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Band 4: Märchen aus der Metropolregion

Märchen aus der Metropolregion

Alle Figuren in diesen Märchen sind fiktiv,
auch wo sie realen Personen ähneln mögen.
Nichts, was einer Figur zugeschrieben ist,
bezieht sich auf eine reale Person.

Der Mann ohne Gewißheiten

Eines Tages wurde Kilian Engersiedl zu einem Unfall gerufen, dessen abenteuerliche Fol­gen ihm ein nie gekanntes Unbehagen erweckten. Er war damals, in den fernen Anfangstagen des Netzes, ein recht ungeselliger Schutz­polizist mit schlechtem Ruf bei seinen Kollegen, da er die Angewohnheit hatte, am Tatort mit sich selbst die literarischen Anspielungen des aufzunehmenden Verbrechens zu disku­tieren, und wenn er an solchen Tagen abends in seine düstere Junggesellenwohnung heimkam, so freute er sich dar­auf, sich in seinem Wohnzimmer vor seiner Bücherwand in einem Sessel niederzu­lassen und, abwechselnd Whiskeyglas und Zigarre in der einen Hand, die lateinamerikanische Kriminalliteratur nach Verweisen auf die verbrecherische Wirklichkeit zu durchstöbern, wobei er sich vorzüglich in Borges’ unge­heuerlichen Labyrinthen verlor. An diesem Tag jedoch verschlug es Kilian Engersiedl zum ersten Mal die Sprache, nicht etwa wegen des grotesken Grauens eines solchen beinahe schon alltäglichen Todes, sondern aufgrund einer kriminalistischen Kleinigkeit, die nie­mand außer ihm bemerkt zu haben schien: Am Vormittag hatte sich auf einer verkehrsreichen Straße der Innenstadt ein harmloser Auffahrunfall ereignet, der Fahrer, der nicht mehr rechtzeitig hatte bremsen können, stach den anderen Fahrer mit einem Messer in den Hals, säuberte angesichts des Todeskampfes des anderen mit einem Taschentuch seine Klinge und fuhr – dies alles den Zeugenaussagen am Unfallort zufolge – gelassen davon, seelenruhig und selbstverständlich, als hätte er sich nur kurz an der Ampel mit dem Freund im Wagen vor ihm ausgetauscht. Als man den Mörder einige Stunden später an seinem Schreibtisch verhaftete, stellte Kilian Engersiedl fest, daß der Auftritt der Polizei ihn weder über­raschte noch beunruhigte, er war sehr höflich (ja, guten Tag, meine Herren, kommen Sie doch herein, das ging aber schnell diesmal), erzählte unaufgefordert, daß der

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Kerl ihm wirklich auf die Nerven gegangen sei mit seiner ewigen Schleichfahrerei, und dann habe dieser Idiot plötzlich auch noch ohne ersichtlichen Grund gebremst, so daß er ihm hinten draufgefahren sei, und da habe es ihm gereicht, schließlich habe er heute sowieso nicht seinen besten Tag, und dann noch so was, da habe er einfach die Beherrschung verloren, leider habe er nicht sofort nach dem Unfall die Polizei verständigen können, da er es sehr eilig gehabt habe, aber er hätte die Herren auf jeden Fall – versprochen, Leute – noch an diesem Abend kontaktiert. Das Ein­zige, was diesen märchenhaft aufgeräumten Mörder ein wenig zu beunruhigen schien, war die Vehemenz, mit der die Polizisten ungeachtet seines freundlichen Lächelns und der vertraulichen Gesten seiner sehnigen Hände darauf bestanden, ihn zu begleiten. Natürlich blieb nicht nur Kilian Engersiedl ein wenig ratlos vor dem Verhalten dieses Herrn, auch sein Streifendienstkollege und die Kriminalpolizisten trauten augenscheinlich ihren Sinnen nicht so recht während dieses monströsen Theaters, aber nichts von alledem hätte Kilian Engersiedl – ein Verrückter, sagte er sich leichtfertiger als gewöhnlich, mit Auto-Geld-Macht-Hektik-Syndrom – aus seinem Gleichgewicht geworfen, hätte nicht ganz zum Schluß eine letzte unmerkliche Bemerkung des Täters, herabgelassen auf die Straße, als man ihn in einen Polizeiwagen tauchte, den Kern irgendeines kaleidoskopischen Welträtsels enthüllt: Meine Herren, es war der Jahresausgleich! Peter, Kilian Engersiedls Streifendienstkollege, be­stritt, als sie wieder alleine in ihrem Wagen saßen, diese Worte gehört zu haben, und maß ihnen auch, nachdem er sie sich mehrmals hatte wiederholen lassen, keine besondere Bedeutung bei, Kilian Engersiedl vermied es, noch einmal vor Peter darauf zurückzukommen, er fühlte sich nicht aufgewühlt, wie sonst, wenn er etwas mysteriös Literarisches entdeckt zu haben glaubte, er fühlte sich müde und bedrängt. Gedankenverloren aß Kilian Engersiedl an die­sem Tag früh zu Abend (am liebsten hätte er sich nur ein paar Knoblauchbrote geschmiert, aber er hatte Angst um seinen Atem, und so bereitete er sich lustlos ein fades Lammfilet zu, das in sei­nem Gefrierschrank überdauert hatte) und wollte nach dem Essen sofort, ohne die Lateinamerikaner zu konsultieren, zu Bett gehen, doch als er sich nackt mit der Zahnbürste im Mund im Badezimmerspiegel wiederfand, erlitt er zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Strom­schlag, wie er ihn früher regelmäßig aus seiner Zahnbürste oder seinem Rasierapparat empfangen hatte, bis eines Tages seine Eingeweide paralysiert worden waren und er Hilfe bei Wunderheilem und Wün­schelrutengängern hatte suchen müssen, um nicht moralisch den Verbrechern zu unterliegen, von denen er damals noch ausschließlich las: Jedesmal, wenn er sich am unbedarften Anfang oder am gedankenlo-

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sen Ende eines Tages, übernächtigt oder übermüdet, in der trügerischen Tiefe seines Badezimmerspiegels wiederholt sah, traf ihn das Entsetzen darüber, daß er der war, der er war, und Erinnerungen in seiner Zahnbürste und seinem Rasierapparat verbarg, die nicht nur seine, die die Würde jedes Menschen antasteten, Erinnerungen an Menschen, die er ver­gessen, da er sich ihnen offenbart hatte, Erinnerungen an sich selbst und an seinen Kollegen an diesem Abend, da er kein Jugendli­cher mehr war, sondern Polizist, was ihn nur in den Fiktionen mit sich selbst versöhnte, in Uqbar und in Tlön, wo allein einem Satz Wirklichkeit zukam. Kilian Engersiedl konnte sich an diesem Abend nicht ins Bett legen, er zog sich wieder an, um sich ins Ding an sich zu setzen, wo er sich ein oder zwei Mal in der Wo­che zu den einsamen Gesellen an der Bar zu gesellen pflegte, mit Simon zu sprechen, der ihm bei jedem Besuch fünf Whiskeys zugestand, Simon so groß wie ein Kleiderschrank und mit Händen, auf denen er zweimal vier Steaks hätte braten können, die er allerdings lieber dazu mißbrauchte, im Keller seines Einfamilienhauses das ganze Land als Modelleisenbahn nachzubauen – das Einzige, mit dem Simons Pranken nicht umgehen konnten, dachte Kilian Engersiedl, waren Messer, denn beim Brotschneiden verteilte der legendäre Barmann des Ding an sich die Brösel über die gesamte Theke, weshalb man ihn nicht Simon nannte, sondern Das Krümelmonster. Doch noch bevor Kilian Engersiedl seine Schnürsenkel gebunden hatte, verwandelte er sich, sperrte sich in seiner Wohnung ein, löschte alles Licht, schlich sich zu seinem Schreibtisch, belebte seinen Computer, kroch ins geisterhafte Licht der Bildschirmröhre und schickte einen Satz zur elektronischen Adresse seines Streifendienstkollegen Peter, die Bitte, ihm ein Gespräch mit jenem Freund bei der Kriminalpolizei zu ermöglichen, der in die Vernehmungen des Autotöters verwickelt war, Peter freilich, (Peter, mit dem er sich immer nur auf dem modernsten aller gerade offenstehenden Wege zu verständigen vermochte), Peter schwieg, also sprang Kilian Engersiedl auf, sprang auf seinen ersten Sessel und sprang eineinhalb Stunden lang lautlos lachend vom ersten Sessel auf den zweiten vom zweiten Sessel aufs Sofa vom Sofa auf den ersten Sessel, bis zur völligen Erschöpfung, in der er sich ein paar Knoblauchbrote (Butterbrote mit frischen Zehen) schmierte, eine Flasche Bier aus dem Kühl­schrank griff und sich wieder in seinen Computer setzte, in seine gesicherten ficciones, in die Datenbank aller bisher gedachten Zusammenhänge zwischen wirklichen und lateinamerikanischen Verbrechern, wo er al­lerdings keine Daten fand, die auf das Rätsel des Jahresausgleichs verwiesen hätten, weshalb er schließlich begann, die erste gesicherte Fiktion seines Lebens zu schreiben, die Fiktion eines Schutzpoli-

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zisten, der, um ein Verbrechen zu klären, die Fiktion eines Schutzpolizisten schrieb, der, um ein Verbrechen zu klären, die Fiktion eines Schutzpolizisten schrieb, der, um ein Verbrechen zu klären, die Fiktion eines Schutzpolizisten schrieb, der … bis aus der Unendlichkeit seiner Schutzpolizisten etwas erwuchs, nämlich einzelne Gesichtsteilchen der schreibenden Schutzpolizisten, die sich allmählich zu einem einzigen Schutzpolizisten verdichteten, wobei Kilian Engersiedl zur Zeugung des letztgültigen Schutzpolizisten nur jene Teilchen übernahm, die ihm einer Urform oder eines Verbrechers würdig erschienen, so daß bei Morgengrauen, als die Zeitung vor seine Wohnungstür flog, sich nur ein Nasenflügel und eine Augenbraue des letztgültigen Schutzpolizisten materialisiert hatten, doch als Kilian Engersiedl in der Zeitung das Foto des Autotöters sah, da konnte er nicht umhin, dessen sehnige Lippen und linkes Ohrläppchen, das aussah wie ein halbes vierblättriges Kleeblatt, dem beginnenden Schutzpolizisten hinzuzufügen, und Peter mußte er nun um nichts mehr bitten, da die Lösung des Jahres­ausgleichs bereits seit ewigen Zeiten in den ficciones geschrieben stand.

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Peter Umml, Kilian Engersiedls Streifendienstkollege, hatte oft mit seiner Frau über Engersiedls wunderliches Verhalten gesprochen und war irgendwann ihrer Weisung gefolgt, sich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten, um von dem Taumel, der bisweilen in seinen Pupillen tobte, nicht mitgerissen zu werden. Peter Umml war der ein­zige Polizist, der sich mit (und mit dem sich) Kilian Engersiedl hin und wieder abgab, obwohl er ihn in Gegenwart der anderen Kollegen oft genug verspottete, um Lacher zu heischen und sich seiner eigenen geistigen Gesundheit zu versichern. Anfangs hatten sich Kilian Engersiedl und Peter Umml rasch gegenseitig vertraut, um sich nach der ersten Verabredung im Ding an sich ebenso rasch wieder zu entfremden, denn Kilian Engersiedl hatte seinem Kollegen schon nach dem zweiten Whiskey allzu Vertrauliches anzuvertrauen gehabt, hatte mit tränengeschmierter Stimme seine Unfähigkeit ausgebreitet, mit Menschen zu tun zu haben, weil Menschen immer nur mit Menschen zu tun haben wollten, die nichts mit ihnen zu tun haben wollten, und hatte ihm dann übergangslos, in peinvoller Feierlichkeit, seine absur­desten … [Um den hier fehlenden Abschnitt zu lesen, wechseln Sie bitte zum Abo-Zugang.], woraufhin Peter Umml am nächsten Tag von seinem Kollegen so flehentlich um ein weiteres Treffen gebeten wurde, daß er kleinbeigeben mußte, um nicht von seiner Dienstwaffe Gebrauch zu machen. Am Abend im Ding an sich jedoch war Kilian Engersiedl verwandelt, gab Witze und scherzhafte Anekdoten vom Krümelmonster und von seinen traurigen Begegnungen mit Mädchen und Frauen zum Besten, die der unheilvollen Obsession verfallen seien, immer von brutalen Männern zärtlich behandelt werden zu wollen, nie von brutalen brutal oder von zärtlichen zärtlich, nicht einmal von zärtlichen brutal, obwohl das – wie er an sich selbst festgestellt zu haben glaube – sicherlich eher möglich

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wäre als ersteres. Peter Umml war so erleichtert über den verwandelten Kilian Engersiedl, daß er sich selbst nicht wiedererkannte, ihn zum sechsten Whiskey und sogar fürs nächste Wochenende zu sich nach Hause einlud, bis Kilian Engersiedl in einem Augen­blick vertraulichen Schweigens ihm aus einer haßverzerrten Grimasse heraus ins Ge­sicht spuckte und sofort winselnd und heulend und vergeblich um Verzeihung bat. Wochenlang sprachen die beiden kein überflüssiges Wort, bis Peter Umml eines Morgens seufzend einen guten wünschte und sofort erfuhr, daß Kilian Engersiedl seit jeher, wann immer er sich mit jemandem besonders gut verstehe, von der Angst überfallen werde, dem Be­treffenden ins Gesicht spucken zu müssen, und daß Peter Umml sich somit auf seine Spucke eigentlich eine ganze Menge einbilden könne. Abends wartete Peter Umml eineinhalb Stunden lang vergeblich im Ding an sich auf Kilian Engersiedl, der sich erst am nächsten Tag und damit entschul­digte, daß er auf der Straße durch einen Unfall aufgehalten worden sei und sich gedacht habe, er komme lieber gar nicht als zu spät. Seither sprachen die beiden inkompatiblen Kollegen nur noch über Dienstliches und diskutierten ab und an mit ihren Computern die Poesie des Verbrechens. In Gegenwart seiner Frau hatte Peter Umml zu seinem eigenen Erstaunen gesagt, Engersiedl sei unzugänglich und beliebig. Aus diesem Grund hatte er sich am Tag des ersten Mordes geweigert, das Wort Jahresausgleich aus dem Mund des ersten Mörders zu hören und mit Kilians spuckendem Mund zu diskutieren, und am Abend hatte er sich seinem Computer nicht einmal genähert. Drei Tage später hielt Kilian ihm einen Fetzen Papier vor die Nase, angeblich einen Ausschnitt aus der heutigen Zeitung, der be­richtete, daß in einer kleinen Ortschaft, wenige Minuten jenseits der Stadtgrenze, ein junger Raser einen alten Radler totgefahren und am Tatort zur Polizei gesagt habe (und deshalb sei es laut Kilian Engersiedl unter Vermischtes erschienen, den kuriosen Episoden), daß ihm eure Gesetze vollkommen egal seien, er scheiße darauf, was erlaubt sei, und so lange er noch niemanden getötet habe, fahre er Auto, wie er wolle, ihm gehe es ums Fahren, nicht ums Töten, er habe auch noch nie seinen türkischen Nach­barn erdrosselt, weil der zu viel Lärm mache, wenn er seine Alte verprügle, und den Mord an seiner Mama habe er auch noch nicht geplant, das letzte Mal, daß er irgendeinen überfahren habe, sei bestimmt schon drei oder vier Jahre her, nicht wahr? Sie streiften gerade im Wagen umher, Kilian saß am Steuer, Peter las auf dem Beifahrersitz mit einigem Unbehagen den Artikel und bat durch das Seitenfenster den Innenstadtverkehr um Rat, als er auf der großen Kreuzung,

