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Band 9 – Epilog: Das Rätsel des Nadirs

Das Rätsel des Nadirs

Ein Plagiat

Dieser Text ist ein Plagiat,
auch wo er einer originären Schöpfung ähneln mag.
Nichts, was der Autor geschrieben hat,
stammt von ihm selbst.

Auf der Suche nach der Sphärischen Sprache und nach dem, was vor einer gewissen, die Geschichte der Menschheit tief zerklüftenden Wende und Grenze gewußt wurde, fanden zwei Waldeukliden auf einem Holzweg, wo sie an einer Quelle neben dem letzten Klafter Rohholz das vom Verlöschen bedrohte Feuer hüteten, das titellose Typoskript dieses rätselhaften Berichtes, den sie bald für eine undatierbare Chronik des Großen Untergangs, bald für ein apokryphes Evangelium, bald für ein archaisches Epos über die Entstehung der Welt und des Menschen hielten, bevor sie es zum wertvollsten Dokument der Neuen Menschheit stilisierten: zum einzigen für alle zukünftigen Zeiten und Generationen tragfähigen Viadukt über das unabsehbare dunkle Zeitalter des Vergessens, das sie durchquerten …

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Eines Nachts träumte mir:

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Im Pool meines Elternhauses. Jemand, der mir überlegen ist, schwimmt sportlich, den Kopf unter Wasser, viele kleine Luftblasen ins Wasser atmend. Ich tue es ihm gleich, und es ist eine Erfahrung von Größe und Stolz, es ebensogut zu können wie er. Der Überlegene hält an einer Kopfseite des Pools inne und setzt an, ein dickes, sehr anspruchsvolles Buch zu lesen. Ich erkläre mich bereit, es gemeinsam mit ihm zu lesen, was ihn beeindruckt. Wir lehnen nebeneinander an der Kopfseite des Pools im Wasser, jeder ein auf der ersten Seite aufgeschlagenes Buch vor sich (schon das Schriftbild sieht sehr anspruchsvoll aus), und fast ist es, als würden wir das Buch gemeinsam schreiben. Es handelt von einer kleinen Gruppe verzweifelter Menschen, die unmittelbar nach dem Ende des Weltkriegs sich zu Fuß von Südafrika nach Rumänien durchzuschlagen suchen, um dort das Paradies zu finden, von dem sie gerüchteweise gehört haben. Es trägt einen sehr merkwürdigen Namen mit R, der auch der Titel des Buches ist, so ähnlich wie: »Romario«

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Ich kam nach Rumänien, weil man mir gesagt hatte, daß das Paradies hier läge, ein Ort namens Romario. Meine Liebste hatte es mir gesagt. Und ich hatte ihr versprochen, ihn aufzusuchen, sobald sie tot wäre. Ich drückte ihr die Hände, zum Zeichen, daß ich es gewiß tun würde. Sie lag im Sterben, und es gab nichts, was ich ihr nicht versprochen hätte. »Daß du auch ja hingehst«, bat sie. »Es heißt so und so. Ich bin sicher, du wirst glücklich, wenn du es kennenlernst.« Da konnte ich nicht anders als immer wieder sagen, daß ich es tun wollte, und ich sagte es auch noch, als meine Hände schon Mühe hatten, sich aus ihren toten Händen zu lösen.

Vorher hatte sie gesagt: »Laß dir nicht einfallen, den Vater um etwas zu bitten! Verlange das, was dir zukommt, was er verpflichtet war, uns zu geben und uns nie gegeben hat! Laß es ihn teuer zu stehen kommen, mein Liebster, daß er uns immer nur leiden und sterben lassen will!«
»Ja, Liebste, ich will es tun.«

Ich hatte nicht die Absicht, mein Versprechen zu halten. Aber bald schon erfüllten mich Träume, und meine Phantasie begann zu arbeiten. Nach und nach erstand in mir eine ganze Welt um die Hoffnung herum, die Romario hieß, um das Paradies. Deshalb ging ich nach Rumänien.

Es war die Zeit der ersten Nachkriegstage, in denen der Höllenwind blies, heiß und giftig vom fauligen Geruch der Toten.

