wartete, arbeitete an irgendwelchen Wörtern, folter­te sich mit seiner Vergangenheit, kämpfte gegen mancherlei Unpäßlichkeiten, die sich bald als Kuriere der Hepatitis enttar­nen sollten, rammte bisweilen seinen Kopf vor Wut gegen einen geeigneten Johannisbrotbaum oder beschimpfte den armen Pedro Magri, der ab und zu bei seinem Schützling erschien, um ent­täuscht und machtlos mit den südamerikanischen Schultern zu zucken.

Ein trauriger Sommer plärrte auf die veraschte Erde Siziliens hinab. Der generationenalte Frieden auf der vereinigten Erde war dahin, zwei degenerierte Familienpatriarchen hatten ihn beim Fingerhakeln vom Tisch geschubst, und warum sollte sich gerade er, der pechverhärmte Romancier, in diesem apokalypti­schen Sommer der Todeswinde auf einige ferne Freunde verlassen können, denen er mit seiner hochnotpeinlichen Literatur Wort für Wort die Zukunft stahl? Nein, die irdischen Kontinente bedienten sich der transatlantischen Meeresströmungen, um sich gegenseitig mit ihren politischen und menschlichen Abwässern zu verseuchen, während er auf einer ankerlosen Insel im Ozean trieb und gebannt auf das ätzende Blubbern der Gifte starrte, das gierig an den weichen Ufern seines Eilands fraß.

Der neunundzwanzigjährige Thomas Brook saß in seinem schattengeschützten Wigwam, unmittelbar vor dem aufgeklappten Einstieg, starrte müde auf das unabänderliche Meer und beruhigte sich mit einer Konservendose gekochter Fleischlegierung, die noch be­stialischer stank als das anarchische Mülloch oben auf dem Hügel, dessen unvorstellba-

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rer Odem mit den Winden um die Welt wanderte und bisweilen fröhlich zur Küste herabgrüßte wie die jahrmilliardenalte Latrine des Teufels. An manchen Tagen, wenn der Wind mal wieder Rächer der Dauthendeys spielte, waberte ein derartiger Fäulnishauch von dieser Halde der Unzivilisation herab, daß Thomas Brook es vorzog, in seinem verrammelten Zelt den Hitzetod zu sterben, als sich auch nur den Bruchteil eines Atemzugs in die mediterrane Schönheit zu wagen; selbst die absurde Angst, die Ankunft des literatenkapernden Schiffs am azurblauen Horizont zu verpassen, die ihn manche Nächte am Strand durchwachen ließ – stehend, die Stirn dem Horizont ent­gegengereckt, das Hemd in der Hand wie ein Schiffbrüchiger, der seinen Rettern winkt, die Füße umleckt von den nachtschwarzen Wellen –, selbst diese beißende Angst konnte ihn an solch pestilenzialischen Tagen nicht dazu veranlassen, sein Zelt auf­zuknöpfen, um das höhnische Lachen des leeren Ozeans zu erwi­dern. Lieber in der luftlosen Hitze des Militärzeltes das Verfallsdatum der eigenen Gehirnzellen Lügen strafen, als hinaus­treten auf diese verwehte Inselerde der Atmosphärenschwind­sucht, und vielleicht war Thomas Brook an diesen abfallduften­den Tagen in Wahrheit sogar dankbar dafür, daß ihm der Müll zu einer Ausrede verhalf, um sich nicht abermals diesen herrlichen Opuntien- und Agavenhügeln, dieser streichelnden Sonnen­glut und diesem ewiglich leeren Afrikanischen Meer stellen zu müssen, das seine Seele mit einem nagenden Nichts überflutete und dessen sanftes Wellenplätschern brandend seinen Wahnsinn tränkte – beständig wie ein Specht, der unaufhörlich gegen seine Schädeldecke pochte. Ja, tatsächlich: Sizilien schien der Hundekot am Stiefel der Welt. Und Pedro Magri schien der Köter, dem der kleisternde Kot entstammte, obwohl dieser bär­tige Barbar es war, dem Thomas Brook schon tausendmal sein Le­ben verdankte und dem er es ein tausendunderstes Mal verdanken sollte, nachdem die Gelbsucht zum Ausbruch gekommen war und sein Dasein der ärztlichen Begabung des brasilianischen Ge­heimdienstes überantwortet hatte. Güte des Geschlechtes! Hätte sich die Welt der Viren und Mikroben nur mit dieser harmlosen Hepatitis begnügt, aber nein: Die vulkanischen Schluchten die­ser Hügelinsel schienen alle Seuchen der dahingerafften Menschheit auszuspeien, so daß es noch ein tausendundzweites und auch noch ein tausendunddrittes Mal geben sollte, und die erfahrene medizinische Hilfe, die Thomas Brook dabei zuteil wurde, war wohl geschult am Grauen einer hoffnungslosen Welt, einer Welt der Mitternachtsregenten, fern jeder Zivilisation, doch inmitten eines ganzen Erdteils aus den Eingeweiden des Todes.

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Bleistifte und Papierbögen: Mit diesen geistigen Lebensgrund­lagen verwöhnte Pedro Magri seinen satzsüchtigen Schutzbefohlenen bei jedem schulterzuckenden Besuch im Übermaß, denn selbst die sizilianischen Winde hatten bemerkt, daß der große Romancier gegen jeden Mülldunst gewappnet war, sobald er dich­tete, so daß sie im Angesicht von Papier und Stift jedesmal vor dem Versuch, den verhaßten Schreiberling mit den Ausdünstungen der Unzivilisation zu vergiften, resignierten. Hunderte von Seiten stülpte Thomas Brook in den ersten sizilianischen Wo­chen aus seiner gemarterten Gehirnschale, und all die verbalen Symphonien, die er bereits in seinem wonnigen südfranzösischen Kellerversteck komponiert hatte, entwarf er hier, auf Sizi­lien, der Endstation Europas, neu, besser, komplexer, virtuo­ser. Damals, in der Nacht vom ersten auf den zweiten Juni, als Pedro Magri ihn mit seinen gnadenlosen dreißig Sekunden dem heimgewordenen Gelaß entriß, damals zögerte Thomas Brook fünf Augenblicke, in denen er abwog, ob er Magri zwingen sollte, seine schriftlichen Aufzeichnungen vor den dauthendeyschen Mordbrennern zu erretten; fünf Augenblicke, die ihn an die Schmerzen und Zweifel gemahnten, die der Unvollkommenheit sei­ner provenzalischen Dichtereien entsprungen waren; fünf Augen­blicke, die ihn davon überzeugten, daß es fruchtbarer sei, diese geistigen Welten in einer besseren Zeit neu zu erschaf­fen. Monatelange, zermürbende Arbeit verkohlte in dieser Nacht neben dem großherzigen Wirt in den gatzenden Flammen der Dikta­torenwillkür. Und nun erschuf der sizilianische Thomas Brook diese geistigen Welten tatsächlich neu, aber nicht in einer besseren Zeit, sondern in einer schlechteren, und dennoch klangen die Akkorde seiner Kompositionen in dieser grauenver­liebten kargen Oase des Gestrüpps zu unerreichten Harmonien zusammen, die den Romancier vor Entsetzen erschauern ließen bei der Vorstellung, seine fünf Augenblicke hätten sich in der Nacht des Feuers anders entschieden.