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einem ungestalten Platz, der zu fünf Krümmungen zerfloß, bemerkte, daß in einer schmalen Einbahnstraße ein Auto im Halteverbot dem Linienbus die Durchfahrt versperrte, dahinter stauten sich die anderen bereits bis zum Horizont und der Busfahrer drohte, sich seinen Weg freizuschießen. Die Polizei stellte sich, entgegen der Einbahn, an die Spitze des Staus, und als Kilian und Peter ihrem gemeinsamen Gefährt entstiegen, jubelte ihnen ein begeisterter Zivilist entge­gen – PolizeiPolizei –, der sie den tobenden Busfahrer vergessen machte, denn die Herren Kommissare möchten doch bitte mitkommen, er müsse ihnen zeigen, was er angestellt habe, er habe getötet, aber so wunderbar schön, daß die Herren Kommissare wirklich hingeris­sen sein würden, kommen Sie, Kilian und Peter drängten den Herrn in den Streifenwagen, riefen Verstärkung und wurden zu einem alten, aufgelassenen Fried­hof gelenkt, den Kilian kannte, hier spazierte er an besonders heißen Sommertagen und bewunderte die hundert Jahre alten Grabsteine, während sich die Geräusche der Stadt und der Sonne in den hohen Baumkronen fingen, mit ihren Dienstwaffen im Anschlag folgten die beiden Polizisten dem begeisterten Herrn und wurden schließlich vor einen Grabstein gestellt, der unter einem phantastischen Muster aus Haut, Fleisch und Blut begraben war, verderblichen Ornamenten einer hundert Jahre alten Frau, die der liebenswürdige Herr auf – wie er immer wieder betonte – sehr schöne Weise für die Löcher in seinen Pullovern und Hemden verantwortlich gemacht hatte: In seiner Wohnung stak ein nutzloser Eisenhaken in der Wand, an welchem ein ums andere Mal, wann immer er das Licht in der Küche ein- oder ausschalten mußte, sein Ärmel hängenblieb, und nachdem er so seiner teuersten Textilien verlustig gegangen war, wollte er sich rächen, brachte bei seinem Vermieter in Erfahrung, daß der Haken vom Vormieter seines Vormieters stammte, machte jenen unter landesweit vierundneunzig gleichen Namen in einer Stadt im hohen Norden ausfindig, indem er achtundsechzig anrief, unterhielt sich mit dem Vorvormieter sehr einfühlsam über die gemeinsame Wohnung, notierte in Gedanken den beiläufig erfragten Namen seiner Mutter, machte diese auf dieselbe Art in einer anderen Stadt im ebenso hohen Norden ausfindig und ihr weis, daß er vom Fernsehen komme und bewegende Lebensgeschichten recherchiere, blieb zum Kaffee bei der alten Dame und kam mit sich überein, nicht die Mutter zu zerstückeln, sondern eine uralte Freundin der nämlichen, von der jene mit gro­ßer Dankbarkeit sprach, da diese sie vor einem halben Jahrhundert mit einem Mann bekannt gemacht habe, der schließlich der Vater ihres einzigen Sohnes geworden sei, er entführte die hundertjährige Freundin der Mutter des Vorvormieters seiner Wohnung in seine Heimatstadt, fesselte sie, zersägte sie auf dem

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wunderschönen Friedhof mit einem Schneidbrenner in – er habe genau gezählt – neunhunderteinundzwanzig Teil­chen und schmückte mit der vielteiligen Oma, den phantastischen Mord zu vollenden, einen romantischen alten Grabstein, was, so der Töter zu den sprachlosen Polizisten, die schönste Tötung seines Lebens sei, er habe zwar schon einige Jahresausgleiche hinter sich, aber das sei wahrlich der schönste, er sei ein großer, ein begeisterter, ein hingerissener Anhänger des Gesetzes, und er finde es herrlich, daß nur eine einzige Tötung pro Jahr gestattet sei, denn so müsse man sich, wenn man nicht so primitiv sei wie die meisten und sich vom Zorn eines einzigen Augenblicks überwältigen lasse, so müsse man exakt projektieren, wen man zu entleiben gedenke, und müsse ausgeklügelte Konzeptarbeit leisten, das sei gleichsam ein Strategiespiel der Urtriebe, und so schaffe das Töten auch besonderen Frieden und beschere das größte Glück, immer wieder die endgültige Sinnstiftung eines jeden Jahres, Töten mache Sinn, hier habe dieser ansonsten gräßliche Amerikanismus seinen Platz in der deutschen Sprache, nur müsse man natürlich aufpassen, daß man nach seinem Jahresausgleich sich nicht doch noch einmal von irgendje­mandem so auf die Palme bringen lasse, daß man einen Mord begehe, denn dann gehöre man natürlich ins Gefängnis, aber, meine Güte, das müsse er den Herren Kommissaren un­bedingt noch erzählen, einmal habe er es tatsächlich geschafft, einen legalen Doppelmord zu begehen, wahrscheinlich würden sich die Herren sogar erinnern, schließlich sei er damals eine Berühmtheit in den einschlägigen Medien gewesen, und bei der Erinnerung an dieses makellose Meisterwerk komme er wirklich ins Grübeln, ob nicht doch dieser Doppelausgleich seine schönste Tat gewesen sei und vielleicht sogar unüber­trefflich, einmal habe er sich mit Vorsatz auf eine Silvesterparty einladen lassen, habe sich im Laufe der spannendsten und erregendsten Vormitternachtsstunden seines Lebens äußerst gewissenhaft die beiden unsympathischsten Gäste erwählt, um mit ihnen um Mit­ternacht aufs neue Jahr anzustoßen, und dann habe er den ersten um dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig und siebenundfünfzig Sekunden und den zweiten um null Uhr null und zwei Sekunden erschossen, so daß der erste das alte Jahr und der zweite das neue Jahr ausgeglichen habe, er habe sich fast totgelacht, das Problem sei halt nur gewesen, daß er dann das ganze Jahr niemandem mehr das Licht ausknipsen durfte, aber das war es wert, das hat solchen wahn­sinnigen Spaß gemacht, und die Polizisten hättet ihr sehen sollen, die waren ganz platt und haben mir ehrfurchtsvoll gratuliert, die Anerkennung der Polizei, müßt ihr wissen, die Aner­kennung der Polizei ist mir ganz besonders viel wert.

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Maximilian Gabriel arbeitete im Planetenpark, einem Glaspalast, in dem die Erde nachwuchs, um von Wissenschaftlern erforscht zu werden, doch für Maximilian Gabriel, der kein Wissenschaftler war, war der Planetenpark der unerschöpfliche und phantastische Tier- und Pflanzenpark der Welt, denn Maximilian Gabriel führte Tag für Tag Touristen auf hohen und sicheren Wegen über tropische Regenwälder, Wüsten, Savannen, Seen, Meere und Berge, um sie innerhalb weniger Stunden über die Welt zu geleiten, deren große Freiheit in der Gefangenschaft eines kleinen Universums gedieh. Am frühen Morgen schon kamen die ersten Menschen, um bis Mittag alles gesehen zu haben, und Maximilian Gabriel hatte vor der nachmittäglichen Führung nicht einmal mehr Zeit, etwas zu essen, so daß es oft geschah, daß seine Brote und Bananen den Affen und Riesenschlangen zum Opfer fielen, die sich in den Regenwäldern durch die Baumwipfel schwangen, während Maximilian Gabriel zum zweiten Mal das Leben der Tropen besang. Eines Morgens, als er eben in seiner Wohnung daran dachte, einer erschrockenen Touristin die Schreie der Tasmanischen Beutelteufel zu erklären, hatte Maximilian Gabriel seine Gewißheiten verloren. Er wußte es sofort, da er sich plötzlich leicht und luftig fühlte und weder seinen Körper noch seine Gedanken spürte, die sonst auf seinen Knochen lasteten wie Rost, auch seine Träume spürte er nicht, die dem Erwachen gewöhnlich die Konsistenz eines versunkenen Frachtschiffs verliehen. Er sprang in sein Badezimmer und versuchte, sich in seinem Spiegel wiederzuerkennen, in dem er sich erschrak, als es ihm gelang, obwohl er weder seinen Spiegel noch die Gänge seiner Wohnung wiedererkannte, da der Raum die Dinge verlassen zu haben schien, sogar seine Fußsohlen schmeckten den Boden nicht mehr, über den er ins Freie floh, etwas zu finden, das einer Gewißheit oder auch nur einer Meinung glich, doch er

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mußte Wurzeln schlagen und sein Gedächtnis aufwühlen wie eine Schatztruhe schmutziger Wäsche, um im Grundwasser unter seinen Haarwurzeln auch nur das Skelett eines ertrunkenen Wortes zu finden, dessen Bedeutung er nicht erahnte, bis ihm auffiel, daß er barfuß mitten auf der Straße stand und auf der Suche nach einer Synapse in seinem Gehirn seinen Körper verzerrte, als rührte er mit seinen Gebeinen in einem Bottich voller flüssigem Käse. Drei Tage lang verbarg Maximilian Gabriel sich zwischen seinen Wänden und versuchte, wiederzufinden, was er meinte. Doch er konnte nur meinen, was er sah, er meinte seinen Papierkorb oder den Glaskakadu zwischen seinen Tierskeletten, er schaffte es nicht, in seinem Kopf etwas aufzustöbern, das er als eine Meinung hätte erkennen können, die zu vertreten oder zu verwerfen gewesen wäre, irgendwann wollte er mit einem Bleistift seinen Schädel spalten, um mal mit eigenen Augen nachzusehen, doch er krabbelte lieber durch die weltweiten Fluchten seiner Wohnung und überzeugte sich von der wundersamen Durchlässigkeit seiner Dinge. Irgendwann wußte er Computer, wo er sofort etwas wiederfand, denn dort hieß es, wir sind gekommen, Sie zu fragen, ob Ihnen etwas fehlt, woraufhin Maximilian Gabriel schreiend die Rückkehr seiner Gewißheiten feierte, bis er las, daß die römischen Faustkämpfer einen eisenbeschlagenen Panzerhandschuh trugen, was ihm ebenso wahr und unwiderruflich gewiß erschien, so daß er wieder unter seinen Schreibtisch verzog, wo er hergekommen war, und unter seinen Finger- und Zehennägeln nach Worten forschte. Erst an den Sätzen seiner Bücher konnte er sich ein wenig beruhigen, denn sie waren, wie alles andere, seine Meinung. In der dritten Nacht brachte ihn der Satz Er schwitzte Eis vor Schmerzen ins Bett, und da er am nächsten Morgen wieder seinen Wecker hörte, stand er auf und fuhr zur Arbeit in den Planetenpark. Die Wissenschaftler, die seit drei Tagen ihre Forschungen vernachlässigten, setzten ihn nur deshalb nicht frei, weil sie wußten, daß er alleine auf der Welt war, und als er aus dem Büro hinaus ans Ufer der Tropen trat, wo ihn bereits eine Touristengruppe erwartete, traf ihn das Gesicht des Dschungels, der seinen Stahlweg nach ihm auswarf wie eine Riesenkröte ihre Zunge, wie sein Spiegelbild. Er besiegte den Impuls, sich in die Bäume zu stürzen und zu den Affen an die Theke des Schlaraffenlandes zu gesellen, öffnete das Tor zum sicheren Stahlweg, der hoch oben in den Baumkronen den Urwald durchdrang, und trat mit den Touristen im Schlepptau seine allmorgendliche Weltreise an. Viele Monate lang glaubte Maximilian Gabriel in der Begeisterung über den Verlust seiner Gewißheiten, in diesem Verlust (oder in dieser Begeisterung) eine neue, magische Existenz gewonnen zu haben, da seine ganze Welt von ihrem Hintergrund gelöst und zu

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einer farbechten Urform reduziert worden war. Er hatte an jenem Tag nicht gehört, wie er den Menschen vom Regenwald sprach, Tiere und Pflanzen benannte, er hatte nicht gewußt, woher die Worte kamen, die er sprach, er hörte sie zwar, aber sein Sinn schien daran abzuperlen wie an einer unhörbaren, nie geborenen Sprache: Die Landschaft, die er sah und die er zu kennen schien, da er sie den anderen kenntlich machte, erschien ihm endgültig, unbegreiflich, so klar und von so niederschmetternder Tiefe, daß er glaubte, durch ein Gemälde zu schreiten oder durch einen Satz, jede unvermittelte Wandlung des Klimas und des Lebens übte eine Gegenwart auf ihn aus, die ihn in die umgreifende Sprinkleranlage verwandelte, aus der er als Regen zurück auf die Erde fiel. Morgens stieg er mit seiner Gefolgschaft über die Falltreppen des Stahlwegs in den Regenwald, in die Savanne und die Wüste hinab, was den forschenden Wissenschaftlern vorbehalten war, setzte die dankbaren Touristen den fleischfressenden Pflanzen, den Riesenspinnen, Klapperschlangen, Skorpionen, Löwen und Leoparden aus, abends badete er sie in den Seen, Flüssen und Salzwassertümpeln (Meeren), nachdem er sich mit ihnen ins Hochgebirge verstiegen hatte, dessen Leben, wie jedes andere, früher nur von oben, vom Stahlweg aus beobachtet worden war, der unbeirrbar gradlinig über die ganze Erde floh, niemand wollte die gemäßigten Zonen betreten, und der Norden und Süden mit seinen Eiswelten und Wintersteppen war ungangbar – er vergaß all seine Reiseberichte über den innersten Zusammenhalt der Erde und verwandelte den Touristen lieber heißluftballongroße Blüten, Vögel wie Ameisen, stählerne Kakteen und Sandkörner von den Ausmaßen leidenschaftenerregender Diamanten an, die in der glühbirnenfarbenen Wüstensonne pulsierten wie philosophisches Eis. (Die Wissenschaftler übersahen die Anmaßungen des Reiseführers, da die Touristen sich unter der neuen Führung vervielfacht hatten, viele Touristen kamen zweimal oder blieben den ganzen Tag, um nicht die Höhepunkte des Vor- oder die des Nachmittags zu verpassen.) Maximilian Gabriels Höhepunkte in diesen Monaten waren seine unverständlichen Gespräche mit den Touristen und seinem Computer. Er wußte nichts mehr … und war nicht mehr von jedem Satz in Frage gestellt, jedes Wort ergriff wie zu Beginn vollkommen von ihm Besitz, so daß er sich anfangs, sobald er etwas hörte, grimassierend gegen die Gewässer wehren mußte, in die er fließen wollte, später traten seine unablässig zurückkehrenden Gewißheiten nur noch in einem lächerlichen Ohrenzucken zutage. Vor dem Computer allerdings, abends, nachts, ergab er sich seinem Sinn, hüpfte berauscht durch seine Fluchten und hielt nur augenblicks-