Der Weg führte bergan und bergab. »Er steigt oder fällt, je nachdem ob man kommt oder wieder geht. Für den, der wieder geht, steigt er, für den, der kommt, fällt er.«

»Wie sagten Sie, daß das Land da unten heißt?«
»Rumänien.«
»Sind Sie sicher, daß das schon Rumänien ist?«
»Ganz sicher.«
»Aber weshalb sieht es so trübselig aus?«
»Herr, die Zeiten sind schlecht.«

Ich versuchte in das, was ich da vor mir sah, die Sehnsüchte meiner Liebsten hineinzusehen, ihr Heimweh, ihr halb unterdrücktes Seufzen. Sie sehnte sich ja immer nach Rumänien, nach der Heimkehr. Aber sie ist nie hierhergekommen. Jetzt bin ich da an ihrer Statt. Ich bringe die Augen mit, die das hier ersehnt haben, sie hat mir ihre Augen zum Sehen mitgegeben. »Wenn man

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über den Paß Comaconmalado hinweg ist, liegt eine wunderschöne Ebene vor einem, ganz grün, und auch etwas türkis von den Farnen und den Blausteinen. Von dieser Stelle aus sieht man Rumänien, wie es weiß auf der Erde liegt und sie nachts mit ihrem Schimmer erhellt.« Ihre Stimme war geheimnisvoll und fast erloschen, als spräche sie mit sich selbst. Meine Schwester.

»Was wollen Sie in Rumänien, wenn man fragen darf?«
»Ich will das Paradies finden«, antwortete ich.
»Aha«, sagte er.

Dann waren wir wieder still.

In den Ohren den stolpernden Trab unserer Füße, die Augen schwer von Müdigkeit, wanderten wir in der brütenden Höllenhitze bergab.

»Das wird aber einen Empfang geben«, hörte ich wieder die Stimme des Mannes, der neben mir ging. »Die werden sich freuen, daß sie endlich mal wieder jemanden sehen, nach all den vielen Jahren, in denen niemand mehr gekommen ist.«
Dann fügte er hinzu: »Wer Sie auch sein mögen, das Paradies wird sich schon mit Ihnen freuen.«

Im roten Glanz der unauslöschlichen Feuer glich die Ebene einem unterirdischen Magmasee. Sie war in Rauchschwaden aufgelöst, durch die hindurch ein lodernder Horizont schimmerte. In einiger Entfernung sah man die Linien einer Ruinenkette, und hinter den Ruinen nichts.

»Und wo liegt das Paradies, wenn man fragen darf?«
»Ich kenne es nicht«, sagte ich. »Ich weiß nur, daß es Romario heißt.«
»Aha, so so.«
»Ja, so heißt es, hat man mir gesagt.«
Und wieder hörte ich das »Aha«.

Ich hatte ihn auf einem anderen Waldkarpatenpaß getroffen, an einer Stelle, wo mehrere Wege sich kreuzten. Ich stand dort und wartete, und schließlich kam dieser Nomade.

»Wohin gehen Sie?« fragte ich.
»Ich gehe da hinunter.«
»Kennen Sie ein Land, das Rumänien heißt?«
»Eben dahin gehe ich ja.«

Ich folgte ihm und versuchte, ihn einzuholen, bis er wohl merkte, daß ich ihm folgte, und seinen eiligen Schritt verlangsamte. Dann gingen wir so dicht nebeneinander, daß unsere Schultern sich fast berührten.

»Ich habe auch vom Paradies namens Romario gehört«, sagte er.

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Ein Schwarm Zikaden flog quer über den leeren Himmel, man hörte ihr Zirp-Zirp.

Wir waren über die Hügel hinweg, und nun ging es immer weiter abwärts. Den heißen Wind hatten wir oben gelassen, und jetzt sanken wir tief ein in die Hitze, eine Hitze, in der es keinen Wind mehr gab. Es war, als ob alle Dinge auf etwas warteten.

»Es ist heiß hier«, sagte ich.
»Ja, und dabei ist das noch gar nichts. Warten Sie nur ab! Sie werden was erleben, wenn wir erst in Rumänien sin. Da ist es wie auf glühenden Kohlen, wie im Höllenschlund. Wenn ich Ihnen sage, daß die Leute dort, wenn sie sterben, aus der Hölle wieder zurückkommen, um sich eine Decke zu holen!«
»Kennen Sie Romario?« fragte ich.
Ich faßte mir Mut, ihn das zu fragen, weil ich in seinen Augen ein wenig Zutrauen zu mir sah.
»Wo liegt es?« fragte ich wieder.
»In der Hölle«, antwortete er.