Als Ernesto de Cobo Borda am vierzehnten Juli den großen Roman­cier den beiden patriarchalischen Oberhäuptern seiner Familie vorzog, hatte dieser das Vertrauen in seine brasilianischen Freunde bereits dem Schirokko übergeben. Bizerte lag an der Nordküste Tunesiens, und zwischen Sizilien und der Nordküste Tunesiens schwappte eine tödliche Suppe aus Salz und Seege­tier. Der Juli war ein Monat trockenster Hitze.

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FÜNFTER TEIL

Der große Romancier

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*

Welche der vier absurden Figuren aus Thomas Brooks sizilianischen Untergrundaufzeichnungen wählt jenen schmalen, schroffen Weg, der das ersehnte Ziel besitzt? Etwa der Dichter, der sich – von seiner Vergangenheit auf den Scheiterhaufen gebannt – seiner blutigen Untaten derart plastisch, derart ausufernd besinnt, der derart tief in seine qualvollen, pulsend emporintervallenden Schmerzen taucht, derart selbsthassend seine Schuld in seine Seele saugt und sich derart selbstbelügend in die Überzeugung frißt, jenes unvorstellbare Leid, das er als Diktatorenopfer auf sich zieht, sei die Strafe für seine ver­gangenen Untaten, der mithin all seine fürchterlichen Schmer­zen derart einverstanden genießt, daß er eines ruhevollen Ta­ges tatsächlich gebüßt zu haben scheint, seine Erinnerungen ausgeweidet findet und fassungslos gewahren darf, daß er die blutigen Untaten seiner gedankenlosen Frühzeit in sein verschmortes Gedächtnis rufen kann, ohne unter vernichtenden Schmerzen zu vergehen, und daß er sich seiner früheren Opfer, wegen derer er brannte, nur noch auf eine achselzuckend-behag­liche Weise entsinnen kann, auf jene Weise nämlich, in der sich ein Enkel der erzählten Zeitgenossen seines Großvaters ent­sinnt? Darf der Dichter das alles dann als eine bewältigte Zeit etikettieren? Ist es dies, was die schlagwortsüchtige Mensch­heit unter dem schlaffen Wort Vergangenheitsbewältigung ver­steht: Wenn man seine Erinnerungen betrachtet wie die Urlaubs­fotos eines entfernten Bekannten? Heißt bewältigen vergessen? Möglichkeit Dichter?

Zwei Jahre – es waren entzundene, eiternde Jahre, Jahre, deren Stunden und Tage in einem brennenden Wind aus menschlichen Le­bensresten zu zementierter Asche erstarrten –, zwei Jahre er­schöpfte sich Thomas Brooks wortreiches Leben im frierenden Krabbeln durch das Todeslager der europäischen Unzivilisation. Thomas Brook meinte sich nackt wie ein gehäutetes Mandarinenstückchen, und sein einziger Schutz war die verborgen zi­schelnde Mitternachtszunge des allgeheimen Pedro Magri, der von den brasilianischen Cobo Bordas zum loyalen Knecht eines aussätzigen

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Moordorfexoten degradiert worden war, und dem der brillante, genialische englische Romancier zwei Jahre lang – geschlagen mit wachgedichteten Sinnen – durch die anarchisch verheerten Bundesstaaten der Hölle folgte: von England nach Frankreich – als halbblinder Passagier auf einem Mülltransporter über den verständnisvollen Ärmelkanal –, von Frankreich nach Deutschland, von Deutschland nach Dänemark, von Dänemark nach Deutschland, von Deutschland nach Benelux, von Benelux nach Frankreich, von Frankreich nach Spanien, von Spanien in die Provence, um endlich, an der provenzalischen Mittelmeerkü­ste, vier Monate vor der Entführung des Gouverneurs, auf jenen gebenden Wirt zu stoßen, der dem überragenden britischen Flüchter mit einer stolzen französischen Geste der Großherzig­keit ein kleines Kellerzimmer seiner schnuckeligen Hafenkneipe als lebensnahe Bleibe zur hoffenden Verfügung stellte. Kaum lagerte Thomas Brook in seinem gemütlichen Verlies, kaum hatte er die wenigen ungenützten Möbel des Wirtes derart einladend und liebenswürdig in seiner engen Heimat gruppiert, daß daraus eine neue, unverbrauchte Mutation der Hoffnung erwachsen war, kaum hatte er begonnen, seine zweijährigen unzivilisierten Erfahrungen auf endlosen Papierbögen zu zivilisieren, da brach schwachsinnsplötzlich seine kindheitsalte blutige Untat aus seiner Seele hervor und bannte ihn in den Mikrowellenherd der Erinnerungen.

Es geschah an einem traurigen Tag, als er gerade einen der töd­lichsten Augenblicke der zweijährigen Unzivilisation in unzu­längliche Worthülsen goß: Er erzählte einen Mann, der inmitten des undenkbarsten Grauens – eines Grauens, das den Mann so vol­lendet umgibt wie einen Schiffbrüchigen auf dem Atlantischen Ozean die feindliche Wellenwelt –, der inmitten dieses uferlo­sen, unüberwindbaren, verschlingenden Grauens, in dem jeder jeden ausweidet, um die Gnade zu erhaschen, das Sterben einen weiteren Tag erleben zu müssen, der inmitten dieser höllisch­sten aller höllischen Höllen auf einem angefressenen Baum­stumpf seinen letzten Platz einnimmt, um sich mit einer hand­großen Glasscherbe die eigene Bauchdecke aufzuritzen, seine Eingeweide herauszuziehen und sich selbst zu verspeisen, bis der Tod ihm das Essen verbietet, und der sich dieses jüngste Mahl, wohlgemerkt, nicht deshalb antut, weil er dem ozeani­schen Grauen Europas zu entrinnen begehrt, sondern einzig und allein, weil er die Martern seiner Erinnerung nicht länger zu ertragen vermag, die Rache seiner Vergangenheit, die ihn zwingt, sich selbst zu betrachten, wie er vor einigen Jahren einen fremden Säugling kannibalisch verspeiste, bei dessen überlebenden Vater er nun unerkannt als unzivilisierter Freund und Leidensgenosse Aufnahme gefunden hat. Thomas Brook erzähl­te die rasenden Qualen der