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weise inne, um auf das Netz zu hören. In den Falternebeln und Kolibriwolken des Regenwaldes, in den Datteloasen der Wüste oder in den verlorenen Lagunen am Rande der Welt: überall auf der Erde kamen die ihm Anvertrauten leise, abseits der anderen, zu ihm, um ihm ihre Sätze zu geben. Wenn er in vertraulicher Übereinstimmung mit Mördern im Glück und im Grauen des Tötens, in den intimsten Dämonen der Macht, in Dichtern und Humanisten, mit Hausfrauen in den klebrigen Exkrementen der Blattläuse, mit Staatssekretärinnen, Richterinnen und Lehrerinnen in den Leerstellen des Seins, mit Tankstellenbesitzern im Gestank und mit ihren Söhnen im Duft von Benzin, in heimlichen Kommunisten und in verfassungstreuen Kriegern, mit Lesern in der Bedeutung und mit Leserinnen in der Bedeutungslosigkeit der Bücher, mit Politikern und Polizisten im Gesetz und mit Spiegelbildern im Menschen sprach: Nie war er anderer Meinung, denn seine Meinung war immer der andere. Menschen waren ihm ebenso einleuchtend und zwingend wie Papierkörbe, Königskrabben und Affenbrotbäume. Denn seine Gedanken, – glaubte Maximilian Gabriel viele Erdzeitalter später zu wissen, nachdem er mit seinen Touristen in den Planetenpark eingegangen war –, seine Gedanken gingen nicht mehr auf die Dinge und Menschen zu, sie gingen von ihnen aus, die ihm zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl entgegenbrachten, Mensch zu sein. Unter einer weiten olivgrauen Schirmakazie, in deren Schutz man eine Elefantenherde studierte, die einige hundert Meter entfernt den Waldrand zerlegte, kam eines Tages eine junge Frau auf ihn zu. Sie sagte, sie wisse nicht, was sie ihm sagen solle, und das mache sie sehr traurig, denn diese Welt unter Glas sage doch bestimmt auch sehr viel zu der anderen Welt unter dem Nichts. Augenblicklich wußte Maximilian Gabriel, daß sein kurzes Menschsein ihn entmenschlicht hatte. Am Abend vor dem Computer kam er zu dem Schluß, daß er sich endlich wieder begrenzen müsse. Schon während der letzten Wochen war doch die Faszination des grenzenlosen Lebens ohne Gestalt langsam einem namenlosen Unbehagen gewichen: einem gestaltlosen Leben ohne Grenzen. Lange Zeit versuchte Maximilian Gabriel nun, sich Grenzen zu setzen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er hatte keine Grenzen. Wenn er am Abend der eine war, wurde er am Morgen der andere. Wenn er am Abend etwas wußte, glaubte er am Morgen etwas Entgegensetzliches. Wenn er etwas meinte, sprach er das Gegenteil. Maximilian Gabriel war in der unbekannten Lebendigkeit seiner phantastischen Welt tot wie ein Haufen Steine. Dann jedoch entsann er sich der wunderbaren Monate ohne Gewißheiten, seufzte vor dem Computer und resignierte im Glück.

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Nach dem Massaker auf dem Gräberfeld vergaßen Kilian Engersiedl und Peter Umml ihre gegen­seitigen Geschichten und sprachen wieder miteinander. Peter Umml teilte nun angesichts des beunruhigenden Gesetzes Kilian Engersiedls Unbehagen und wagte sogar, mit ihm im Streifenwagen und im Computer über die unheimlichen Bluttaten zu diskutieren, und Kilian Engersiedl teilte Peter Ummls ausgesprochene Überzeugung, daß ihr plötzlich geteiltes Unbehagen sich aus einer epidemischen Geisteskrankheit der Moderne speise. Den Menschen, sagte und schrieb Peter Umml, sei in diesem Staat die Würde des Menschen nicht mehr heilig, weil ihre Würde oberstes Staatsziel sei, und Kilian Engersiedl gab zu, daß die Existenz eines Gesetzes, das den Fanfaren des Hakenmörders Sinn verlieh, undenkbar war. Zwar hatte Kilian Engersiedl nächtens in seinen Fiktionen entdeckt, daß die Aussagen des ersten und zweiten Mörders Hinweise auf – wie er sagte und schrieb – die Möglichkeit des Gesetzes enthielten, aber ein solches Geheimnis war selbst dem poetischen Gemüt Kilian Engersiedls zu poetisch, und da sich am nächsten Morgen im Streifenwagen das Tageslicht wieder auf die Sonne berief, erklärte er Mörder und Morde für verrückt. Nachts vor seinem Computer gab Kilian Engersiedl die Unend­lichkeit seiner Schutzpolizisten auf, in der sich ohnehin erst Nase, Augenbrauen, Lippen, Ohren, Stirn, Kinn, Haare, Wangenknochen und Pickel materialisiert hatten, und beschränkte sich darauf, Antworten auf die immer freundschaftlicher anmutenden Daten seines Streifendienstkollegen zu ersinnen, (so tippte er auf die noch nie gestellte Frage, warum er sich denn für die Polizei entschieden und nicht lieber Literatur und Philosophie studiert habe, daß er zwischen diesen beiden konstruierten Alternativen keinen Unterschied kenne), und zum ersten Mal seit dem ersten legendären Auf­fahrunfall ließ er sich wieder nach dem Abendbrot mit Whiskey und Zigarre

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in seinem dü­steren Wohnzimmer vor seiner Bücherwand in einem Sessel nieder und verlor sich in lateinamerikanischen Kriminalgeschichten, wobei er es nun vorzog, sich aus Borges’ unfaßbaren Labyrinthen von der handfesten Gegenwart Litumas vertreiben zu lassen. Kilian Engersiedl überlegte schon, ob er nicht erwarten dürfe, von Peter Umml mal wieder zu einem Besäufnis im Ding an sich geladen zu werden, da wurde er eines Abends, da er sich gerade auf einer riesigen Havanna durch die peruanische Ödnis paffte, in seinem Sessel von einem unaufhörlichen Schluchzen verstört. Irgendwann erhob er sich und schritt im Bücherlicht seine Wände ab, hinter denen er das Unaufhörliche vermuten durfte, preßte sein Ohr gegen den Putz, bis ihm das Licht aufging, daß es seine Nachbarin war, in deren Adern seine unerträglichen Erinnerungen flossen, weshalb er ins Treppenhaus hinaustrat und an ihre Wohnungstür klopfte. Das Schluchzen verstummte, doch es dauerte lange, bis sie öffnete: überall rot, auch im Gesicht, die Tränen wuschen ihr die Spritzer von den Wangen, so daß es aussah, als weine sie Blut. Über ihrer Schulter sah Kilian Engersiedl im Flur die Leiche. Er hatte seine Nachbarin geliebt, als sie hier einzog, nachdem sie ihren Mann und ihre kleine Tochter verlassen hatte, weil sie nicht sagen wollte, warum, und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr jeden Morgen, wenn er zu den Polizisten ging, seine ausgeweidete Zeitung vor die Tür zu legen, was ihr anfangs Freude gemacht hatte, bis sie plötzlich ihre Zeitungen nicht mehr in ihre Wohnung holte, und Kilian Engersiedl sie im Treppenhaus zu stapeln begann und eines Abends durch seinen Spion verfolgte, wie die Hausmeisterin sie bat, das alte Papier doch endlich wegzuwerfen, worauf sie die Zeitungen gehören nicht mir, die deponiert mir der Nachbar immer vor der Tür und die Hausmeisterin ihm die Zeitungen auf den Fußabstreifer pfefferte. Kilian Engersiedl depo­nierte ihr auf der nämlichen Stelle einen Brief, in dem er sie um Verzeihung bat, von ihrem Allacher Akzent und ihren Waden schwärmte, doch sie hatte das Papier diesmal wohl einfach gegessen, weil sie nie ein Wort davon erwähnte. In ihrer Wohnung war immer Sommer, sie selbst im Januar in Hotpants, wenn sie im Rausch mal wieder un­angemeldet bei ihm erschien, mit ihrem Sektkelch zwischen den Propellerfingern, sich wortlos durch seine Wohnung wand und nicht mehr abschwirrte, bevor sie ihn nicht an ihrem Prosecco hatte nippeln lassen. Jetzt waren ihre mangoförmigen Waden unter den Hotpants blutbefleckt. Ihr Gesicht hatte sie gewaschen, die Tür zum Flur, in dem die Leiche lag, geschlossen, und auf ihrer Couch gab sie Kilian Engersiedl diesmal sogar ein eigenes Glas. Sie hatte sich mit all ihrer Kraft ge­gen das Gesetz gewehrt. Sie war auf die Straße gegangen, mit vielen anderen, hatte sogar den bewaffneten Kampf erwogen, aber

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Regierung und Parlament hatten sich nicht beirren lassen, das Gesetz wurde beschlossen, und die Menschen fingen an, auszugleichen. Sie zeigte Kilian Engersiedl ihre Zeitungssammlung aus jener Zeit, und Kilian Engersiedl, der diese Sammlung selbst vor ihrer Tür angelegt hatte, hatte noch nie Derartiges gelesen: Schon viele Monate zuvor war das Jahresausgleichsgesetz in Kraft getreten, so genannt, weil im Anfang die Überlegung war, daß der moderne Mensch immer mehr Streß und Un­annehmlichkeiten von seinen Mitmenschen und vom menschlichen Leben im allgemeinen zu gewärtigen habe und daß deshalb, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden, dem Individuum ein Ausgleich für seine gesammelten Aggressionen gewährt werden müsse, der Jahresausgleich, und der sah so aus: Jedem Staatsbürger wird eine Tötung pro Jahr ge­stattet, die Jahresausgleichstötung, das heißt, das Töten eines Menschen ist zwar nach wie vor rechtswidrig, bleibt aber straffrei, falls es die erste Tötung des Töters seit dem ersten Ersten null Uhr null desselben Jahres ist, Mord, Totschlag in jeder Abart wird zur Jahres­ausgleichstötung, die zweite Tötung innerhalb eines Jahres allerdings wird ohne jede Rück­sicht auf Streß und Unannehmlichkeiten nach altem Recht geahndet, der Jahresausgleich wird wieder zu Totschlag und Mord mit Freiheitsentzug bis zu Lebenslänglich. Viele hatten gegen das Gesetz protestiert, viele hatten es begeistert begrüßt, viele hatten es akzeptiert, wie man ein Gesetz akzeptiert, Kilian Engersiedls Nachbarin hatte es bekämpft, (Kilian Engersiedl selbst hatte es übersehen), und als das Gesetz verabschiedet war, war sie zu Bürgerinitiativen und Vereinen desertiert, die den Menschen in Aufklärungskampagnen begreiflich zu machen versuchten, daß Töten, auch wenn der Gesetzgeber es gestatte, nicht gestattet sei, doch im Laufe der Monate begannen selbst die friedlichsten Gegner des Jahresausgleichs zu töten, niemand empörte sich mehr, das Gesetz wurde selbstverständlich und uninteressant. Zwar gab es nach wie vor Zeit­schriften, ausschließlich dem Jahresausgleich gewidmet, die alle besonders spek­takulären, grausamen, grotesken, lustigen oder aufschlußreichen Fälle in Bild und Wort dokumentierten, aber die Auflage war eher dem menschlichen Bedürfnis nach Auf­regung denn dem nach Aufklärung geschuldet. Auch die Regierung gab einen Bericht her­aus, das Jährliche Statistische Weißbuch zum JAgleiG, bedeutsam für Politik und Wissen­schaft. Sie wollte es nicht glauben, daß der Mensch sein Bedürfnis nach Gewalt nicht überwinden könne, immer noch Feindin des Gesetzes, hatte sie heute abend ihren Vater ersto­chen: Ein reicher Vater, doch schon als Vierzehnjährige hatte sie jeden Tag nach den Hausaufgaben ar­beiten müssen, und seitdem sie sich von ihrem Mann getrennt und freiwillig auf sein Geld verzichtet hatte, um selbst auch mal wieder Mensch zu sein, stand ihr Vater manch­mal in ihrer Wohnung, um ihr zu sagen, daß er zwar nicht akzeptieren könne, daß sie ihre Familie verlassen habe, aber noch weniger habe er es akzeptieren können, daß sie als

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Ehefrau nach den Hausaufgaben nicht habe arbeiten müssen, und so habe er sich entschieden, sie wieder als Alleinerbin einzusetzen, vor seinem Tod allerdings bekomme sie nichts, auch wenn sie ihr ganzes Geld im sinnlosen Kampf gegen das Gesetz verbrate, von ihrer Idealistensekte müsse sie sich so ausnehmen lassen, daß Kilian Engersiedl bald keine Nachbarin mehr haben werde. Nie hatte sie ihren Vater umbringen wollen, sie hatte im­mer gedacht, sie habe nie daran gedacht, doch heute war er zu ihr gekommen und hatte ihr eingeflüstert, sogar in dem gänzlich un­wahrscheinlichen Fall, daß sie ihren Vater zu ihrem Jahresausgleich mache, werde sie ihn alleine beerben, und da sie schon ein wenig Prosecco getrunken hatte, war zu ihrem Ent­setzen ihr Küchenmesser in seiner Bauchschlagader verschwunden. Was habe das Gesetz nur aus den Menschen gemacht, klagte sie ihrem Nachbarn, ohne Jagleig hätte sie ihren Vater, obwohl er ein Schwein sei, niemals geschlachtet, doch wenn ihm keine Strafe mehr drohe, dann ver­gesse der Mensch auf der Stelle, daß er Mensch sei, da helfe kein Gewissen, kein Wissen, keine Bildung, keine Aufklärung, und wie absurd sei das doch (und deswegen werde sie sich nächstes Jahr selbst zu ihrem eigenen Jahresausgleich machen), wie absurd und ekelerregend sei es doch, daß sie, wenn man es genau bedenke, ihren Vater nur deshalb ermordet habe, um auch weiterhin gegen das grassierende Morden kämpfen zu können, amen. Erst die Sperrstunde erlöste Engersiedl an diesem Tag … [Um den hier fehlenden Abschnitt zu lesen, wechseln Sie bitte zum Abo-Zugang.]

