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Ode an die Freundschaft

Ode an die Freundschaft

Von der Sprache des Werdens zum Sphärischen Gespräch

Stefan Grosser (Lesung) und Claudia Heinze (Violine)

Am 25. März 2023 im Nürnberger Sophiensaal im Rahmen des »Symposion Fin_negans« zu Ehren von Maria Eger

[Improvisation auf der Violine, kurz]

Die ersten Worte, die Maria je zu mir gesprochen hat, lauteten: »Haben Sie Joyce gelesen?«

[Improvisation auf der Violine, ganz kurz]

Das klingt nun beinahe wie: »Lieben Sie Brahms?« Na ja, oder eigentlich eher wie: »Sind Sie satisfaktionsfähig?« Jedenfalls klingt es wie für einen Vortrag über den Beginn einer Freundschaft mit Maria zusammengereimt, es waren aber wahrhaftig ihre ersten Worte an mich, und wenn man sich die Szene vergegenwärtigt, in der diese ersten Worte laut wurden, so klingen Sie auch gar nicht mehr so gut zusammengereimt: Es war an einem Sonnentag Ende Juni oder Anfang Juli des Jahres 2016, als ich auf dem 3. Nittendorfer Gartenkolloquium am Waldrand von Heinz Neumann-Riegner erstmals aus meinem (später von Maria so genannten) work in progress las, dem homo fluidus, der die abstrakte, starre Begriffssprache des homo sapiens, die Sprache des Seins, in seine sinnlich-konkrete metaphorische Ausdruckssprache, die Sprache des Werdens, wandeln sollte, die Sprache des Steins in die Sprache des Wassers … Maria, die damals für mich nur ein Gerücht war und noch kein Gesicht besaß, saß – wie ich bald erfahren sollte – in der ersten Reihe vor mir, und als ich meine letzten Buchstaben im ewigen Werden aufgelöst hatte, war neben ihr ein Stuhl frei (widersinnigerweise ja ein Symbol des Ewigfestsitzenden), und ich setzte mich, nein: nicht neben sie, die ich ja noch nicht kannte, sondern einfach fest auf den erstbesten freien Stuhl – als sich die eindrucksvolle Erscheinung neben mir, in einen wallenden Schal des Werdens gehüllt, plötzlich zu mir herüberbeugte und die Worte erklingen ließ: »Haben Sie Joyce gelesen?«

[Improvisation auf der Violine, ganz kurz]

Selbstverständlich bekannte ich wortwendend meine Satisfaktionsfähigkeit! Selbstverständlich hatte ich auch irgendwie Joyce gelesen, aber was es allen Ernstes bedeutete, in Marias Geist und Sinn Joyce gelesen zu haben, sollte ich erst allmählich in den kommenden Jahren erfahren …

[Improvisation auf der Violine, kurz]

Maria jedenfalls hatte in meinen Wort-, Silben- und Buchstabenschiebereien, in der verflüssigten und verflüssigenden Sprache des werdenden homo fluidus, Einflüsserungen aus dem Ulysses und dem Wake erlauscht und meine Lesung, ehe ich noch gründlich darüber hatte nachdenken können, ob dies überhaupt korrekt sei, ins Programm ihres 17. Symposions sine nomine aufgenommen, das sich zwei Monate später in Bamberg und der Fränkischen Schweiz ereignen sollte.

Aus dieser ersten Begegnung am Nittendorfer Philosophenwaldrand entströmte eine Freundschaft, die einzigartig war, weil Maria einzigartig war, es entströmte ein poetischer (zumeist elektronischer) Briefwechsel, der an Originalität ihrem späteren und ebenfalls noch unveröffentlichten Briefwechsel mit dem schreibenden Kater Henri nirgendwo nachsteht, und es entströmte ein an- und abschwellendes, aber immer tiefenwirbelndes schriftliches und mündliches Gespräch, ein Ineinanderfluß von Worten und Antworten, der sich untergründig aus den Ineinanderflüssen des homo fluidus speiste, den Maria gesprächsweise »Silbensand und feinere Konsistenzen« taufte, während ich immer von »Staben und Zeichen« stammelte, der »Werkstatt für Buch und Satz«, irgendwann aber am liebsten in Hans Wollschlägers Wort vom »Geschiebelehm der Silben« geschlüpft wäre, »von dem wir genommen« …

Ein Gespräch wir wurden und hörten voneinander: anfangs beinahe täglich, und eines Tages hörte ich beinahe nicht mehr von Maria, sondern von Aria M, wie sie ihre Briefe auf einmal unterschob, und da die Staben meines Namens noch mehr Schiebung vertrugen, hörte sie daraufhin nicht mehr von Stefan Grosser, sondern von Sanft erGoss er und von SternfasersoG … aus dem Maria in diesen verschobenen Tagen Gedichte aus den Gewässern des homo fluidus entgegenwirbelten, die versuchten, Linien im Wasser zu ziehen zwischen Verschmelzung und sprachlichem Ineinanderfluß:

Sagen zwischen uns da wir saßen versteinerte
stießen wir zusammen und zerstäubten?
ich du
ichwirdu
duichwirflüssteternineinanderundverdampften
erst da wieder wisperchren sitzt nichts mehr fest
zitierst aus meinem Stausee:
die Sprache wird so rein wie der frische Bruch eines Bergkristalls wenn sie wie ebbendes Meer zurückfließt das nackte Gerüste Leben entblößt
aber das Ganze wird eine Art fieberisches Denken Denken in einem Material das unmittelbarer flüssiger glühender wird als Worte die steinharten verewigten über die wir stolpern:
rezitier ich
da wir
kondensieren
und vom Schmelz der Leselampe tropfen
ja
ja

tropfte es aus meinem Gedicht in ein himmelswasserblaues Notizbuch, das – so lese ich auf der ersten Seite – am 22.2.2017 S.G. überlassen wurde und dessen chaotisch von M.E. bedichteten und unbedichteten Seiten zu den leeren und umstellten Horizonten unseres ersten gemeinsamen Textes wurden, der nicht mehr unterschied zwischen ihren und meinen Worten, wir worteten ineinander über in diesen Horizonten wie unsere Geburtstage ineinander übersprangen in der einen Sekunde, in der die beiden Tage ohne Vermischung vereint und ohne Trennung unterschieden sind: der 25. Juni, 24 Uhr, und der 26. Juni, 0 Uhr, und zu einem dieser osmotischen Sekundengeburtstage dichtete ich eine Monologische Ode an den Dialog, die zur Wasserscheide wurde, denn als wir sie gemeinsam lasen, (im Beck am Eck der Holzgartenstraße, wo ich immer auf sie warten mußte, da ich nie in ihr Büchergebirge durfte, obwohl mir meine eigene Wohnung genauso über den Kopf gewachsen war), im Beck am Eck also, da wußten wir, daß die festsitzende Sprache des Seins sich nur dialogisch lösen konnte, daß die Sprache des Werdens kein Gedicht sein durfte, sondern ein Gespräch werden mußte: homo fluidus oder: Das Meer lautete und erklang bald die dialogische Lesung, der Ineinandersprech, den wir daraufhin gemeinsam aus Quellen von Jahrtausenden zusammengossen, eine uferlose Collage, die die unausgesprochenen Unterströmungen unter einem erdichteten Gespräch zweier sich befreundender Menschen zu einer Sprache brachte, in der sich die beiden Miteinandersprechenden ineinanderverflüssten und auflösten und wieder neu formten, eine uferlose Collage aus Jahrtausenden von Literatur und Philosophie, die wir wiederholt mit verteilten Rollen in ihrer ganzen Uferlosigkeit darboten – zum wiederholten Entsetzen eines Teils unseres Publikums, doch wie hat Maria auf einem der leeren Horizonte des himmelswasserblauen Notizbuches gedichtet: wie kann Literatur so lange wie möglich vermeiden, kommunikativ zu werden? und gleichzeitig die Flamme bewahren?

[Improvisation auf der Violine, etwas länger]

Überflüssig, in diesem Aggregatzustand unserer Sprache noch zu unterscheiden, wer von uns den Begriff der Sphärischen Sprache aufgewirbelt hat1, den wir anfangs gar nicht zu füllen wußten oder besser: mit allen Staben und Zeichen füllten, die von irgendwoher auf uns herabtropften … Rezitier aus unserem Gespräch: Wenn es gelingt, inspiriert vielleicht von der Unterscheidung zwischen Sphärischer und Euklidischer Geometrie, die Sprache des Werdens als eine Sphärische Sprache zu konzipieren, eine Sprache der Kugel, die die starre Axiomatik der von Linearität gezeichneten Sprache der Ebene überwindet, dann fällt mir für die Sphärische Sprache in progress symbolisch der Kugel-Kopf der antiquierten Schreibmaschine ein. Ich stelle mir vor, wie Wasser sich damit ballen läßt, Anstauung bis zur Überschwemmung, das offenste Ende, Wasser, das in Wasser gegossen, nicht mehr zurückzuholen ist, transient alles, kein An- und Festhalten, kein Stranden. Schwindlig werden bis zum Vergehen, Eingehen. Wie hoch verdichtet muß Sprache werden, morphologisch wie metaphorisch, um sphärisch zu werden. Nietzsche diagnostizierte übrigens auch schon die Starre und Allzustarre der Euklidischen Geometrie, ihre Verwandtschaft zur alten, betrügerischen Vernunft in der Sprache und die Unfähigkeit von beiden, das Werden zu erfassen, geschweige denn, die Aufhebung der Gegensätze von Sein und Werden, die Sphäre ist das innenhafte, erschlossene, geteilte Runde, das Menschen bewohnen, sofern es ihnen gelingt, Menschen zu werden, sofern sie einander jeweils die Kontaktseite ihres Wesens zukehren, bilden sie miteinander eine gemeinsame innenraumhafte Sphäre aus, denn die Matrix der Sprache ist das Gespräch, die Wirklichkeit wird ihre Maske ablegen, und wir werden endlich sie selbst und unsere Mitmenschen erkennen …