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Erinnerung, erzählte die unlöschba­re Schuld auf ihrer Suche nach Bestrafung, fühlte eine wunder­same Unruhe in seinem Inneren sprießen, entsann sich seines hochroten Kopfnickens in einer moorigen Winternacht, explo­dierte unter einem wahnwitzigen Schmerz, der seine Adern zer­fetzte, geiferte minutenlang in einer heftigen Attacke des Irrsinns blökend wie ein brünftiger Schafbock durch den fas­sungslosen Hafenkeller, wodurch er die schlingende und kippen­de Gästeschaft im alkoholisierten Erdgeschoß verängstigt aus der Kneipe trieb, und benötigte zwei Tage, um sich vermöge der nachsichtigen Hilfe des Wirtes in eine menschenähnliche Ver­fassung zurückzuberuhigen.

Was war geschehen? Der große Romancier hatte von den Martern der Erinnerung gesprochen, und plötzlich waren diese Martern der Erinnerung wie eine Legion Springspinnen über seine eigene fintenreiche Schaumgummi-Seele hergefallen. Doch war es wirk­lich nur und ausschließlich und schlicht die Geißel der Erinne­rung, die den Romancier zu foltern begonnen hatte? Ist es mög­lich, daß man nach einem zweijährigen Slumleben, verfolgt von Kopfgeldjägern, bedroht von allen nur erdenklichen Metamorpho­sen des Todes, abgewiesen und verleumdet als Katastrophenmag­net von vielen kleinherzigen Wirten, ist es möglich, daß man sich in dieser vertrackten Lage eines dreizehn Jahre alten Nachmittages besinnt, an dem man in pubertärer Vernebelung den Tod von neunzig Verlorenen kopfnickend billigte, einen Maschi­nengewehrtod, den man ohnehin – auch kopfschüttelnd – nicht zu verhindern imstande gewesen wäre? Ist es möglich, daß eine solch vernachlässigbare Schuld nach dreizehn verborgenen Jah­ren schwachsinnsplötzlich hervorbricht, um eine gerechte Be­strafung einzufordern? Oder ließ sich Thomas Brook hier von seiner fintenreichen Seele übertölpeln?

Nun: Während der folgenden Tage zogen die pestschwarzen Schat­ten seiner Vergangenheit wie Brüder – Schwestern? – der paranoiden Schizophrenie über seine blaugefrorene Seele, und biswei­len mischten sich unter seine unzivilisierten cornischen Opfer reliefartige Portraits von Lady Romaine Gilmore, die im heim­tückischen Verbund mit seinem hochroten Kopfnicken sinnes­raubende Qualen im stereophonen Zweikanalton erzeugten. Thomas Brook gedachte seiner wirklichkeitsgespeisten Schriften, und entschloß sich im folterentstellten Angesicht des gedärmespei­senden Mannes, seine wiedergekäute Moorvergangenheit zu bewäl­tigen, womit er unverzüglich begann, indem er sich seinen radioaktiven Erinnerungen todesmutig stellte: Der große Roman­cier – von seiner Vergangenheit auf den Scheiterhaufen (oder moderner: in den Mikrowellenherd) gebannt – besann sich seiner blutigen Untat derart plastisch, derart

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ausufernd, tauchte derart tief in seine qualvollen, pulsend emporintervallenden Schmerzen und saugte derart selbsthassend seine Schuld in sei­ne Seele, daß sich seine alte – ja: geringe, weil pubertär ver­nebelte – Untat in seinem Empfinden zu einem gigantischen Ver­brechen aufplusterte, das zu bewältigen den Erinnernden schmerzvoller folterte, als ein jahrelanges Leben in der Unzi­vilisation einen zivilisierten Privilegierten.

Eines Abends lag Thomas Brook auf dem schmalen Bett, das schlafgebietend in einer feuchten Ecke seines Kellerzimmers kauerte, und grillte sich jede Sekunde jenes alten, pubertären Moorverhängnisses wie ein Brandzeichen in seine Seele. Er hat­te das Licht gelöscht, seine enge Heimat schlief schemenhaft in einer schwarz-schraffierten Finsternis, und durch das geöffne­te Kellerfenster gab sich der verfrühte Frühling in einer lauen Februarnacht zu erkennen: Zärtlich drang aus einer nahen Knei­pe fröhliche Musik über den steinernen Port, irgendwo platsch­te einige Male das Hafenwasser auf – vielleicht warf jemand Steine zwischen die geankerten Fischerboote – und oben in der Gaststätte des stolzen, großherzigen Wirtes schwirrten die alkoholisierten Stimmen und klapperte das Besteck auf den Tel­lern. Es roch nach Fisch oder nach schmutzigem Wasser. Thomas Brook fühlte den Irrsinn der vergangenen zwei Jahre in seiner blaugefrorenen Seele an die rauhe Oberfläche kochen, fühlte die Sinnlosigkeit all seiner unzivilisierten Qualen, doch in einem atemberaubenden Schmerz, der ihn an die erfüllten Jahre seiner tausendzweihundert Seiten starken, dreibändigen Epochenarbeit gemahnte, gab ihm seine zürnende Seele zu verstehen, daß sie diesem tödlichen Gedanken unter keinen Umständen standzuhalten gedachte, womit sie ihrem großen Romancier die einzige wir­kungsvolle Waffe gegen sein kindheitsaltes, blutiges Verhäng­nis aus der verfluchten Erinnerung schlug. Und so sah er denn abermals die drei ungleichen Provinzchefs – den General, den Bürgermeister und dessen fünfzehnjährigen Sohn – am Fenster des hauptquartierbesetzten Hauses kleben und ein graues Men­schenbündel beobachten, wie es lautlos über die pulvrige Schneedecke schlurft, die Straße, vom Moor geschickt, in ihrer ganzen Breite mit müden Frostgestalten füllt – und der aufar­beitende Thomas Brook vervollkommnete die Schmerzen, die jede Regung der Provinzchefs und jede Regung der Frostgestalten seiner Seele bescherte, indem er die ewigen Sekunden des be­schworenen Geschehens mit dem bevorstehenden Ende dieses ge­strandeten Menschenbündels schemenhaft überblendete. Er sah, wie das graue Menschenbündel – es war noch immer nicht in sei­nem ganzen Elend am Fenster vorbeigeschlappt – zuckend erschrickt, verwirrt umherblickt, um sogleich flehend nach Fluchtwegen zu suchen und sich schließlich