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Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbestimmten, vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Luftschächten in der Mitte, eingefaßt von sehr niedrigen Geländern. Von jedem Sechseck kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne Ende. Die Anordnung der Galerien ist immer gleich. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien; ihre Höhe, die des Raums, übertrifft kaum die eines normalen Bibliothekars. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie, genau wie die erste, wie alle, einmündet. Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzige Kabinette. Im einen kann man im Stehen schlafen, im anderen seine Notdurft verrichten. Hier führt die Wendeltreppe vorbei, die in den Abgrund hinab und in die Ferne hinauf steigt. Im Gang ist ein Spiegel, der den Schein getreulich verdoppelt. Die Menschen schließen gewöhnlich aus diesem Spiegel, daß die Bibliothek nicht unendlich ist (wenn sie es wirklich wäre, wozu diese scheinhafte Verdoppelung?); ich träume lieber, daß die polierten Oberflächen das Unendliche darstellen und verheißen … Licht kommt aus ein paar kugelförmigen Früchten, die den Namen »Lampen« tragen. Es gibt deren zwei in jedem Stockwerk, seitlich angebracht. Ihr Licht ist ungenügend, unaufhörlich. Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend gereist, ich bin gepilgert auf der Suche nach einem Buch, vielleicht dem Katalog der Kataloge; jetzt, da meine Augen kaum entziffern können, was ich schreibe, stelle ich mich darauf ein, wenige Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren wurde, zu sterben. Wenn ich tot bin, wird es genug mitleidige Hände geben, mich über das Geländer zu werfen; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich im Wind des unendlichen Sturzes zersetzen und auflösen. Ich behaupte, daß

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die Bibliothek unendlich ist. Die Idealisten argumentieren, die sechseckigen Säle seien eine notwendige Form des absoluten Raums, oder zumindest unserer Anschauung des Raums. Sie geben zu bedenken, ein dreieckiger oder fünfeckiger Saal sei unfaßbar. (Die Mystiker behaupten, die Ekstase offenbare ihnen ein kreisförmiges Gemach, mit einem großen kreisförmigen Buch, dessen Rücken rund um die Wand läuft; aber ihr Zeugnis ist verdächtig; ihre Worte sind dunkel. Dieses zyklische Buch ist Gott.) Hier und jetzt will ich nur den klassischen Spruch zitieren: Die Bibliothek ist eine Sphäre, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck und deren Umfang unzugänglich ist.

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Das letzte Kapitel des ersten Würmtalmärchens (vom Mann ohne Gewißheiten) ist ein wortwörtliches Plagiat aus: Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel, in: ders.: Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939 – 1944 (übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1992, S. 67-76, hier: S. 67f. (© Carl Hanser München Wien 1992)

Zur Einstimmung auf das Folgende sei die Lektüre zweier weiterer bibliophiler Kostbarkeiten empfohlen, die allerdings – anders als Der Garten der Pfade, die sich verzweigen – ausschließlich antiquarisch (und ausschließlich mit viel Glück und gegen viel Geld) erhältlich sind: Lothar Altmann: Kirchen entlang der Würm. 50 kath. Kirchen und Kapellen von Starnberg bis Allach, München/Zürich: Schnell & Steiner 1979, sowie Simon Taub: Das Mittelbürgertum. Texte aus der Gründerzeit des Münchner Westens, Dachau: Würm 2085. Erstere ist eine der Quellen von letzterer, und letztere wiederum war offenbar eine Quelle des Folgenden. Da die Beschaffung vor allem des Privatdrucks von Simon Taub (dessen frei erfundener »Würm-Verlag« nur Camouflage ist) für die meisten Leser mit unzumutbaren Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, sei zur Stärkung der inneren Topographie nun ein einschlägiger Abschnitt daraus zitiert (S. 12-15):

Der Starnberger See ist ja weit über Bayern hinaus bekannt. Heutzutage kennt man ihn allerdings nicht mehr zuerst als das Gewässer, in dem einst der legendäre König Ludwig ertrank, sondern eher, wie es so heißt, als Naherholungsgebiet. Nehmen wir also als Herz und Hirn des Naherholungsgebietes Starnberger See den Golfclub Feldafing: Auf den Hügeln über dem Westufer des Sees gelegen, bietet die Anlage dem Golfer wie dem gefährdeten Spaziergänger bei schönem Föhnwetter einen blauweißgrünen Blick über den See mit seinen Segelbooten und seinen dicht bewaldeten Stränden bis hin zu den schneebedeckten Gipfeln der bayrischen Alpen. Schon 1926 gegründet, wurde der berühmte Club früher hauptsächlich vom bayrischen Adel bespielt, heute vom bayrischen Geldadel.

Fährt man von Feldafing am schönen Seeufer entlang in Richtung Norden, so erreicht man nach wenigen Kilometern Starnberg, die Hauptstadt, und hier, in der armen Gemeinde der kaufkräftigsten Bürger Deutschlands, wird deutlich, warum der Starnberger See ein Irrtum ist: Der Starnberger See ist eigentlich – und war früher auch wirklich – der Würmsee, denn in Starnberg, genau an der Nordspitze des Sees, im Bereich des Yachthafens und der Badeplätze, fließt das Seewasser in ein kleines Flüßchen ab, die Würm; und die Würm ist nicht nur Abfluß und Entwässerung des Sees, sie hat vor allem, geologisch bedeutsam, der letzten alpinen Eiszeit ihren Namen geliehen, der Würmeiszeit, in deren Phasen das heutige Gesicht des Alpenvorlandes und mit ihm auch der Würmsee entstand. So ist das kleine, aber bedeutende Flüßchen Würm in Wahrheit das einzige, was an Starnberg interessiert: Hier also beginnt die Würm – und droht sogleich wieder in einigen Tümpeln und Kanälen zu versacken, bis sie, an den Starnberger Kläranlagen und ihrem Alter Ego vorbei, in das landschaftlich reizvolle Perchaer Moos und schließlich in den Königswieser Forst einfließt, einen kleinen beschaulichen Waldflecken auf der Mühltaler Endmoräne, wo einst die Karlsburg den Würmdurchbruch beherrschte … hier, im dichten Wald auf ihrem Durchbruch durch die Endmoräne, steht der Würm auf einigen hundert Metern das einzige natürliche Flußbett ihres kurzen kanalisierten Laufes zur Verfügung. Dieser führt weiter in nordöstlicher Richtung durch Gauting – dem römischen Verkehrsknotenpunkt und legendären Geburtsort Karls des Großen – und zwischen dem Forst Kasten und dem Kreuzlinger Forst hindurch nach Stockdorf, Planegg und Gräfelfing. In Lochham fließt unser kleiner Fluß durch den Paul-Diehl-Park, der an der Münchner Stadtgrenze in den Pasinger Stadtpark übergeht, und da sie in die bayrische Landeshauptstadt – von deren überkommenen Legenden des Westens noch zu reden sein wird – eintritt, erfährt die Würm eine kaum merkliche Kurskorrektur, wendet sich direkt nach Norden und durchquert, fast parallel zur Eisenbahnlinie, geradewegs die westlichen Ränder Münchens: Pasing, Schloß Blutenburg, Menzing, Allach, verläßt München in Karlsfeld, wo sie exakt an der Stadtgrenze die Bahngleise unterquert, läßt im Dachauer Moos einige beliebte Badebaggerseen seitlich liegen und tangiert Dachau, an einer großen Kleingartenanlage vorbei, über der die schwarzrotgoldene Flagge weht, am östlichen Rand. Um nichts zu verschweigen: Die Würm schmiegt sich an das Gelände des Konzentrationslagers Dachau, des ersten Konzentrationslagers der Nationalsozialisten, in dem Hitlers und Himmlers Helfer schon von 1933 an das Morden übten; heute ist dieses Gelände Gedenkstätte, und man muß, will man zum ehemaligen Krematorium gelangen, in dem die Mörder die Leichen ihrer Opfer verbrannten, auf einer Brücke die Würm überqueren. – Wir wollen dies nicht vergessen, aber wir müssen, fast ans Ende gelangt, unseren Fluß verabschieden, wobei etwas Erstaunliches und Amüsantes ins Auge fällt: Die Würm fließt auf ihren letzten Metern nicht nur, wie auf ihren ersten Metern, an einer Kläranlage vorbei, sie endet in der Nähe eines Golfplatzes, wie sie auch in der Nähe eines Golfplatzes beginnt; wobei freilich der Dachauer Golfplatz, dessen Ausläufer die Würm noch berührt, in der einen oder anderen Hinsicht das Gegenteil des Feldafinger Golfplatzes ist: dieser einer der reichsten, exclusivsten und teuersten Achtzehnloch-, jener dagegen, Gründung und bis 1991 Eigentum der US-Armee, einer der ärmsten, egalitärsten und billigsten Neunlochplätze Deutschlands. – Bei diesem Dachauer Golfplatz also strömt das Flüßchen mit dem Schwung einer letzten Kurve durch die alte, stillgelegte Würmmühle in ein unerwartet schönes Landschaftsschutzgebiet: Hier hat die Würm nach nur achtunddreißig Kilometern ihren Weg schon hinter sich und mündet bei Ampermoching unterhalb der Staustufe eines Elektrizitätswerkes in die Amper, mit der ihr Wasser in die Isar gelangt. Im Laufe der Isar aber erreichen die letzten Moleküle der kleinen Würm sogar noch den großen Strom der Donau.

Objektiv besehen ist das Würmtal zwischen Starnberg und Dachau, abgesehen von seinen erd- und menschheitsgeschichtlichen Dimensionen, allenfalls noch wegen der vielen kleinen hübschen Kirchen interessant, die man in seinen Ortschaften besichtigen kann: so das romanische Kirchlein Sankt Alto in Leutstetten am Rand des Königswieser Forstes, das, aus den Trümmern der zerstörten Karlsburg erbaut, erst nach einem Blitzschlag im Jahre 1738 sein zierliches Zwiebeltürmchen erhielt; oder die mitten im Wald vor dem naturnahen Würmdurchbruch verborgene Ulrichskapelle, letzte Erinnerung an das Schloß Königswiesen, das hier wohl aus karolingischen Ursprüngen auf einer Rodung erwachsen war und Ende des neunzehnten Jahrhunderts eingeebnet wurde – nur die Kapelle wurde verschont und im Laufe unseres, nun ebenfalls zu Ende gehenden Jahrhunderts von der Aufforstung umwuchert; oder die in einem Eichenhain bei Planegg gelegene Wallfahrtsstätte Maria Eich, deren Kirche man 1745 tatsächlich um eine Eiche herum gebaut hatte, so daß der Baum fortan aus einer Dachöffnung des Gotteshauses heraus gen Himmel ragte, bis ebenfalls ein Blitzschlag dieser Kuriosität ein Ende bereitete, die Eiche gefällt und das Gewölbe geschlossen werden mußte – noch heute ist der Baumstumpf hinter dem Gnadenaltar zu bestaunen; und natürlich, ganz klar, die Kirchen Menzings, allen voran Sankt Martin mit dem wuchtigen, sehr wehrhaft wirkenden Turm und dem schönen alten Kirchhof, der durch eine gedeckte Holzbrücke über die Würm mit dem großen neuen Friedhof am anderen Ufer verbunden ist. – Subjektiv besehen jedoch, und wir wollen es subjektiv besehen, höchst subjektiv, gibt es im Würmtal noch etwas viel Interessanteres als diese skurrilen Kirchleins, die Karolinger, die alten Römer, die Geologie des Alpenvorlandes oder die Nazis:

In Menzing nämlich, dort wo die Würm schnurgerade nach Norden parallel zur Pippinger Straße läuft, macht unser kleiner Fluß plötzlich eine scharfe Biegung nach Osten, weg von der Straße, um sodann in einem Halbkreis wieder zu ihr zurück- und nach einem niedlichen Wasserfall gar unter ihr hindurchzulaufen. Und auf dieser Insel zwischen der Pippinger Straße und der Biegung der Würm steht seit inzwischen beinahe drei Jahrzehnten das, was die Menzinger früher kurz und treffend Die Siedlung nannten.

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Homo sapiens würmtalensis

Es ist ein trüber Tag, Wolken verbergen den Horizont, das graue Salzwasser schwappt unruhig in die zähflüssigen Ufersümpfe, ein schweres, undurchschaubares Klima. Die kleine Siedlung oben auf der Insel liegt in Ruhe, es gibt keinen Rauch, kaum Geräusche, kaum Bewegung, Möwengeschrei, den Ton des Meeres gibt es, eine Luft und ein Licht, in denen sich alles Ferne aufzulösen und alles Nahe zu versteinern scheint. Wie der Zacken eines Felsens steht ein Mann am Bug der Insel, auf einen Speer gestützt, und blickt hinaus auf das Wasser. Sein Blick ist so starr wie sein Körper und sein Speer, seine Pupillen, in denen Meer und Himmel ihre Verbindung vollendet, sind so weit wie der Horizont, den sie in sich aufgenommen haben. Seit Tagesanbruch steht der Mann auf dem Aussichtsposten und blickt nach Morgen, in den östlichen Horizont, und das Meer, das seit den frühen Stunden seine Farbe und seine Bewegung kaum verändert hat, ist zu einem Teil seines Inneren geworden, hat ihn verschluckt, ohne ihn mit sich zu reißen, er, sein Inneres, ist zu einem Teil des Meeres geworden. Es fühlt sich weit an, unendlich, Zeit und Raum strömen durch die schwarzen Löcher seiner Augen, strömen in ein inneres, unerreichbares Universum. Ist er noch menschlich oder schon in einem ferneren Zustand? Felsen, Meer, Himmel. Nichts war je in ihm. Er ist leer, wie die Weite vor ihm. Es ist ein trüber Tag, Wolken verbergen den Horizont, und in seinen Pupillen, in denen das graue Amalgam dieses Horizontes seinen Spiegel hat, erscheinen die Schiffe erst, als sie schon nah sind.

*

Was war das nur für eine Stadt! Er spazierte durch Jahrtausende, indem er durch ihre Straßen spazierte!

Eigentlich war es ja eine häßliche Stadt: Der sonnenfarbene Stein war verwittert, ergraut, zerfallen, die Straßen waren verschmutzt, die engsten Gassen noch von Kraftwagen und Motorrollern entstellt, alles stank nach faulendem Müll, nach Urin, nach Fisch. Aber es schien gerade diese Gegenwart des Häßlichen zu sein, nicht das Schöne der Ruinen und der Trümmer, die eine Verbindung zur Vergangenheit eröffnete, – eine Ahnung, die er noch nie empfunden hatte

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und die sein schwieriges Vorhaben zu gefährden schien. Verunsichert und furchtsam bahnte er sich seinen Weg durch diese rätselhafte Stadt. Den ersten Moment der Klarheit erlebte er im Dom.