Und er schlug mit dem Wanderast auf seine Füße ein, ganz unnötigerweise, denn die Füße, in Gang geraten, da es abwärts ging, waren uns – immer abwechselnd – einen Schritt voraus.

Durch die Tasche meines Hemdes hindurch fühlte ich das Bild meiner Liebsten warm auf meinem Herzen, als schwitze auch sie. Es war ein altes Bild von ihr, am Rand schon ganz eingerissen. Aber es war das einzige, das ich je von ihr gesehen habe. Ich fand es einmal im Küchenschrank in einer Tonschüssel mit Kräutern: Melissenblättern, getrockneten Rosen, Rautenzweigen. Ich behielt es. Es war das einzige. Meine Schwester haßte es, sich photographieren zu lassen. Sie sagte immer: »Bilder sind Rätselkram.« Und so schien es auch. Denn ihres war voll von kleinen Löchern, wie von einer Nadel, und da, wo ihr Herz sein mußte, da war ein ganz großes Loch, durch das man den Finger stecken konnte.

Es ist dasselbe Bild, das ich hier bei mir trage, ich hatte gedacht, es könnte mir vielleicht beim Vater nützlich sein, mir dazu verhelfen, daß er mich als seinen Sohn anerkenne.

»Sehen Sie mal«, sagte mein Mit-Nomade und blieb stehen. »Sehen Sie die diese Anhöhe, die so aussieht wie ein Aktenberg? Gleich dahinter ist Romario. Jetzt drehen Sie sich mal um! Sehen Sie den Kamm von dem Hügel da? Sehen Sie sich ihn gut an! Und jetzt drehen Sie sich mal nach dieser Richtung! Können Sie diesen anderen Kamm sehen, den man schon fast nicht

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mehr erkennen kann, so weit ist er weg? Schön, da haben Sie Romario von einem Ende bis zum andern. Mit einem Wort: alles Land, das Sie von hier aus sehen. Und dieses ganze große Stück Erde ist Romario! Jawohl, wir haben zwar von Romario gehört, aber unsere Mütter haben uns elend genug auf einer dreckigen Matte in die Welt befördert. Und das Komischste an der Sache ist, daß Romario uns selbst aus der Taufe gehoben hat. Bei Ihnen ist es wohl auch so gewesen, was?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Hol’s der Teufel!«
»Was sagen Sie?«
»Daß wir schon gleich da sind.«
»Ja ich seh es schon. Aber was ist denn das?«
»Ein Wegläufer, Herr. So heißen diese Vögel hier.«
»Nein, ich meine, was denn mit diesem Land hier los ist. Es sieht so einsam aus, wie ein verlassenes Land, so als ob dort nichts und niemand mehr lebte.«
»Das sieht nicht nur so aus, das ist so. Hier lebt nichts.«
»Und Romario?«
»Romario ist seit vielen Jahren verloren.«

Es war um die Stunde, da in allen Ländern die Kinder auf der Straße spielten und den sinkenden Abend mit ihrem Gedärme erfüllten, die Stunde, da das gelbe Licht der Sonne noch von den schwarzen Mauern zurückstrahlte.

Wenigstens hatte ich das noch kurz vor dem Krieg um dieselbe Stunde in Südafrika erlebt. Dort hatte ich auch die Sichler gesehen, wie sie mit ihrem Flug die stille Luft zerrissen und ihre Flügel schüttelten, als streiften sie die Glut von sich ab. Sie flogen und fielen auf die Dächer, und der schon abendliche Himmel färbte sich scharlachrot, und ringsum flatterten die Schreie der Kinder.

Nun war ich hier, in diesem Land ohne Laut. Ich hörte, wie meine Schritte auf die runden Pflastersteine fielen. Sie klangen hohl, und ihr Klang kam in dem Echo der Mauern zurück, die im schwarzglühenden Licht der Feuer glänzten.

Das Rätsel des Nadirs Seite 9

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