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gebrochen zu erge­ben – und der aufarbeitende Thomas Brook unterhöhlte die zärt­lich angsterfüllten Augen der Unzivilisierten mit den Maschi­nengewehrsalven, die diese wundervollen, großen, menschlichen Augen wenige Sekunden später erbarmungslos zerfetzen sollten. Er sah den stumpfen Bürgermeister, den kleinen Romancier und den glühenden General hinaus auf die schneebedeckte Straße eilen, und er sah die aus dem Hinterhalt hervorgestürmte Bür­gerwehr, die die Unzivilisierten bereits eingekesselt und zusammengevieht, mit einem Waffenring umzingelt hat, und er sah schreiende Kinder, schluchzende Frauen und schimpfende Männer – und er hörte die kreischenden, dumpf zerplatzenden Maschinengewehrsalven, die diese kulturlosen Franzosen zerreißen sollten, ja, es waren kulturlose Franzosen, genauso wie der gebende Wirt und all die anderen apokalyptischen Wesen, die in den französischen Gebieten ihre verschwindenden Mahlzeiten mit ihm geteilt hatten. Er sah den General lachen und den Arm heben und dem Bürgermeister in die Augen blicken. Er sah den Bürger­meister keine fünfzehn Minuten, sondern nur wenige Sekunden zögern und schließlich schwungvoll in die Januarluft nicken. Er sah den General mit erhobenem Arm schweigend verharren und den Zielpunkt seines hoffnungsfrohen Blickes ändern – und in diesem furchterregenden Augenblick steigerten sich die Schmer­zen des bewältigenden Romanciers wie ein aufquellendes Furunkel, das sich bis in die tiefsten Hautschichten fraß, und der ätzende Eiter zersetzte seine Seele – jene heimatlose Seele, die sich, synchron zum entleibten Leib des todgeweihten Roman­ciers, unter halluzinogenen Fieberqualen in die schwarz­schraffierte Kellerluft bäumte –, und die Welt schien zu verwe­sen. Er sah den fünfzehnjährigen Romancier seine zitternde Starre überwinden und – ängstlich, aber entschieden – die Kopfbewegung seines tumben Vaters hochrot nachnicken. Er sah den General seinen emporgereckten Arm hinabhacken, er hörte ihn seinen maschinenbewaffneten Soldaten ein greises Wort entge­genbrüllen – und nun bricht das Jüngste Feuer der Bürgerwehr bellend über das friedliche Moordorf herein und verstrahlt einen winzigen Teil der Welt mit seiner seelenzersetzenden Schuld.

Thomas Brook stöhnte wie unter der schleichenden Nadelfolter einer todbringenden Schattenseuche, sein Leib pulste schweiß­spritzend auf der schmalen, naßgelittenen Kellermatratze, und die nackte Unzivilisation mutete an wie ein Freudentempel ge­gen diese fleischversengende Flammenmarter der Erinnerung. Als der Romancier seine zu winzigen Platzwunden zerschwollenen Augenhöhlen öffnete, gewahrte er erneut – erwacht aus dem Koma der vergilben-

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den Bilder, die seine geistigen Filmspulen in die linde Meeresluft phantasierten – den verfrühten Frühling, der in Gestalt einer lauen Februarnacht schüchtern durch das ge­öffnete Kellerfenster sang: Zärtlich drang aus einer nahen Kneipe fröhliche Musik über den steinernen Port, irgendwo platschte einige Mal das Hafenwasser auf – vielleicht warf jemand Steine zwischen die geankerten Fischerboote – und oben in der Gaststätte des stolzen, großherzigen Wirtes schwirrten die alkoholisierten Stimmen und klapperte das Besteck auf den Tellern. Es roch nach Fisch oder nach schmutzigem Wasser.

Nach einigen urzeitlichen Wochen der täglichen fiebernden, seuchenschwitzenden Vergangenheitsbewältigung, während derer sich seine alte, blutige Untat zu einem gigantischen Verbre­chen aufgeplustert und sich außerdem sein ganzes Leben in eine giftzangige Zecke übersetzt hatte, fühlte sich der brillante, genialische englische Flüchter-und-Bewältiger planeten-, nein gelaxienschwer schuldbeladen, so daß er – einem in der Luft ausgesetzten Pinguin gleich – flugunfähig von einem ko­chenden Kupferkessel direkt in das eisbrockige Wasser der Ant­arktis fiel: Er begegnete dem absurden Gedanken, das stin­kende Todesurteil aus München und dessen unzivilisierte Fol­gen, seien die gerechte, unanfechtbare Strafe für seine ver­gangene Untat, und diesen absurden Gedanken wähnte er so über­zeugend, daß er ihn zu einer selbstsüchtigen Gewißheit knetete und wie geformten Ton im Hochofen seiner Seele zu einem ferti­gen Kunstwerk brannte. Thomas Brooks alte, aufgeplusterte Schuld hatte eine junge Strafe gesucht und sie gefunden in der auf sein wirres, aber zivilisiertes Dasein herabgebrochenen Unzivilisation. Hatte sich der Welthäuptling der Literaten demnach von seiner fintenreichen Seele übertölpeln lassen?

Denn beurteilte die Wirklichkeit nicht vielleicht alles ganz anders als der große Romancier? Hatte sich nicht vielleicht Thomas Brooks Seele ein Eigenleben übergestülpt, als sich ihr Herr und Meister nach zweijährigem Braten in der Vorhölle ein wenig Erholung in der provenzalischen Hafenkneipe gönnte, gleichsam von der Vor- in die Zwischenhölle entkommen war? Eine aufgeplusterte alte Schuld hatte eine junge Strafe gesucht, aber hatte der Romancier seine bedeutungslose Schuld nicht vielleicht deshalb zu einer derartigen Luftspiegelung aufge­plustert, weil seine junge Strafe – das dauthendeysche Todesurteil und dessen unzivilisierte Folgen – irgendeiner alten Schuld bedurfte? Es schien, als hätte die Schuld eine Strafe gesucht, aber hatte nicht vielmehr die Strafe eine Schuld ge­sucht und sie gefunden in jenem scheinbaren Verbrechen im cornischen Moordorf, in jenem seelisch längst verjährten Verbre­chen an einem todgeweihten Häuflein französischer Unzivili­sierter, das nun als weltgefährdender Massenmord wie ein tiefhängendes,

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die Kopfhaut schmerzhaft aufreißendes Damokles­schwert über dem genialen Scheitel des blaugebibberten Briten baumelte?