Er betrat ihn durch einen Seiteneingang und stand unvermittelt vor den Säulen. Ohne sich um die Architektur des Bauwerks, ohne sich um die christlichen Utensilien oder um die Gläubigen zu kümmern, trat er sofort an einen der riesenhaften Stämme heran und legte seine Hand auf den jahrtausendealten Stein. Wie in all seinen Visionen verheißen, erlebte er nun tatsächlich jenes erleuchtende Gefühl der Kontinuität durch alle Zeiten, die Kanneluren der Säule, denen er mit seinen Fingerspitzen folgte, schienen ihn direkt zu jenem Ursprung hinabzuleiten, nach dem er forschte. Er wußte in diesem Augenblick, daß nur Veränderung die Vergangenheit in ihrem Wesen bewahren konnte, daß eine Stadt nur dann über Jahrtausende hinweg mit ihrem Ursprung verbunden blieb, wenn sie sich von ihrem Ursprung entfernte. Rom, erinnerte er sich gelesen zu haben, wird erst dann zugrunde gehen, wenn die letzte von Menschen bewohnte Stadt ausgelöscht ist.

Doch die Klarheit blieb im trüben Licht des Domes zurück. Im Sonnenlicht befielen ihn wieder Verunsicherung und Verwirrung, und er strebte auf dem kürzesten Weg vom Domplatz hinunter zum Großen Hafen. Was war hier los? Was verstörte ihn so? Warum sollte diese ununterbrochene Verbindung zur Vergangenheit, die er hier, auf der Altstadtinsel, fühlte, sein bisheriges Konzept in Frage stellen? Beruhte dieses Konzept nicht gerade auf dem Gefühl, daß die Vergangenheit gegenwärtig war, daß die Gegenwart sich niemals von ihrem Ursprung, vom Ursprung der Zeit, gelöst hatte? Woher also seine Beklemmung, seine Angst?

Es war ein heißer, wolkenloser Tag, und der Anblick des sonnenfarbenen Großen Hafens befreite seine Gedanken augenblicklich. Die Weite dieser Bucht erschien ihm jedesmal wie ein Trugbild. Nur wenige Boote bewegten sich auf dem Wasser, das gegenüberliegende Ufer des runden, beinahe geschlossenen Busens wirkte aus der Ferne völlig unberührt, wie ein Binnengewässer lag diese merkwürdige Syrte vor der Stadt und war doch Teil des Meeres. Wie mochte es hier ausgesehen haben? Welchen Anblick bot die Steinerne Stadt Hierons des Zweiten? Beherrschte sie den Großen Hafen wie ihr ureigenstes kleines Meer? Oder wurde vielmehr sie vom Großen Hafen beherrscht? Welche Farbe hatte ihr Stein in der Sonne? Wie lebendig wirkte sie? Wo waren ihre Menschen? Er ging an der Arethusaquelle vorbei, deren Ursprungs- und Verwandlungsmythos ihn in dieser schweren archäologischen Stunde nicht berührte, hinun-

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ter zum Uferforum und spazierte am leisen Wasser entlang auf die Landungsmolen zu. Doch auf halbem Wege kehrte er um, ließ Arethusa abermals zwischen ihren Papyrusstauden liegen, strebte auf der leicht ansteigenden Uferstraße in die Richtung zur Hafenmündung, warf, bevor er der mythischen Arena den Rücken kehrte, noch einmal einen Blick über die Bucht und durchquerte dann über graue, triste Straßen den schmalen Bug der Insel, um auf der anderen Seite aufs offene Meer zu sehen.

Die Uferstraße lag hier viel höher als drüben am Hafen, eine mächtige Mauer reichte meterweit in die Tiefe, wo sich die großen, wellenbrechenden Steinquader türmten. Er suchte sich eine Stelle, an der er sich bequem auf das rostige Geländer der Ufermauer stützen konnte, und blickte hinaus aufs Wasser. Es war hoher Nachmittag, Meer und Himmel besaßen ihre vollkommenste Substanz, kein Schiff war zu sehen, nur Möwen und die Wellen zu hören. Der Horizont schien so unendlich weit, daß er für Augenblicke glaubte, er könne bis nach Griechenland sehen. Er stellte sich vor, wie die Schiffe kamen. Und in diesem Moment begriff er, worum es sich handelte. Zum ersten Mal begriff er, wie durch eine Erleuchtung, die wahre Natur des Meeres. Das Meer war nämlich nicht nur Symbol der Ewigkeit, es war tatsächlich das Tor zur Ewigkeit, durch das er sich mit der Vergangenheit und der Zukunft verbinden konnte. Nichts war so unwandelbar wie das Meer, und er erkannte, als er an der Ufermauer von Ortygia in der Nachmittagssonne stand und nach Osten blickte, daß ihn von dem Moment, als die Schiffe am Horizont erschienen, nichts anderes trennte als nur die Wandelbarkeit der Küste.

Nun wußte er, was er zu tun hatte. Er mußte das Konzept in der Gegenwart verankern. Er mußte, von der Gegenwart ausgehend, die Vergangenheit einholen, den Ursprung vergegenwärtigen und so eine zyklische, mythische Zeit konstruieren.

Versteinert stand er am Ufer des Ionischen Meeres, beschwor mit seinem wissenden Blick die Linie dieses unendlichen Horizontes, verwandelte sie in die Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte.

*

Gerd Strittmatter saß auf einem Felsvorsprung oberhalb des ehemaligen Schloßparkes, des künftigen Siedlungsgeländes, und blickte hinab in eine schwarze Ebene, die noch immer nichts preisgab. Es war eine sehr milde, aber mond- und daher lichtlose Mainacht, Gerd Strittmatter verglich immer wieder das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr

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mit dem östlichen Himmel, der eigentlich ebenfalls schon von Lichtspuren hätte erhellt sein sollen. Noch herrschte tiefe, ungebrochene Nacht. Seit bald zwanzig Minuten saß Gerd Strittmatter auf seinem Felsvorsprung, den er noch von seinem ersten Siedlungsmorgen her kannte, und stellte sich die Schloßruine vor, wie sie dort unten in der Dunkelheit auf ihren letzten Tagesanbruch wartete. Wenn er die Stelle, an der er die Schloßruine wußte, lange genug fixierte, dann begannen seine Erinnerung und seine Erwartung, ihm etwas vorzuspiegeln: Wie damals, als er zum ersten Mal hier gewartet hatte, sah er plötzlich schemenhaft die Ruinen aus der Finsternis tauchen und die schwarze Nacht grau färben, doch wenn er nach oben blickte, in den östlichen Himmel, der ihm direkt vor Augen stand, dann sah er, daß noch immer Nacht war, und die Überreste des Schlosses dort unten waren wieder geisterhaft unsichtbar. Einmal nahm er seine Taschenlampe zur Hand, die ihm vorhin den Weg durch den Park gebahnt hatte, und leuchtete nach unten, doch der schwache Lichtstrahl verlor sich, lange bevor er das Schloß erreichen konnte, nur der felsige Abgrund, der sich vor seinen Füßen auftat, wurde etwas deutlicher.

Bei Tag war die Schloßruine von so geheimnisvoller, düsterer Schönheit, daß die Faszination eigentlich offensichtlich hätte sein müssen, die sie auf die Kinder Menzings ausübte. Jeden Tag eroberten die Rudel der Kinder und Jugendlichen den Park und die Ruine aufs neue, gleich bei welchem Wetter. Nebeltage waren bei den Älteren besonders beliebt, und wenn Schnee lag, kamen sogar die Erwachsenen und bewunderten das romantische Bild von Einsamkeit und Zerstörung mitten in Menzing. Fünfzehn Jahre war es nun bald her, daß Gerd Strittmatter zuletzt an der Schloßruine gespielt hatte – wenn man das grimmige oder beklommene Streunen von Fünfzehnjährigen noch Spielen nennen konnte. Mit dem letzten Nachmittag an der Schloßruine endete für Gerd Strittmatter in der Rückschau seine Kindheit. Unauflösbar war seine ganze Kindheit mit den Umrissen der Schloßruine verwoben. Manches Jahr erschien ihm in der Erinnerung wie ein einziger ausgedehnter, zeitloser Nachmittag an der Schloßruine, ohne Anfang noch Ende, all die vielen hundert Nachmittage dort verschwammen ihm manchmal zu einem einzigen ewig langen Nachmittag, der seine ganze Kindheit umfaßte. Am Anfang, in den ersten Jahren nach dem Krieg, der das jahrhundertealte Schloß ruiniert hatte, hatten sich die Kinder noch zur Schloßruine stehlen müssen, da ihre Eltern diesen Ort unter den entsetzlichsten Drohungen verfluchten. Die Erwachsenen fürchteten angeblich die Gefahren, die in der zerbombten Ruine lauerten, aber sie fürchteten wohl ebenso die zerbombte Ruine selbst, deren Trümmer sie an den Krieg gemahnten.

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Hätte München in dieser Zeit nicht zentralere Sorgen gehabt, das Trümmerfeld wäre gewiß geräumt worden, um riesigen Mietskasernen Platz zu machen. Das waren die aufregendsten Jahre an der Schloßruine: ein verbotener, gefährlicher Ort, der alle Geheimnisse des noch unbegreiflichen Lebens zu bergen schien. Tatsächlich geschahen damals immer wieder schreckliche Unglücke: Jugendliche wurden bei ihren Erkundungen durch die finsteren Labyrinthe der Ruine, die nur von außen noch den Anschein eines Schlosses erweckte, von herabstürzenden Trümmern erschlagen; Kinder starben beim Spielen in den Bombenkratern des Schloßparkes durch die gewaltigen Explosionen der Blindgänger. Gerd Strittmatter erinnerte sich an diese Katastrophen wie an erschütternde, aber großartige Abenteuer. Er selbst verlor in diesen ersten Jahren seines erinnerbaren Lebens drei oder sogar vier seiner Freunde. Gemeinsam mit seinen vielen Verbündeten gelang es ihm ein ums andere Mal, die Jugendlichen, die sich heuchlerisch als Vollstrecker des Willens der Erwachsenen gerierten und den Kindern die Zugänge versperrten, zu überlisten und ins Innere des Schlosses vorzudringen, wo es aussah wie am Mittelpunkt der Erde. Ungeheure, chaotische Trümmerformationen bildeten atemberaubende Höhlen, in denen zerborstene Rohrleitungen wie Tropfsteine aus den beunruhigenden Decken wuchsen und eine rostfarbene Lauge absonderten, die in den Hohlräumen zwischen den Trümmern am Boden dickflüssige, teilweise mineralisierte Tümpel bildete, deren Krusten, wenn durch eine Felsspalte ein Lichtstrahl einfiel, in allen Regenbogenfarben schillerten. In einer dieser unnatürlichen Tropfsteinhöhlen ereignete sich das schwerste Unglück, an dem Gerd Strittmatter beteiligt war, als plötzlich, ohne jede Vorwarnung, einer der Stalaktiten aus der Decke brach und einen Teil dieser unechten, instabilen Decke mit sich riß. Die Felsbrocken begruben zwei von Gerd Strittmatters engsten Freuden. Ihre Überreste lagen noch heute in den Eingeweiden des Schlosses. Doch mit der Anzahl der Toten wuchs auch die Faszination der Ruine: Die Jugendlichen erzählten Schauergeschichten von zerschmetterten Skeletten zwischen den Trümmern und von unversehrten menschlichen Schädeln, an denen noch halbverweste Reste von Gesichtern hingen. Irgendwann entschloß sich die Stadtverwaltung, die Zugänge zur Schloßruine mit Beton zu versiegeln, aber auch danach fanden die Jugendlichen und die Unerschrockensten der Kinder noch geheime Einstiege in den Fels. Fünf Jahre nach Kriegsende rief das Schloß seine letzten Opfer zu sich: Eine Gruppe Jugendlicher versuchte, durch die verschiedenen übereinandergeschichteten Höhlensysteme das unter freiem Himmel aufgetürmte

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oberste Stockwerk zu erreichen, da sank das gesamte ruinöse Bauwerk, eher mit einem Seufzer als unter Getöse, in sich zusammen, und als sich die Staubwolke gelegt hatte, war von der Ruine, die zuvor immerhin noch dem Schatten eines Schlosses geglichen hatte, wahrhaftig nur noch ein Trümmerhaufen geblieben, aus dem allerdings sehr malerisch einige Abschnitte der Fassade aufragten und sich zu jenem romantischen Bild von Einsamkeit und Zerstörung fügten, das nun sogar die Erwachsenen, zumindest an Schneetagen, bewundern lernten. Der Krieg versank allmählich in den Untiefen der Erinnerung, ebenso die Opfer der Schloßruine, von denen die meisten bis heute, bis zu ihrem letzten Morgen, unter den Gesteinsmassen ruhten. Die Schloßruine wurde zu einem Ausflugsziel, im Laufe der Zeit sogar zu einer Touristenattraktion, und obwohl von dem Moment an, da Menzing das Schloß endgültig verloren hatte, immer wieder Stimmen laut wurden, die eine sinnvolle Nutzung des ehemaligen Schloßgeländes forderten, schaffte es der Chor der Kinder und ihrer Eltern und der ehemaligen Schloßkinder, die Leiche der ehedem so gefräßigen Schloßruine fast zwanzig Jahre lang vor ihrer Einäscherung zu bewahren. Gerd Strittmatter ging nach dem großen Einsturz, der acht Jugendlichen und der Schloßruine das Leben gekostet hatte, noch vier Jahre lang mit seinem bröckelnden Freundeskreis nachmittags zur Schloßruine, nun mit Erlaubnis der Eltern, und obwohl die Nachmittage nicht mehr von tödlichen Bedrohungen verklärt, hingegen immer öfter von Erwachsenen entweiht wurden, blieben auch diese vier Jahre unbedingt Teil seiner Kindheit. Er erinnerte sich an Nebeltage, an denen die geisterhafte Schloßruine eine Aura verströmte, als hätte sie ihre alte Gefährlichkeit wiedererlangt, an endlose Stunden in den letzten, jahrtausendealten Höhlen unter der Erde, die eine perfekte Landschaft für apokalyptische Kriegsspiele darstellten, und natürlich an jenen Nachmittag, an dem er, erst dreizehn Jahre alt, in einem verborgenen, düsteren Winkel einer solchen Höhle, aufgepeitscht von den Schreien der anderen, die sich ganz in der Nähe mit Maschinengewehren oder Laserpistolen gegenseitig niedermetzelten, zum ersten Mal in seinem Leben, im Stehen, ein Mädchen vögelte. Zwei Jahre später endete seine Kindheit. Die Schloßruine war nicht mehr bedrohlich, nicht mehr geheimnisvoll, nicht mehr faszinierend, sondern verbunden mit der Erinnerung an zerbrochene Lieben und zerbrechende Freundschaften und an eine scheinbar endlose, dennoch verlorene Kindheit, die er endlich und für immer und alle Zeit hinter sich lassen wollte.