[Improvisation auf der Violine, kurz]

Es geschah in einem schneereichen Winter, in dem ich Mal um Mal mit dem Zug von München nach Nürnberg fuhr, um gemeinsam mit Maria einen Klammersatz des Wake in deutsche Klänge zu transponieren … railrun, dichtete ich ihr Mal um Mal aufs Telefon, sobald der Zug durch den verschneiten Münchner Westen fuhr, railrun, past white and whiter, fuhr pünktlich an, fährt er so weiter, komme ich dann, high noon und heiter … Nein, das war natürlich noch nicht unsere preiswürdige Transponierung, für die wir uns natürlich auch nicht die einschlägige immerwiederkehrende Anfangszirkulation von Finnegans Wake vorgenommen hatten, sondern einen unauffälligen eingeklammerten Halbsatz, in dem sich unter der Hand die Wake-Sprache selbst zergliedert als die Ursprache vor dem Turmbau zu Babel, in der alle empirischen Einzelsprachen wurzeln, und der im Original so klingt: »[…] in the Nichtian glossery which purveys aprioric roots for aposteriorious tongues this is nat language at any sinse of the world […]«, und am Ende dieses Winters, als längst kein Schnee mehr lag, klang unser Halbsatz so: »im nichtlichen Glossoar in dem apriorium alle aposteriorischen Lalien wurzeln dies ist Nat Sprache in irgendeinem Anbesinn des Worts irgendeiner Welt« …

[Improvisation auf der Violine, kurz]

Und also hatte ich erfahren, was es bedeutete, in Marias Geist und Sinn Joyce zu lesen, und gemeinsam hatten Maria und ich dabei erfahren, daß es bereits eine Sphärische Sprache gab: die Nat Sprache, in der sich – so fabulierte ich unter sphärologischem Einfluß – alle Sprachen gegenseitig beherbergen und zugleich durch diese gegenseitige Beherbergung die Nat Sprache überhaupt erst eröffnen, die sie gemeinsam einräumen und einwohnen und in der sie sich gegenseitig ins Leben rufen, durchdringen und anerkennen: ohne Vermischung vereint und ohne Trennung unterschieden: Ineinandersein ohne jede Verschmelzung und Vermischung …

Sphärische Sprache also, diese Nat Sprache, aber, wie anfangs die Sprache des Werdens des homo fluidus, monologische Dichtung … unsere Sphärische Sprache durfte, wie wir ja schon wußten, nicht Gedicht sein und bleiben, mußte vielmehr Gespräch werden, Sphärisches Gespräch, in dem unsere Sprachen und mithin wir selbst aufgehoben gewesen wären, dieses Sphärische Gespräch wäre unsere Aufgabe gewesen …

[Improvisation auf der Violine, ganz kurz]

Leider war Maria nicht genug irdische Zeit vergönnt, unser Gespräch konnte nicht sphärisch werden. Aber es ist dicht geworden und geballt, und die dichteste Zusammenballung, mit der ich nun Maria und unser aller unsterbliche Freundschaft zu ihr ehren und feiern möchte, ist die Dialogische Ode an die Freundschaft – im Wortwandel mit Platon, Paul Wühr, Juan Liscano, Ernst Bloch und Octavio Paz, die eigentlich – ebenso wie unsere uferlose Collage – gedacht ist, von Maria und mir und noch einer dritten Stimme gemeinsam in Dreieinigkeit gelesen, eben Gespräch zu werden und nicht Gedicht zu bleiben  … Der Überlieferung zufolge – so lautet der erste Satz von Peter Sloterdijks Sphärologie – soll Platon am Eingang zu seiner Akademie die Inschrift angebracht haben, es möge sich fernhalten von diesem Ort, wer nicht Geometer sei. Marias Vermächtnis zu danken, die sie die Menschen, die Sprache und die Musik liebte wie kaum jemand sonst, Marias Vermächtnis zu danken, erklingen am Eingang zu unserer Dialogischen Ode an die Freundschaft die Worte: Es möge sich fernhalten von diesem Ort, wer nicht bereit ist, die Einsamkeit zu leugnen und das Ende zu negieren.

  1. Es scheint allerdings nicht überflüssig, den Leser auch an dieser Stelle nochmals zu verständigen, daß es in Wahrheit Martin Zühlke war, der nach einer Lesung von Stefan Grosser aus »tropfen, quellen, stehende gewässer« im September 2016 am Münchner Thomas-Mann-Stammtisch gesprächsweise den Begriff der Sphärischen Sprache zur Welt gebracht hat (vgl. »Quellen, Einflüsse, Zuflüsse«). ↩︎

4. Vorstellung: homo fluidus oder: Das Meer