Thomas Brook: Die Schuld sei auf die Strafe gestoßen. Wirklich­keit: Die Strafe sei auf die Schuld gestoßen.

Über vier provenzalische, kneipenmusikbeschallte, hafenwasserumplatschte, stimmenumschwirrte und fischstinkende Monate hinweg zerbiß Thomas Brook seine staubigen Knochen mit den zackigen, haischarfen Zähnen phantasmagorischer Moorerinne­rungen. Erst als irgendwer den letzten cobobordischen Gouver­neur entführte und der mächtigste Mann der Welt in seinem her­metischen Weißen Dorf das überkommene Prinzip Krieg mit Schöpflöffeln aß, erst da hatte die unzivilisierte Gegenwart wieder ausreichend Kräfte gesammelt, um die Vergangenheit kurzzeitig auf den ihrem Alzheimer gemäßen Logenplatz eines Ehrenvorsitzenden zu verdrängen, doch selbst die Steigerung seiner Unexistenz-Marter in schwindelerregende, atemluftraubende Himalaya-Höhen (die Nacht des Pedro Magri und die an­schließende Flucht über Rom, wo der Tod seinen Hinterkopf millimeternah verfehlte; die unfaßbare Kunde vom wütenden Feuer in der provenzalischen Hafenkneipe, das nicht nur die wahnsinns­zähmenden Arbeiten aus vier zwischenhöllischen Monaten, son­dern auch den stolzen, großherzigen Wirt mitsamt seiner Hafen­gaststätte zu Torquemadas Opfern gesellt hatte; das ergebnis­lose sizilianische Warten auf das cobobordische Schiff nach Bizerte und letztlich die nacheinander über seinen literari­schen Körper hereinbrechenden Seuchen) vermochte nicht, die schlimmsten aller Qualen, die Mikrowellen-Qualen der Erinne­rung länger als einige verlassene, öde, wirkungslose Tage ih­rer Teufelskraft zu berauben, denn der große Romancier hatte begonnen, seine vielköpfige Höllenfolter mit schlemmerhafter Schlabber-Zunge zu genießen und sie in jeder ruhigen, sonnen­beschienenen, meerwellenglitzernden Sekunde sehnsüchtig her­beizubeten. Und als er in der winzigen, quietschenden Kammer über dem sizilianischen Copy-Shop seiner körperlichen Lebens­gefahr das Akute geraubt hatte, als die vorletzte Station sei­ner bildenden Reise durch die Unzivilisation ihm den Atomkern der Trübsal und des Stumpfsinns offenbarte, da erstritt sich der großartige Thomas Brook von seinem zugrundebewältigten Körper, der sich nur noch in wegwerfenden Gesten der Resignati­on gefiel, das diktatorische Recht, seine Erinnerungspein end­lich auf ihren plutoniumverstrahlten Höhepunkt zu dichten, indem er sie mit nie versiegenden Wortströmen über die Vergan­genheit und deren Bewältigung blutig reizte. Ja: Nun hatte er in einer Region, in der großflächig – auch in ländlichen Berei­chen – noch ein geregeltes und kontrolliertes Leben möglich war,

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die Vor- sowie die Zwischenhölle zugunsten der tatsächli­chen Hölle hinter sich gelassen, befördert von peinlichen, ekelerregenden Viren, von zerstobenen Hoffnungen auf baldige Erlösung und von einem totalen thermonuklearen Krieg mit sei­ner belustigten Vergangenheit. Mit Weihe und hyperproduktivem Masochismus bewältigte der große Romancier eine Luftspiegelung – er ließ die Schmerzen der Sinnlosigkeit hinwegverdrängt gä­ren; das Verdrängen indes rettet die Gegenwart, indem es die Zukunft kontaminiert –, und im Bewältigen offenbarte sich Tho­mas Brook als unschlagbare Geistesgröße, denn er genoß die Qualen seiner Luftspiegelung und die Qualen seiner allgerechten Strafe derart pervers, daß er eines fernen Tages, nach dem Supertanker der Schlachtsäfte, die Erinnerung an seine entzückende Moorluftspiegelung vollkommen unbeteiligt – grauenhaft unbeteiligt – zu betrachten vermochte, gerade so, als betrach­te er die Urlaubsfotos eines entfernten Bekannten. Heißt be­wältigen vergessen? Möglichkeit Dichter?

Thomas Brook lag in seiner winzigen, quietschenden Kammer über dem sizilianischen Copy-Shop auf seiner fleckigen Matratze, dichtete verrußte, veraschte, schwefelspeiende Worte auf einen Koffer voller Papier, und direkt über seinem Kopf kreischten seine Erinnerungen wie geifernde Harpyien, die sich mit ihren fedrigen Flügeln, ihren scharfen Greifvogelklauen und ihren reißenden Adlerschnäbeln um das leckere Recht auf den ersten Angriff des Tages stritten, und bisweilen fielen sie alle ge­meinsam von der bröckelnden Zimmerdecke über ihn her, die zahl­losen sabbernden Vogeldämonen, um mit ihren blitzenden Klauen hungrig nach seinen trüben Augen zu gieren und seine wundge­schriebene Haut mit ihren lederschneidenden Schwingen kolonialherrenhaft auszupeitschen. Nein: Wehren wollte er sich nicht gegen seine weiblichen Dämonen, niemals, er wollte sich ihrem Haß – den Tod erlebend – innerlich entgegenwinden, um lechzend sein eigenes Blut aufzuschlabbern, fremdes Blut, das aus den klaffenden Klauen-, Schnäbel- und Peitschenwunden irgendeines schmerzenthobenen Leibes spritzte, irgendeines Leibes, der endgültig zu keinem Wesen mehr zu gehören schien. Stolzgekrönt spürte er, wie die widerhakenden Klauen der Harpyien mit jedem heimtückischen, unbeantworteten Angriff stumpfer, die Flügel müder und die Schnäbel weicher wurden, und irgendwann – das wußte Thomas Brook – irgendwann würde er diese fratzenverzerr­ten Wesen der Hölle mit seinem Schmerzgenuß atomisieren, irgendwann würden die Federn, die porige Haut, das Fleisch von ihren dünnen, zerbrechlichen Vogelknochen abfallen, um einzig die bloßen Skelette zurückzulassen, und irgendwann würden auch die bloßen, klappernden Skelette seiner

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aufrichtigen Bewälti­gung erliegen, zu pulvrigem Staub zerfallen und ohne furienhaftem Haß zur Sonne fliegen. Sogar als die bösartigen Harpyien in teuflischer Arbeitsteilung grölend seine Augenlider aufris­sen und ihm mit ihren blutigen Schnäbeln die Pupillen zerhack­ten, sogar da weigerte sich der große Epochendichter, das Dich­ten zu beenden, er dichtete weiter verrußte, veraschte, schwefelspeiende Worte, und er dichtete noch immer, als seine Seele auf der fleckigen Matratze gallespuckend unter unmenschlichen Qualen verging.