Gerd Strittmatter hatte sich, um sich der Erinnerung an seine Menzinger Kindheit zu stellen, eine Zigarette nach der anderen angezündet, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, an diesem Morgen nicht zu rauchen, vielmehr ein

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allerletztes Mal die Luft des Schloßparkes zu atmen. Doch die Geschichte der Schloßruine, die bei Tagesanbruch nun unwiderruflich enden würde, beunruhigte ihn, und so vertrieb er mit dem Zigarettenrauch jenen sonderbaren, unerklärlichen Moorgeruch aus seinen Atemwegen, den niemand außer ihm roch und der ihn, stärker als alles andere, stärker sogar als der Anblick der Schloßruine, an seine Kindheit erinnerte. Noch immer saß er in Finsternis, der letzte Morgen der Schloßruine schien nicht anbrechen zu wollen, und von dort unten, vom Trümmerfeld aus, konnte man vor lauter Finsternis wahrscheinlich sogar die verschwindend geringe Glut seiner Zigarette sehen, auf die das Licht seiner Taschenlampe geschrumpft war. Niemals in den zurückliegenden fünfzehn Jahren hatte er sich in den Chor der Freunde der Schloßruine eingereiht, der immer so pathetisch von der Ruine als »Seele des Münchner Westens« sang. Insgeheim jedoch war er immer auf der Seite derer gestanden, die sich einem Abriß des Schlosses und einer »sinnvollen« oder »vernünftigen« Nutzung des so lukrativen Geländes widersetzten. Die Gegner der Schloßruine, ob sie nun für einen Wiederaufbau des Schlosses, einen Englischen Garten, eine »Kulturinsel« oder eine Wohnsiedlung plädierten, hatten nie eine reelle Chance gehabt; bis sie vor einigen Jahren zur allgemeinen öffentlichen Verblüffung ihre Strategie änderten und mit der Idee der Würmsiedlung ihre eigene Läuterung präsentierten. Die Würmsiedlung, so argumentierten sie nun, würde den mythischen Ort, den die Schloßruine für die Kinder Menzings bedeutete, nicht zerstören, sondern ihm nur einen neuen Grundriß geben, ihn gleichsam – zeitgemäß – wiederaufbauen. Diese Worte brachen die Widerstände in Bezirksausschuß und Stadtrat und lähmten die Freunde der Ruine. Gerd Strittmatter allerdings glaubte nicht an solcherlei Seelenwanderungen. Wie hätte er ahnen können, daß man gerade ihn auserwählen würde, den Totengräber der Schloßruine zu spielen? Um sein Gewissen zu beruhigen und sich endgültig von seiner Kindheit zu verabschieden, war er heute nacht, zwei Stunden vor Sonnenaufgang, von seiner Wohnung in Nymphenburg zu Fuß zum ehemaligen Schloßpark, zum künftigen Siedlungsgelände gehetzt, dem Abriß der Ruine beizuwohnen, der unmittelbar nach Tagesanbruch beginnen sollte. Er kannte seinen Platz bereits: Dort oben, auf dem steilen, bewaldeten Hügel, künstlich angelegt vor Hunderten von Jahren, als dem Schloß seine letztgültige Form gegeben wurde, war er schon im vergangenen Jahr an einem sehr frühen Morgen auf jenem Felsvorsprung gesessen, der fast den gesamten Schloßpark beherrschte, und hatte auf den Tagesanbruch gewartet, der damals die ersten Landvermesser mit sich brachte, eine unscheinbare Vorhut, einen scheinbar harmlosen Spähtrupp der Invasoren, deren

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Söldnerheer heute, in wenigen Minuten, mit brachialer Gewalt die Geister der Schloßruine aus ihrem Park vertreiben würde.

Ein unterschwelliges Unbehagen, eine Beklemmung. Gerd Strittmatter führte das ursprungslose Gefühl zunächst auf seine Müdigkeit zurück und dachte, er sei für Augenblicke in den ersten Kreis des Schlafes geraten. Plötzlich jedoch hörte er Vogelgezwitscher, und bevor er seine flüchtenden Gedanken fassen konnte, standen auch schon die Umrisse der Schloßruine geisterhaft vor seinen Augen. Er blickte nach oben, um sich zu vergewissern, daß er nicht abermals halluzinierte, doch diesmal hatte sich auch der schwarze Nachthimmel augenscheinlich grau gefärbt. Schemenhaft tauchten die Ruinen aus der sich allmählich verdünnenden Finsternis ans Licht. In dem schattenreichen Morgengrauen, mit dem sich das schwarze Nichts der Nacht erfüllte, erschienen die Überreste des Schlosses wie ein sich nach und nach materialisierender Geist. Gerd Strittmatter erhob sich, streckte sich, bewegte, ohne sich von der Stelle zu rühren, seine steifen und schmerzenden Beine und blickte dann, die Hände in den Hüften, von seinem erhabenen Felsvorsprung auf die Schloßruine hinab, die schattenhaft zu seinen Füßen lag. Dahinter erstreckte sich die weite, fahle Ebene des inselförmigen Schloßparkes, begrenzt von den noch nächtlich dunklen Würmauen, über denen sich der Himmel von fern her zu lichten begann. Hier, in der Tiefe des Siedlungsgebietes, schien die nächste Stadt unendlich weit entfernt zu sein. Ein heller, wolkenloser Morgen brach an. Gerd Strittmatter fröstelte leicht, nachdem er die Nacht als ungewöhnlich mild empfunden hatte. Es roch nach Moor, nach feuchter Erde, nach Wald, und Gerd Strittmatter, obwohl er diesen natürlichen Atem liebte, zündete sich nach einer längeren Pause wieder eine Zigarette an. Die faszinierende, geheimnisvolle Schönheit des Trümmerfeldes dort unten rührte nicht allein von den stehengebliebenen Fassadenresten her, die in ihrem Zusammenklang die Gestalt eines Schlosses in Erinnerung riefen, auch nicht so sehr von den kargen Sträuchern und Bäumen, die sich auf den Trümmern zwischen diesen Fassadenresten emporkrümmten und in ihrer mühsamen Lebendigkeit das Bild der Zerstörung vervollkommneten, sondern vor allem von dem Wissen des Betrachters um das unsichtbare Innenleben der Ruine. Im ehemaligen Kellergeschoß hatte sich ein letztes, phantastisches Höhlensystem erhalten, das Generationen von Kindern den Abstieg in die düstersten Abgründe Menzings ermöglicht hatte, und in dem steinernen Meer darüber schwammen die Gebeine der Ungezählten und Vergessenen, die dem Zorn des niedergebombten Schlosses in den ersten Jahren nach dem letzten Krieg zum Opfer

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gefallen waren. Gerd Strittmatter erinnerte sich sehr lebendig an die Gesichter seiner drei Freunde, die es sich gewiß gewünscht hätten, für immer in den eingestürzten Höhlen der Schloßruine begraben zu bleiben. Es war ihm unbegreiflich, wie die Stadt die Bedeutung dieses Ortes verkennen konnte. Er selbst jedoch war ein Teil dieser Stadt, und er war, ungeachtet seiner Gewissensqualen, nicht fähig und nicht willens, sich schon im Alter von dreißig Jahren in die selbstgewählte Verbannung zu begeben. Gerd Strittmatter löschte die erste Zigarette des Tages, wie alle Zigaretten, die er noch während der Nacht geraucht hatte, auf dem von Aschespuren gezeichneten Fels und schnippte die filterlose Kippe den Abhang hinab, an dessen Fuß sie ins dichte Buschwerk einging. Dann nahm er wieder neben seiner Taschenlampe Platz, neben der er eine halbe Ewigkeit lang auf den letzten Tagesanbruch der Schloßruine gewartet hatte, und fingerte eine weitere Zigarette aus der Packung, die er erst rauchen wollte, wenn der Abriß der Ruine unmittelbar bevorstand. Von seinem Felsvorsprung aus war der Weg, auf dem das Söldnerheer der Invasoren, das auch sein Heer war, in den Schloßpark eindringen würde, nicht einzusehen, und so konzentrierte er sich auf die natürliche Geräuschkulisse dieses Siedlungsmorgens, um den Motorenlärm der Fahrzeuge rechtzeitig herausfiltern zu können. Während Gerd Strittmatter, zum ersten Mal seit dem Rückzug der Nacht, den Zeigerstand seiner Armbanduhr zu entziffern versuchte, erschienen in der Blickrichtung seines Felsvorsprungs, über den Baumkronen der Würmauen, am gelichteten östlichen Himmel, die ersten blassen Feuermale einer schwachen und späten Morgenröte.

*

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Die Transsibirische Eisenbahn

Für Lisa

Bei mir war es eben der Schrankenwärter. Jedes Kind hat doch wohl in einem bestimmten Alter irgendeinen Menschen, der seine Albträume beherrscht, den es für den Teufel oder ganz einfach für seinen Henker hält. Und der Schrankenwärter erfüllte alle Bedingungen: Ich sah ihn immer nur aus einer etwas zwielichtigen Entfernung; er war Herr über riesige Maschinen, die mir unheimlich waren; und er veranstaltete einen Höllenlärm.

Zweimal am Tag mußte ich mit meiner Mutter im Auto die Bahngleise überqueren, morgens auf dem Weg von zu Hause in die Schule und mittags auf dem Weg zurück. Und meistens, eigentlich fast immer, sagt meine Erinnerung, kam genau zu dieser Zeit ein Zug. Unter aufgeregtem Gebimmel schlossen sich, hinter einem rot blinkenden Licht, die Schranken, und ein ums andere Mal floh mein Blick vor dieser unheilvollen Szenerie durchs Seitenfenster hinauf zum oberen Geschoß des Schrankenwärterhäuschens, wo hinter einem großen Fenster ein Mann mit unfaßbarer Geschwindigkeit an einer Kurbel drehte. Man sah den Schrankenwärter nie als Ganzes, was wohl auch zu seiner Bedrohlichkeit beitrug, man sah im Zwielicht hinter dem Fenster immer nur seine breite Büste mit dem mondrunden Kopf und andeutungsweise noch seine Hand, die wie eine Maschine die Kurbel und damit die schwerfälligen Schranken bewegte. Sobald diese geschlossen waren und das Gebimmel aufgehört hatte, verschwand der Schrankenwärter irgendwo in den dämmrigen Tiefen seines Häuschens, und dann verschwand auch ich, denn ich kauerte mich hinter die Rückenlehne des Fahrersitzes und hielt mir mit aller Kraft die Ohren zu, um das kommende Schrecknis unbeschadet zu überstehen: Mit einem ohrenbetäubenden Lärm, der das Auto erbeben ließ, raste, für mich unsichtbar, der Zug an uns vorbei, und obwohl ich hinter dem Fahrersitz recht gut geschützt und vorbereitet war, erschrak ich jedesmal aufs neue

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so sehr, daß es mir weh tat und ich fast wütend wurde. Doch es war immer unerwartet schnell vorbei, und als dann das Gebimmel wieder losging, das plötzlich gar nicht mehr bedrohlich, sondern eher harmlos oder sogar erlösend klang, kletterte ich zurück auf den Rücksitz, sah, daß die Schranken aufgingen und das rote Blinklicht erlosch, und blickte sofort zum Schrankenwärter hinauf, der, halbiert wie immer, hinter seinem großen Fenster stand, kurbelte und uns den Weg wieder freigab.

Das war jedesmal die schlimmste Stunde des Tages, schlimmer als Sport oder Religion. Und so kam es, daß es mir irgendwann zuviel wurde und ich meiner Mutter jeden Morgen vor der Garage und jeden Mittag vor der Schule eine Szene machte. Ich wollte die Bahngleise nie wieder überqueren, der Lärm eines vorbeirauschenden Zuges schien mir mehr zu sein, als man ertragen konnte, und der Schrankenwärter war an allem schuld, er quälte mich absichtlich und aus Haß. Meine Mutter mußte mich morgens und mittags mit Gewalt in ihr Auto zerren, und wenn am Bahnübergang ein Zug kam, heulte und schrie ich aus vollem Hals, bis die Schranken sich unter dem erlösenden Bimmeln öffneten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie alt ich damals war, und ich weiß auch nicht, inwieweit meine Panik gespielt und inwieweit sie echt war oder ob sie sich vielleicht nur behelfsweise auf den Schrankenwärter und seinen Bahnübergang richtete und in Wahrheit, bewußt oder unbewußt, etwas ganz anderem galt. Wie dem auch sei, es kam soweit, daß ich mich eines Morgens weigerte aufzustehen und mit Armen und Beinen um mich schlug, als meine Mutter mich aus dem Bett holen wollte. Ich glaube, ich träumte damals fast jede Nacht, daß der Schrankenwärter die Schranken schloß, und als sie geschlossen waren, merkte ich, daß unser Auto auf den Gleisen stand und daß der Zug mit seinem schrecklichen Lärm uns überfahren würde. Ich versuchte, aus dem gefangenen Auto herauszukommen, doch – wie hätte es anders sein können – die hinteren Türen waren verschlossen, außerdem befahl mir meine Mutter, mich anzuschnallen, und der Zug kam in seinem rasenden, lärmenden Tempo immer näher. Wie es sich bei solchen Träumen gehört, wachte ich, kurz bevor der Zug unser Auto rammte, auf. Ich rief, starr vor Schrecken, mitten in der Nacht nach meiner Mutter, und wahrscheinlich erzählte ich ihr von dem Traum, und am Morgen strampelte ich in meinem Bett und schrie, der Schrankenwärter wolle uns vom Zug überfahren lassen.