„Um wiedergeboren zu werden, mußt du erst sterben. Um sanft zu ruhen in den Kronen der Akazien, mußt du erst zum Panther wer­den. Um fröhlich zu erstehen, mußt du erst zugrunde gehen.“ So schrieb Thomas Brook auf seiner fleckigen Matratze. Er schrieb Stunden, Tage, Monate. Er schrieb Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat um Monat. Er schrieb sich von der Unzivilisation in die Zivilisation und zurück. Er schrieb sich von Nordamerika nach Südafrika und zurück. Er schrieb sich von München nach Fordlândia und zurück. Und er schrieb sich noch immer irgendwohin und zurück, als sein loyaler Knecht Pedro Magri ihm eine unbegrei­fliche, eine nahezu bedeutungslose Kunde überbrachte: In weni­gen Tagen würde sich sein wankelmütiges Schicksal endlich be­quemen, eine Entscheidung zu fällen – in wenigen Tagen zwischen den Prachtfassaden jenes klangvollen, morschen Namens, der ganze Epochen der Menschheitsgeschichte symbolisierte: in we­nigen Tagen in Moskau.

Nun: Hatte sich der große Romancier von seiner fintenreichen Seele übertölpeln lassen oder nicht? Hatte er eine Luftspiege­lung bewältigt oder eine Schuld? Die richtige Vergangenheit oder die falsche? Hatte er seine Seele von einer Untat befreit? Oder hatte ihn seine Seele mit einer Schimäre geblendet, die seinen lächerlichen Tod in der wüstgeseuchten Ödnis einer ver­gangenen Zitadelle dereinst von der Last der Sinnlosigkeit befreien sollte?

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*

Durch die schmalen Lichtritzen der schwarzen Jalousie höhnten weiß-verglimmte Sonnenfetzen in die winzige Kammer, wundersame Flimmermuster auf den kahlen Steinboden malend. Der schiefe, quietschende Deckenventilator, der nur an seinen dünnen Strom­kabeln zu baumeln schien, eierte lauthals seine schnellen Pro­pellerrunden durch die staubtrockene Luft, und der dürftige Windhauch, den seine kreisenden Fächerblätter aufwehten, diese kärgliche Kühlung, verdampfte verlassen und hoffnungslos in der bleiernen Ofenluft, die in der tödlichen Gluthitze der frühen Nachmittagsstunden zu verdorrten, atemverstopfenden Partikeln zerfiel. August in Sizilien.

Draußen ächzte die Siesta-Stille. Der wolkenlose, weißgebrann­te Sonnenhimmel versengte jedes natürliche Geräusch, lähmte alles Leben wie ein todesgiftiger Strahlenregen, erbarmungslos und niederschmetternd. Nur ab und zu knatterte ein knochiges Mezzogiorno-Mofa am jalousieverhangenen Fenster vorbei – einer jener unvergänglichen Rennroller, die während der erträgliche­ren Tagesstunden wie eine schwärmende Heuschreckenplage die Hafenstadt mit ihrer hämmernden Lärmpresse verpesteten – und röhrte stinkend durch die drückenden Häusergassen, die schief und undurchsichtig den mediterranen Küstenhügel überwucherten. Die enge, dunkle Kammer mit dem quietschenden Deckenventilator lag im ersten Stockwerk eines putzbröckelnden Gemäuers direkt an der steilen Straße, die sich zum meerebenen Hafenkern hinabschlängelte, einer vernarbten, porösen, geschwürwerfenden Straße mit kochender Teerdecke, die in der Hitze Blasen trieb, und ihr einziges Möbelstück war ein stinkendes Bett – das in den sternenklaren Augustnächten, wenn das aufgeregte Jungvolk durch die Gassen jubelte, einen anrührenden Blick durch das quadratische Fensterloch auf die quirlige Kneipe dort oben bot und auf die alten Köpfe, die aus ihren erleuchteten Wohnungen in stundenlanger Melancholie zum nachtschwarzen Mittelmeer hinablugten –, ein stinkendes Bett, in dessen klebrige Ma­tratze die fleckigen Spuren aller schnellen Vergnügungen eingesickert waren, die sich die beständig wechselnden Mitarbei­ter des Copy-Shops unten im Erdgeschoß während der letzten Jahrzehnte gegönnt hatten – und nicht nur die: denn es kam vor, daß der Besitzer des arbeitsarmen Geschäftes – ein übler, fet­ter Hahn, der sich des öfteren persönlich seiner jungen Mitarbeiterinnen zu bedienen trachtete – die goldene Kammer mit ih­rer einträglichen Ferkelmatratze stundenweise an Freudenmäd­chen oder heimliche Liebespaare verkaufte.

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Jetzt war das muffige Loch seit mehreren Monaten an einen aus­gewrungenen, wortkargen Schreiberling vermietet, der sich hier – auf irgendetwas wartend – vor irgendwem verkroch, zahlungs­kräftig und anspruchslos, um seitdem jeden Tag und jede Nacht in diesem schlüpfrigen Schmutz zu veröden, schlafend oder Pa­pierberge bekritzelnd, duldsam wie eine Leiche. Ein einziger, ewig verschlossener Koffer verbarg seine schwindenden Besitz­tümer, die ihm sein mörderischer Krieg mit der unsichtbaren Zivilisation noch nicht entrissen hatte, verbarg sie vor den neugierigen Blicken der Angestellten, die vor oder nach der schwitzigen Siesta in wechselnden Paarungen bei dem kauzigen Kammerherrn aus England um ein paar Minuten Bett nachsuchten; ja, außer Kleidung, Papier und Kulturbeutel war dem Armen nichts geblieben: Europa hatte alles aufgefressen.