Meine Mutter war eine intelligente Frau, die den Problemen nicht auswich, sondern auf sie zuging, was manchmal zu unkonventionellen Lösungen führte. Sie kam nicht etwa auf die Idee, morgens und mittags einen kleinen Umweg zu

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fahren, um so dem verhexten Bahnübergang zu entgehen, wobei sie vielleicht fünf Minuten pro Fahrt verloren hätte; nein, sie wußte wohl, daß sie auf diesem Wege nichts gewinnen würde, sie hatte einen viel raffinierteren Einfall: Am Wochenende unternahm sie mit mir einen Spaziergang durch unser Wohnviertel, es war ein schöner Herbsttag mit schwerem Licht und Laubduft, doch wir gingen nicht zu den nahen Grünanlagen an der Würm, wo wir schon oft frische Luft geschnappt hatten, wir gingen in Richtung Bahnübergang – genauer: in Richtung Schrankenwärterhäuschen. Auf den letzten Metern nahm sie mich an die Hand, damit ich ihr nicht davonlaufen konnte, aber sonderbarerweise wollte ich überhaupt nicht davonlaufen, ich hatte keine Angst, es kam mir ganz selbstverständlich vor, daß wir nun zum Schrankenwärterhäuschen gingen. Meine Mutter drückte (wie meine Erinnerung zeigt) auf einen Klingelknopf neben der Tür, es war eine Metalltür mit Milchglasscheibe, und nach einigen Sekunden öffnete tatsächlich der Schrankenwärter. Heute ist das alles kein Geheimnis mehr für mich: Meine Mutter hatte – das hat sie mir viele Jahre später gestanden – an einem der vorangegangenen Tage den Schrankenwärter in seinem Häuschen aufgesucht, ihm ihr Problem geschildert und ihn darum gebeten, meine Albträume zu zerschlagen, indem er nett zu mir wäre und mir seinen Beruf erklärte, mir zeigte, daß ein Schrankenwärter und ein Bahnübergang nichts Monströses seien. Ich kann nicht genau sagen, wie es mir damals vorkam, als ich zwischen dem Schrankenwärter und meiner Mutter eine schmale, steile Treppe hinaufstieg und mich schließlich in jenem Raum über den Gleisen wiederfand, in dem ich vom Auto aus immer den kurbelnden Schrankenwärter beobachtet hatte; die Erinnerung daran ist ein bißchen surreal und wie in Watte gepackt. Ich weiß nur, daß der Raum, der von unten durch das Seitenfenster des Autos immer so zwielichtig und dämmrig gewirkt hatte, sich hier oben nun als sehr hell, geradezu lichtdurchflutet entpuppte, denn die um drei Seiten laufende Fensterfront bot ein Hundertachtziggradpanorama auf die Gleise, die schnurgerade an der Längsseite der Front vorbeiglitten. Vor den Fenstern befand sich auf einer langen, ebenfalls umlaufenden Konsole die Schaltzentrale des Schrankenwärterhäuschens, grüne, gelbe und rote Lämpchen, Telefonhörer, Hebel und Knöpfe, die zu betätigen mir der Schrankenwärter freundlich, aber bestimmt verbot. Irgendwo in dieser Schaltzentrale entdeckte ich natürlich auch die gefürchtete Kurbel, ein schwarzer Arm mit silberner Handhabe, der fast auf der Höhe meiner Nase an der Verkleidung der Konsole befestigt war und den zu betätigen mir der Schrankenwärter ausdrücklich erlaubte, da meine Kräfte, wie ich sofort ausprobierte, nicht hinreichten, ihn auch nur einen einzigen Zentimeter zu bewegen.

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Ich kann nur sagen: Der Plan meiner Mutter funktionierte perfekt. Seit diesem wundersamen Besuch waren meine Albträume vom Schrankenwärter und seinem verhexten Bahnübergang verschwunden. Und nicht nur das: Es machte mir nichts mehr aus, wenn unser Auto morgens oder mittags an den bimmelnden Schranken halten mußte, denn der Lärm eines vorbeirauschenden Zuges erschreckte und schmerzte mich nicht mehr, worüber ich mich heute noch wundere. Ich mußte mich nicht mehr hinter der Rückenlehne des Fahrersitzes verkriechen und mir die Ohren zuhalten, ich konnte dem herannahenden Zug ins Auge sehen und sein Tosen fast mit Genuß ertragen. Und wann immer die Schranken sich schlossen oder sich öffneten, blickte ich aus dem Seitenfenster zum Schrankenwärter hinauf und winkte ihm zu, und er winkte, während er kurbelte, mit seiner freien Hand zurück. Denn der Schrankenwärter – das war das folgenreichste Ergebnis der mütterlichen Psychotherapie – war von nun an mein Freund: Lange Zeit besuchte ich ihn, ohne meine Mutter, regelmäßig zwei- oder dreimal in der Woche nach den Hausaufgaben und manchmal auch noch samstags und sonntags in seinem Schrankenwärterhäuschen, und obwohl ich, wenn ich meiner Erinnerung glauben darf, aus eigenem Entschluß wiedergekommen war, er mich also bei meinem ersten, unfreiwilligen Besuch nicht dazu eingeladen hatte, war er jedesmal sehr nett zu mir und erklärte mir Schritt für Schritt die Regeln des Zugverkehrs. Leider kann ich die einzelnen Besuche nicht auseinanderhalten, sie verschwimmen mir vor dem inneren Auge zu einem einzigen, ewig langen Besuch, der fast meine ganze Kindheit vereinnahmt. Ich blieb – so erzählte es meine Mutter noch Jahre danach im Kreis ihrer Freunde – gewöhnlich von den Hausaufgaben bis zur Abendessenszeit und am Wochenende sogar ganze Nachmittage im Schrankenwärterhäuschen, wo der Schrankenwärter, dessen bullige Büste mit dem mondrunden Kopf mir einst in meinen schlimmsten Albträumen erschienen war, mir die Funktion der grünen, der gelben und der roten Lämpchen, der Hebel und der Knöpfe erklärte und mir beizubringen versuchte, an welchen Signalen man erkannte, daß der Zug kam. Früher, als ich den Bahnübergang nur von unten gekannt hatte, war dies der schlimmste Moment gewesen, jetzt, da ich vom oberen Geschoß des Schrankenwärterhäuschens aus einen Panoramablick auf die Gleisanlagen genoß, fieberte ich dem Zug entgegen: Ich stand auf einem Stuhl vor der Längsseite der Fensterfront und blickte über die Schaltzentrale hinweg die zwei Schienenstränge entlang, die unter

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mir vorbeiliefen und sich – endlos gerade – in beiden Richtungen in einem winzigen, silbern flimmernden Fluchtpunkt verloren. Neben mir hantierte der Schrankenwärter angestrengt an seinen Hebeln und Knöpfen, beobachtete die aufleuchtenden und erlöschenden Lämpchen und reagierte auf klingelnde Telefonhörer und andere akustische Signale. Schließlich stellte er sich vor seine Kurbel, umfaßte mit der rechten Hand den Griff und deutete mit dem linken Zeigefinger in die Richtung, aus der gleich der Zug kommen würde. Zuerst glaubte ich dort nur ein etwas stärkeres Flimmern wahrzunehmen, dann sah ich, daß irgendwo am Bahndamm an einem oder zwei Signalmasten ein Licht wechselte, von gelb auf grün oder von rot auf grün oder von gelb auf rot, und plötzlich tauchte ganz weit hinten, klein wie eine Spielzeuglok, die Schnauze eines Zuges auf. Das war der Moment, in dem der Schrankenwärter zu kurbeln begann, ich hörte, leiser als sonst hinter meinem Seitenfenster, das aufgeregte Gebimmel und sah, daß vor den langsam fallenden Schranken ein oder zwei Autos anhalten mußten. Der Zug wirkte inzwischen schon nicht mehr so harmlos, man erkannte die ganze Lokomotive und dahinter die lange Folge der Waggons, er schien immer schneller und größer zu werden, und von den Schienen oder von den Hochspannungsleitungen ging ein sehr hoher Ton aus, ein Sirren wie von einem elektrischen Fluß. Dann ging alles fürchterlich schnell: Ich sah die riesige Lokomotive, ein wütendes Ungetüm, direkt auf mich zuschießen, sie schien sich einen kurzen Augenblick lang unter ihrer Geschwindigkeit zu verformen, und mit einem Getöse, das mir viel lauter vorkam als früher der schreckliche Lärm hinter dem Fahrersitz, raste der Zug an meiner Nase vorbei. Zwischen meinem Gesicht und den schattenhaften Köpfen der Fahrgäste in den Waggons stob explosionsartig eine bunte Wolke Herbstlaub auf und wirbelte von außen gegen die Glasscheibe der Fensterfront, die unter dem Ansturm bedrohlich klirrte. Der Zug war vorüber, und während der Schrankenwärter neben mir wieder wie panisch an seiner Kurbel drehte und am Bahnübergang sich die Schranken hoben, blickte ich dem letzten Waggon hinterher, der in einem dichten Blätterwirbel auf den zusammenfließenden Gleisen davonglitt und sich schließlich ganz weit hinten in dem silbern flimmernden Fluchtpunkt aufzulösen schien.

Diese Minuten, in denen ich auf dem Stuhl stehend den Zug erwartete, ihn herankommen, vorbeischnellen und davongleiten sah, waren für mich von größter Wichtigkeit. Jedesmal, wenn ich von meinem Stuhl herabstieg, fühlte ich mich, als hätte ich zum allerersten Mal etwas erlebt. Mein Weg von zu Hause zum Bahnübergang durch die Straßen unseres Viertels, an den Zäunen, den Thujenhecken und den Garagentoren der Einfamilienhäuser vorbei, war erfüllt von Erwartung und Vorfreude, der Rückweg später von Nachdenklichkeit und großer Ruhe.

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Ich habe es schon erzählt: Es war Herbst, als meine Mutter mich damals mit dem wirklichen, dem ganzen Schrankenwärter konfrontierte. Und die einzigen beiden Besuche bei ihm, die ich, neben dem allerersten, aus meinem Gedächtnis isolieren kann, stammen vom Ende dieses Herbstes, nachdem recht spät der erste Schnee gefallen war. Es muß eigentlich schon im Dezember gewesen sein, wenige Wochen oder gar nur wenige Tage vor Weihnachten, in einer Zeit, in der Kinder ohnehin zur Hysterie neigen. Es kann sein, daß ich den Schrankenwärter mit Schneebällen beworfen hatte, als er unten an der Türe erschienen war, was ihm aber – wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte – nichts ausgemacht hatte, er war nämlich gutmütig wie ein Bär. Jedenfalls erinnere ich mich, daß ich an diesem Tag auf meinem Stuhl vor der Fensterfront stand und den aus der Ferne nahenden Zug kaum erkannte, da er in eine Wolke aus Schnee gehüllt war. Von weitem sah es so aus, als käme ein rauchender Scheinwerfer auf uns zu. Erst als der Zug schon recht nahe war, konnte man die Lok unterscheiden, die Waggons blieben völlig verschleiert, und als der Zug an der Scheibe vorbeidonnerte, war unsere Schaltzentrale für Sekunden in einen dicken weißen Nebel getaucht, man kam sich vor wie in einem Flugzeug, das die Wolkendecke durchstößt, oder wie von einer Lawine verschüttet. Als wir wieder auftauchten, sah ich den Zug auf den weißen Gleisen davonstieben, allerdings sah ich nur zwei immer undeutlicher werdende rote Lichter inmitten des aufgewirbelten Schnees, den der letzte Waggon wie einen Schleier hinter sich herzog. Als der Schrankenwärter mit seinem Gekurbel fertig war und mein vor Aufregung erhitztes Gesicht sah, sagte er: »Das war die Transsibirische Eisenbahn!«, und da ich wohl recht verständnislos guckte oder ihn fragte, was das sei, erklärte er mir, die Transsibirische Eisenbahn sei die längste Eisenbahnlinie der Welt, sie durchquere den ganzen Kontinent und verbinde direkt den einen Ozean mit dem anderen, und da sie durch den Norden des Kontinents verlaufe, durch Sibirien, heiße sie eben Transsibirische Eisenbahn und müsse immer durch tiefen Schnee fahren. Und bei meinem nächsten Besuch, ich glaube, es war schon am darauffolgenden Tag, hatte der Schrankenwärter eine große Weltkarte dabei, die er auf einem Holztisch neben dem Treppenabgang ausbreitete.

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»Von hier bis hier«, behauptete er, »fährt die Transsibirische Eisenbahn«, und mit dem linken Zeigefinger deutete er auf Brest, eine bretonische Küstenstadt auf einer weit in den Atlantik hineinragenden Halbinsel, und mit dem rechten Zeigefinger auf Wladiwostok.
»Und hier sind wir«, sagte er dann und deutete auf einen Punkt recht nahe bei Brest. Man könne in Menzing (das war unser Stadtviertel) in einen Zug steigen und komme viel später in Wladiwostok wieder heraus.
»Ist das weit?« fragte ich ihn.
»Oje, oje, das ist sehr weit, das ist fürchterlich weit!« sagte er und holte aus einer Schublade unter der Tischplatte ein Lineal hervor. Mit Hilfe der Kilometerprojektion auf der Karte überschlug er die Entfernung zwischen Menzing und Wladiwostok.
»Hier ist Menzing«, sagte er dann, (ich sehe die Weltkarte mit den dicken Zeigefingern des Schrankenwärters vor mir, als wäre das erst ein paar Tage her), »und hier ist Wladiwostok: Elftausendfünfhundert Kilometer östlich von Menzing.«

Kinder sind brutal, sie haben keine Vorstellung von den Gefühlen anderer. Noch im selben Winter, womöglich nur wenige Wochen nach der Entdeckung der Transsibirischen Eisenbahn, verlor ich das Interesse am Schrankenwärter und seinem Bahnübergang. Als wäre es abgemacht und überhaupt völlig selbstverständlich, ging ich einfach nicht mehr hin, und wenn ich mit meiner Mutter im Auto am Bahnübergang anhalten mußte, blickte ich nicht einmal mehr zum Schrankenwärter hinauf – es war mir, als hätte ich ihn niemals gekannt. Der Bahnübergang, die Schranken und der Zug hatten keine Bedeutung mehr für mich, sie ängstigten mich weder, noch faszinierten sie mich, sie waren für mich nun einfach das, was sie für meine Mutter immer gewesen waren: ein Hindernis auf dem Weg zur Schule und zurück.

Manchmal, wenn mir zufällig das obere Geschoß des Schrankenwärterhäuschens ins Blickfeld geriet, sah ich dort oben hinter der Fensterfront den halbierten Schrankenwärter mir kurbelnd zuwinken, er wirkte beinahe panisch, er winkte mir zu und winkte mich zu sich, machte mir Zeichen, die wohl bedeuteten, ich solle mal wieder zu ihm hinaufkommen. Ich war dann jedesmal unangenehm berührt und sah schnell woandershin. Ich verstand auch nicht so recht, was er eigentlich wollte, das ganze Gewinke war mir rätselhaft und zuwider. Der Schrankenwärter gehörte für mich, nur wenige Tage, nachdem ich ihn wie von einer unbeeinflußbaren Kraft gelenkt aus meinem Leben entfernt hatte, zu

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einer versunkenen Epoche, er war ferne Vergangenheit, und ich konnte mich an das, was mich einst mit ihm verbunden hatte, kaum mehr erinnern. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, ist mir der Schrankenwärter völlig gegenwärtig, und es kommt mir vor, als könnte ich ihn an jedem Bahnübergang, den ich passiere, in seinem Häuschen stehen sehen, halbiert mit breiter Büste und mondrundem Kopf, kurbelnd und mir verzweifelt und sehnsüchtig zuwinkend.