Viereinhalb Jahre Flucht, viereinhalb Jahre lebensfreie Unter­grundexistenz und zweieinhalb Jahre Erinnerungsglut hatten seine Haare entfärbt und entwurzelt, seine Haut faltig einge­gerbt, seine Augen mit tiefen, schwarzen Höhlen umrändert. Thomas Brook schien gebrochen. Sein Skelett hatte sich auf den vielen harten, krummen Pritschen, denen er in seinen feuchten Löchern hilflos ausgeliefert war, spröde-rostend verbogen – oft bescherte ihm jede mühsame Bewegung höllenhafte Schmerzen –, und unter der üblen, unregelmäßigen Ernährung waren seine Eingeweide dazu übergegangen, sich allmählich zu zersetzen. Die Cholera hatte er besiegt, den Typhus und die Hepatitis. Und an einem schwachen Tag war er nur knapp dem sicheren Fäulnistod entronnen, als er mit einer titanischen, bewußtseinstrübenden Willensanstrengung seinen ungezogenen Körper zwingen mußte, einem unzivilisierten Mädchen zu widerstehen, einer anmutigen, köstlichen Sizilianerin, die sich, um Liebe bettelnd, betend an ihn klammerte, und in deren Gesicht er die Schatten jener unsterblichen Seuche zu erblicken glaubte, die die gebildeten Angehörigen der großen Familie zum Inzest zwang. Einunddreißig Jahre alt, war Thomas Brook ein greiser Mann. Aber als er an jenem weißglühenden sizilianischen Augustnachmittag in der engen, dunklen, jalousieverhangenen Kammer auf dem stinkenden Bett der Notzucht lag und das röhrende Knattern eines Mofas durchs Fenster zu ihm drang, da war ihm bereits bewußt, daß sich sein wankelmütiges Schicksal in wenigen Stunden unwider­ruflich zu entscheiden hatte, daß er in wenigen quälenden Stun­den endgültig wissen würde, ob sein Leben nun doch noch begin­nen konnte oder ob er den verbliebenen brackigen Rest seines Daseins eigenhändig zum Teufel jagen mußte: Es war der letzte Tag der entscheidenden Moskauer Familienkonferenz.

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Als Pedro Magri ihn damals, am ersten Juni vor zwei Jahren – dem Tag der Entführung, dem Tag des transatlantischen Kriegs­beginns –, aus seinem wunderbaren provenzalischen Versteck gezerrt und nach Sizilien gekarrt hatte, war er noch Thomas Brook gewesen, der große Romancier, trotz der Erinnerungsglut gesund und kraftdurchströmt, stolz und vielleicht sogar ge­blendet von seinem außergewöhnlichen Schicksal, das ihm Größe und Weisheit versprach. Er konnte damals nicht begreifen, wa­rum seine brasilianischen Freunde ihr beglückendes Versprechen nicht einlösten, das seinen Glauben an die Familie gerettet hatte, ihr vollmundiges Versprechen, ihn als Europaflüchtling an den Amazonas zu fliegen; er tobte und schrie, rannte mit dem Kopf gegen alle verfügbaren Wände, dem Wahnsinn nahe wie damals nach dem geliebten Plymouth, und erst als Ernesto de Cobo Borda seinen hohlköpfigen Kalkvater von der brasilianischen Kapi­tänsbrücke stieß, erblühte ein windeljunger Hoffnungsglanz für seinen geschundenen, verbeulten Schädel. Aber als auch weiter­hin das ewige Nichts geschah, als auch der idealistische Schwa­feljüngling Ernesto dem literarischen und menschlichen Verges­sen anheimzufallen schien, da durchschoß ein zerfetzender De­pressions-Blitz sein geniales Gehirn, ein thermonuklearer To­desstoß, von dem er sich niemals wieder zu erholen vermocht hatte.

Ein Vorteil jedoch eignete Ministerpräsident Ernesto: Er war ehrlich. Bald nach des Patriarchen Entmachtung durch dessen aufgestrebte Söhne erreichte den vernichteten Romancier über den Kontakt-Kurier Magri eine traurige Botschaft des neuen Kulissen-Chefs, eine delikate Depesche, durch die Ernesto de Co­bo Borda seinem schreibenden Schützling sein aufrichtiges Be­dauern übermittelte und ihm darlegte, daß er ihn in der gegen­wärtigen Situation nicht aus dem Todeslager Europa befreien könne. Er habe zwar vor kurzem schon die Übergabe des Verfolg­ten an Dauthendeys Mörderbanden verhindert, aber ein erneutes Eingreifen seinerseits würde den Tod seines Onkels Carlos be­deuten.

Carlos César de Cobo Borda: Thomas Brook erinnerte sich gut an diesen Freund der Kunst, auf den er vor vielen Jahren – Jahren, hinter denen die Ewigkeit winkte – während seiner triumphalen Literaten-Reise ins Land der euphorischen Bewunderer gestoßen war. Ein beeindruckender faszinierender, begeisternder Mann mit einnehmender Intelligenz, hochgebildet, hochbegabt, hoch­karätig; undenkbar, diesen Mann, den geistesgroßen Nachfolger des machtstarrenden Welthäuptlings, für einen wurmstichigen Literaturerbärmling zu opfern. Demnach war man also genötigt, auf die Außerordentliche Krisenkonferenz zu warten, um den Fall Thomas Brook zu lösen. Den Fall Thomas Brook. Tatsächlich: alles, was von jenem großen Romancier, dem magischen Beschwö­rer eines allgültigen Schöpfungsberichts, noch geblieben war: Ein Fall.

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Thomas Brook lag auf dem obszönen Bett unter dem quietschenden Ventilator und betrachtete gedankenlos den dahinziehenden Tag. Durch seine sonnenbeschienene Jalousie erahnte er, wie draußen in der fallenden Hitze die seltenen Schatten sich zu langen Fingerformen streckten, während die wundersamen Flimmermuster auf dem kahlen Steinboden seiner Kammer ihre höhnende Schärfe verloren, um zu matten Metamorphosen ihrer selbst zu verblas­sen. Er fühlte die verpuffenden Stunden an seinem Körper, sie durchdrangen seine Adern, und die Zeit schien so granitfest versteinert, daß sie jenseits seines jalousieverhangenen Fen­sters lichtschnell verstrich. Mit der sinkenden Sonne erstan­den die hitzemüden Menschen des Ortes aus ihrer sizilianischen Siesta, das Leben erwachte, und die pestenden Mofas begannen erneut, in allen Winkeln der Meeresstadt ohrenzerreißend zu knattern. Als ein sanftes, abendliches Sonnenrot der engen Kammer ihr tagestypisches Licht entwendete und die ganze Welt in einen linden Schattenschein stieß, da erhob sich Thomas Brook, öffnete die Jalousie und blickte hinab auf die abendli­che Kurvenstraße, auf die Menschen, die spärlich bekleidet, barfuß über die kaltende Teerdecke flanierten, auf die häßli­chen Häuser mit ihren geöffneten Fenstern und auf die röhrenden Roller, die das ganze demobilisierte Europa den Sizilianern mißgönnte. Schließlich verließ der Romancier sein Gefängnis, stieg die Treppe hinab, die in den armseligen Copy-Shop mündete – nur noch der Chef war anwesend; er kauerte in einer Ecke und verfluchte die Welt –, trat hinaus in den verklingenden Tag, folgte den schlingenden Kurven der plötzlich menschenbevölker­ten Straße und erreichte nach fünfzehn Minuten den Hafen, wo fröhliche Musik durch die ozeanischen Kneipen schallte und die kreischende Jugend die leeren Tagesstunden vertrieb.

Ein phosphoreszierender Sonnenglanz wellte sich über das nach­tende Afrikanische Meer, das hinter dem Hafenbecken in der Straße von Tunis verschwand, als Thomas Brook an den Trawlern vorbei den Hafen verließ, um über eine kurze Treppe auf die au­tofreie Hauptstraße zu gelangen und nach wenigen Metern in ei­nem verfallenen Hauseingang unterzutauchen. Ein paar verkomme­ne, elende Gestalten hausten noch in den Schuttecken dieses verstorbenen Gemäuers, dessen Dach, zu einem großen Loch zer­berstend, alle vier Stockwerke durchschlagen hatte. In einer menschenfreien Wohnung im Erdgeschoß, durch deren Deckenfetzen, die jeden Augenblick niederzubrechen drohten, der dunkelnde Himmel lächelnd durch alle Geschosse grüßte, erwartete ihn Pe­dro Magri.

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Thomas Brook verspürte keinerlei Freude, als er erfuhr, daß Christoph von Dauthendey und die undurchschaubaren Cobo Bordas in Moskau übereingekommen waren, die Eisenketten der Weltpoli­tik von seinen schwindsüchtigen Gliedmaßen zu lösen. Erst auf dem unwirklichen Rückweg durch den phosphoreszierenden Hafen und die häuserummauerten Gassen drang eine bleischwere Er­leichterung in seinen Körper, eine schlafgebietende Müdigkeit, die ihm die Tränen von viereinhalb Jahren Hölle in die Augen­winkel trieb. Er gedachte seines südfranzösischen Kellerge­machs und seinen halbstarken Arbeiten, die er nach der ersten, zweijährigen, vorhöllischen Unzivilisation entworfen hatte, um sie schließlich in den Flammen der niedergefackelten provenzalischen Hafenkneipe zu verlieren; er gedachte dem Mördermob, der ihm in Spanien aufgelauert hatte; dem Mördermob, der in Dänemark Magris Stellvertreter erschossen, und dem Mördermob, der in Rom seinen genialen Hinterkopf millimeterknapp verfehlt hatte. Er gedachte all den Momenten, die ihm den Tod so ver­traut werden ließen, daß dieser inzwischen sein Duzfreund ge­worden war. Er gedachte – schmerzerfahren – seiner pulsend emporintervallenden Moorvergangenheit, die seit seinem großzü­gigen Einzug in die provenzalische Hafenkneipe dafür gesorgt hatte, daß der Verfall seines Geistes mit dem Verfall seines Körpers schrittzuhalten vermochte, und deren noch immer nicht zu einem zweidimensionalen Urlaubsfoto mutierte Gestalt ihn glauben machte, die Erlösung erscheine zu früh, da seine Schuld noch nicht gesühnt sei. Und letztlich gedachte er seines Vaters und empfand nichts. Nichts. Nichts als ein großes, unbedeuten­des Loch des achselzuckenden Mitleids.

Fünf Tage später durfte sich Thomas Brook mit seinem letzten Koffer in Marsala auf einem mächtigen venezolanischen Frachter einschiffen, der Maschinenteile vom Nahen Osten nach Latein­amerika schraubte. Die Überquerung des Atlantik machte ihn verstehen, daß das Grauen auf dieser Welt zu einer wohl gren­zenlosen Steigerung seiner selbst befähigt war: Die Besatzung bestand aus … [Um den hier fehlenden Abschnitt zu lesen, wechseln Sie bitte zum Abo-Zugang.]

Das dunkle Zeitalter Seite 244

Als Thomas Brook in La Guaira von Bord ging – lebendig nur dank der gütigen Protektion des funktionstüchtigen Kapitäns –, war er sich nicht mehr sicher, ob er noch irgendetwas Menschliches in sich trug. Er wurde am Hafen von brasilianischem Militär erwartet, das ihn umgehend zum Flugplatz geleitete und in den bereitstehenden Staatsjet hievte, einen luxuriösen Cobo-Borda-Düser, der ihm während des zweieinhalbstündigen Fluges sei­nen Traum von einem warmen, säubernden Wannenbad erfüllte. Viereinhalb Jahre Krieg mit der Welt hatte es ihn gekostet, Brasilien zu seiner Heimat zu machen, wie er es sich damals, nach seiner triumphalen Literatenreise, vorgenommen hatte.

Der Jet landete auf dem verborgenen Tropenflughafen neben dem Weißen Dorf Fordlândia, und Thomas Brook, der große Romancier, war nicht einmal mehr zu der Frage fähig, warum man ihm diesen seelenverscherbelnden Frachtpott des Erdenrichters angetan hatte, diesen eiternden Supertanker der Schlachtsäfte. Er wollte nur noch eines: Er wollte endlich sterben.

Das dunkle Zeitalter Seite 245

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Weisung zur Rettung der Menschheit

von Ernesto de Cobo Borda
gedichtet
am Kap der Guten Hoffnung
am Vorabend seines Todes
am 23. Dezember des letzten Jahres der alten Menschheit

MENSCHEN: Ungeachtet (aber eingedenk!) eurer unbewußten und unabänderlichen Triebziele, müßt ihr euch dem Inzestverbot und dem Verbot der Vatertötung unterwerfen, welche Verbote das universale und minimale GESETZ konstituieren, damit aus Natur wieder Kultur werde! Dies ist die eine scheidende Linie, die ihr im Ozean ziehen müßt, um die narzißtisch-animistische Allmacht eurer Gedanken überwinden, eure unbewußten ödipalen Triebe sublimieren, die Tyrannis des Lustprinzips auf das Es beschränken, realitätskonform eure Objekte in der Außenwelt suchen und eine Gesamtstrukturierung eurer Subjektivität (einbegreiflich der Kategorialen Ebenendifferenz) erreichen zu können, die es euch erlaubte, wieder Wissenschaftler (in der Tradition neuzeitlich-europäisch-aufklärerischer Wissenschaft) zu sein!

Gesetz-ED-702632/019625/V733-dfklqMT-konform
gesetzt in Neudeutsche Endgestalt

Herausgeber ED7469iklq
Stadt 1,
im Jahr 733 d.N.M.,
n. a. Z.: 1450 p.r.,
M1T1

Das dunkle Zeitalter Seite 339

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Band 2: homo solus