Ich besuchte den Schrankenwärter nie mehr wieder. Keine Ahnung, ob er irgendwann zu winken aufhört hat, ich nehme es eigentlich fast an, sicher allerdings bin ich mir nicht, da ich ihn eines Tages endgültig vergaß. Ich war mir seiner Existenz nicht mehr bewußt, ich realisierte nicht mehr, daß hinter und über den scheinbar automatisch funktionierenden Schranken ein kurbelnder Wärter stand. Erst Jahre später, als ich mich morgens und mittags schon längst nicht mehr von meiner Mutter im Auto mitnehmen ließ, sondern alleine mit dem Fahrrad zur Schule und zurück fuhr, wurde ich auf unglückliche Weise noch einmal von fern an den Schrankenwärter erinnert: Ich saß eines Nachmittags in meinem Zimmer an den Hausaufgaben und hörte plötzlich einen fürchterlichen Krach, einen Knall wie von einer Explosion und ein entsetzliches Kreischen und kurz darauf Sirenen von Polizei, Rettungswagen oder Feuerwehr. Abends, nach der Arbeit, erzählten mir meine Eltern, was passiert war: Am Bahnübergang hatten sich die Schranken nicht geschlossen, und ein Auto, in dem eine Mutter und ihre beiden Kinder saßen, war von der Lokomotive erfaßt und mehrere hundert Meter weit mitgeschleift worden. Der Zug war nicht entgleist, aber die Mutter und die Kinder waren tot. Am nächsten Morgen, als ich auf meinem Fahrrad die Gleise überquerte, hielt ich nach Spuren des Unglücks Ausschau, konnte in der Eile aber nichts entdecken. Im Laufe der folgenden Tage erfuhr ich, daß man den Schrankenwärter für das Unglück verantwortlich machte, er hatte Signale mißachtet und auf den herannahenden Zug nicht reagiert. Der Schrankenwärter wurde von seinem Posten entfernt und ein anderer an seine Kurbel gestellt, aber es formierte sich plötzlich eine Menzinger Bürgerinitiative, die wütend gegen die Untätigkeit der Bundesbahn protestierte und forderte, es müsse, wie an anderen Bahnübergängen auch, endlich eine automatische Schranke installiert werden. Die Bahn gab nach, und einige Monate später funktionierten die Schranken unseres Übergangs, bislang kurbelgesteuert, tatsächlich automatisch.

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Mein ehemaliger Schrankenwärter, soviel weiß ich noch, wurde unter dem Druck der Bürgerinitiative wegen fahrlässiger Tötung angeklagt; wie das Verfahren ausging und was mit dem alten Mann geschah, habe ich nicht mehr mitbekommen. Wiederum einige Jahre später wurde eine vielbefahrene Menzinger Straße zu einer mehrspurigen Ausfalltrasse ausgebaut, die seither den ganzen Verkehr – nur wenige hundert Meter vom alten Bahnübergang entfernt – unter den Gleisen hindurchführt. Der Bahnübergang wurde geschlossen, die Straße, die über die Gleise führte, beidseitig in eine Sackgasse verwandelt, das automatisierte Schrankenwärterhäuschen abgerissen, und am Bahndamm, wo sonst immer die Schranken den Weg versperrt und freigegeben hatten, pflanzte man Bäume und Sträucher an. Meine Fahrten zur Schule und zurück dauerten fortan etwas länger, ich mußte auf einem Radweg durch die neue Unterführung strampeln, und als ich zu meinem achtzehnten Geburtstag endlich die Führerscheinprüfung bestanden hatte und von meinen Eltern ein erstes eigenes Auto geschenkt bekam, war von dem Bahnübergang, der mir früher in meinen schlimmsten Albträumen erschienen war, nicht die kleinste Spur geblieben.

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Der 1. Teil der »Transsibirischen Eisenbahn« wurde
in Ausgabe 08/24 der Literatur.Review veröffentlicht.

Mein Onkel hatte das Wort geprägt: In meiner Jugend nannte man mich »das Walroß«. Nicht weil ich so groß und fett gewesen wäre, ich war eher von unauffälliger Statur, sondern weil ich so unglaublich faul und träge war und für alles, was ich tat, dreimal so lange brauchte wie andere. Ich interessierte mich für überhaupt nichts – was meine Eltern, die große Kunstliebhaber waren, sehr verdroß. Das Abitur bestand ich ohne Mühe, aber nur äußerst knapp, und danach wurde ich, ehrlich gesagt, gar nichts. Ich nahm Gelegenheitsjobs an, meistens war ich Aushilfskellner in irgendeinem Café, und als ich genug zusammengespart hatte – ich brauchte, solange ich bei meinen Eltern lebte, nur sehr wenig Geld –, mietete ich mir ein winziges Apartment (meine Eltern sagten: »ein Loch«) am Mittleren Ring, von Autoabgasen verrußt, und döste, wenn ich nicht kellnerte oder bei der Post Pakete sortierte, faul und träge wie ein Walroß vor mich hin.

Es war meine große Leidenschaft, nichts zu tun. Ich konnte den ganzen Tag in meinem Bett liegen, das direkt neben dem bodentiefen Fenster stand, und liegend von meinem fünften Stock aus die endlosen Autoströme unten auf dem Mittleren Ring beobachten, bis ich wieder einschlief und wieder aufwachte und wieder dem nie versiegenden Verkehrsfluß zusah, der immer ganz früh am Morgen und am späten Nachmittag anschwoll und sich staute. War ich Kellner, so durfte ich mir im Café an jedem Arbeitstag eine kostenlose Mahlzeit genehmigen, war ich etwas anderes, Paketsortierer, Aushilfsverkäufer in einem Bekleidungsgeschäft oder in einem Computerladen, so war ich imstande, mich wochenlang von Obst, rohem Gemüse und Mineralwasser zu ernähren, und da ich ansonsten so gut wie nichts brauchte, nicht einmal Benzin für mein Auto, das ich schon längst versetzt hatte, konnte ich so gut wie nichts tun und trotzdem ohne Geldsorgen leben.

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In dieser Zeit, in diesen ersten Jahren meines erwachsenen Lebens, gab es jenseits des Nichtstuns eine einzige Beschäftigung, die mir Spaß machte: Ich liebte es, auf Friedhöfen spazierenzugehen. Irgendwann in meinem ersten oder zweiten Jahr am Mittleren Ring hatte ich diese schwermütige Neigung an mir entdeckt, die sich dann sehr schnell fast zu einem Hobby auswuchs. Es begann, als ich eines Tages auf meinem Fahrrad, das noch aus tiefer Menzinger Vergangenheit stammte, nach Schwabing unterwegs war, um dort in einem Café einen neuen Kellnerjob anzutreten. Ich kam an der hohen Backsteinmauer des Alten Nördlichen Friedhofs vorbei, zufällig fiel mein Blick für einen Moment durch das offene Tor auf die Grabmale, und da ich selbst überrascht war, daß es etwas gab, was mir sofort gefiel, fuhr ich beim nächsten Mal eine halbe Stunde früher los und sah mir den Friedhof von innen an. Es war eigentlich eher ein kleiner Park mitten in Schwabing, kaum größer als ein großer Menzinger Villengarten, von normalen Spaziergängern genutzt, denn die aufwendigen Grabmale zwischen den Baumstämmen trugen Todestage aus dem späten neunzehnten und dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, und es gab hier niemanden mehr, der um einen Verstorbenen trauerte. Einige Wochen lang drehte ich an jedem Arbeitstag, vor oder nach meiner Schicht, auf diesem stilliegenden Friedhof meine Runden, bis mich die Gesellschaft der Schwabinger Melancholiker, die hier verkehrten, zu langweilen begann und ich Lust bekam, endlich über einen echten Friedhof zu spazieren. Um nirgendwo aufzufallen, wechselte ich künftig an meinen Spaziertagen immer zwischen dem Nordfriedhof, dem Westfriedhof, dem Ostfriedhof, dem Waldfriedhof und sogar dem altbekannten Friedhof von Sankt Martin in Menzing hin und her. Ich ließ mein Rad, mit dem ich immer und überallhin unterwegs war, am Friedhofstor stehen und wandelte, die Hände auf dem Rücken, leicht gebeugt, was wohl anzeigen sollte, wie schwer alles Vergangene auf meinen Schultern lastete, mit Trauermiene über die Kieswege, an den wirklich Trauernden vorbei, unglaublich affektiert, wie ich heute zugeben muß, da der leichtfertige jugendliche Umgang mit dem Tod längst der unaufhaltsamen Gewißheit gewichen ist, daß auch mein Leben nirgendwo anders mehr hinführen wird.

Zwei- oder dreimal in der Woche schlurfte ich also, anstatt vom Bett aus den Autoverkehr zu verfolgen, über die großen und kleinen Friedhöfe der Stadt, zwei oder drei Jahre lang, sofern mein Zeitgedächtnis noch funktioniert. Als ich achtundzwanzig war, starb mein Großvater – der Vater meiner Mutter (die Eltern meines Vaters hatten den Krieg nicht überlebt). Meine Großeltern wohnten in einer kleinen Stadt, einige Kilometer nordwestlich von Menzing. Zur

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Beerdigung ging ich nicht, da ich Familientreffen verabscheute, aber einige Tage später, sobald das Wetter mir sympathisch war, radelte ich in die Kleinstadt hinaus, kaufte in einem Blumengeschäft gegenüber dem Friedhof einen Trauerstrauß und deponierte ihn am Grab meines Opas, das noch keinen Stein hatte. Es war mein erster durch einen echten Trauerfall legitimierter Besuch auf einem Friedhof. Ich muß gestehen, daß ich mich gut fühlte. Zum ersten Mal war ich angesichts der anderen Trauernden nicht peinlich berührt – allerdings waren mir auch früher meine Friedhofsspaziergänge nicht verleidet worden –, endlich, bin ich versucht zu sagen, hatte auch ich einen Toten. Noch während ich am Grab meines Großvaters stand und meinen trauerverklärten Hundeblick auf dem frischen Erdhügel ruhen ließ, entschloß ich mich, nie mehr ziellos über fremde Friedhöfe zu streunen, sondern in Zukunft, wenn ich mich vor der Vergänglichkeit beugen wollte, nur noch dorthinaus zu radeln, wo mich die letzte Ruhestätte meines Großvaters mütterlicherseits erwartete. Obwohl ich dabei jedesmal die Menzinger Unterführung durchqueren und auch das Altersheim tangieren mußte, in dem nach dem Tod ihres Mannes meine Großmutter interniert war, besuchte ich, wenn ich zum Friedhof unterwegs war, nie meine Eltern, die ich nach wie vor einmal monatlich in Menzing zum Abendessen traf, geschweige denn meine Oma, mit der ich ohnehin nur in meiner Kindheit, als der Schrankenwärter noch aktuell war, etwas anzufangen gewußt hatte; ich hielt meine Beziehung zu dem Kleinstadtfriedhof nordwestlich von Menzing vor der Familie geheim. Grabpflege konnte ich so natürlich nicht betreiben, ich mußte sie meiner Mutter und ihrer Schwester überlassen, ich hinterließ nur, wohl ungefähr zweimal im Monat, einen Strauß Blumen am schlichten Grabstein, meistens Gladiolen, von denen Mutter und Tante bis zur letzten meiner diskreten Andachten glaubten, sie stammten von der jeweils anderen.

Doch diese Gladiolen stammten in Wahrheit von mir, und sie waren, um nun an der richtigen Stelle pathetisch zu werden, mein Schicksal. Ich kaufte die Blumen immer im gleichen Blumengeschäft, in jenem auf Trauersträuße spezialisierten kleinen Laden gegenüber dem Friedhof, und ich wurde dort fast immer von der gleichen jungen Verkäuferin bedient, die – wie ich bald erfahren sollte – die Tochter der Inhaber war. Sie war sieben Jahre jünger als ich, blaß und dürr, flach wie ein Strichmännchen, hatte kurze dunkelblonde Haare und ein schmales, unauffälliges und ungeschminktes Gesicht. Das Auffällige an ihr war ihre gleichgültige, eigentlich sogar schroffe und unfreundliche Art, Blumen zu verkaufen. Sie sah mich niemals an; selbst wenn ich direkt vor ihr stand und sie mich fragte, was ich wolle,

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blickte sie – nicht unsicher oder verschämt, sondern abweisend und genervt – nach rechts oder links, nach unten auf den Boden oder auf die Theke, wo sie mit irgendwas beschäftigt war, das sie nicht unterbrach. Ohne je zu lächeln, ohne in ihrem Gesicht irgendeine Regung stehen zu lassen, ich möchte fast sagen: ohne Gesichtsausdruck, steckte sie mit automatisierten Bewegungen meinen Strauß zusammen, kappte zornig die Stengel und hieb die störenden Blätter ab, wickelte alles zusammen und drückte es mir, irgendwohin sehend, in die Hand. Nie gab sie zu erkennen, daß sie mich wiedererkannte, obwohl ich regelmäßig alle zwei Wochen bei ihr weiße, rote, rosa oder lila Gladiolen kaufte. Und doch war sie es, die – nach vier, fünf oder sechs Monaten – die erste Frage stellte: Sie stand hinter der Theke, wickelte meinen Trauerstrauß zusammen und fragte mich, ohne den Blick von ihren wickelnden Händen zu nehmen, wer denn da auf dem Friedhof begraben liege, dem ich so ausdauernd alle zwei Wochen Blumen bringe.

Es ist schon merkwürdig: Ich mochte mein Leben wirklich. Ich mochte es, nur drei oder vier Tage, oft sogar nur drei oder vier halbe Tage in der Woche zu arbeiten, sorglos und mit halber Kraft, und ansonsten im Bett zu liegen, nichts zu tun oder auf dem Friedhof spazierenzugehen. Nie wäre es mir eingefallen, von selbst etwas an diesem Leben zu ändern. Doch sobald von außen eine Veränderung auf mich zukam, und war es auch nur eine beiläufige Frage, so gab ich nach, so ließ ich es zu, als hätte ich keine Wahl und als wäre es nicht mein Problem, auf welches Gleis mein Leben geriet.

Kann ich heute immer noch sagen, daß ich mein Leben gemocht habe? Mochte ich das, was nun kam? Ich weiß es nicht, und wollte ich ernsthaft eine Antwort suchen, so wäre ich vielleicht nicht mehr fähig, mich zu erinnern. Wie gesagt, ich war es gewohnt, und es war mein Wille, höchstens, allerhöchstens vier Tage in der Woche zu arbeiten und mich bei der Arbeit ebenso wie beim Nichtstun um nichts und um niemanden zu kümmern. So wollte ich leben, und so hatte ich vor, mein ganzes Leben lang zu leben. Doch in Wahrheit verlebte ich, aus freien Stücken, mein halbes Leben, einunddreißig Jahre, indem ich sieben volle Tage in der Woche arbeitete und dabei die Verantwortung für mich und drei weitere Menschen trug. Natürlich stand mir diese Zukunft nicht vor Augen, als Lisa die erste Frage stellte, sonst hätte ich sicherlich nicht geantwortet, sondern grußlos die Flucht ergriffen. Und vielleicht war später irgendein Gefühl für Lisa zu stark. Vielleicht entsprach es aber auch meinem tieferen Willen, sozusagen dem Willen unter meinem Willen, im Leben noch etwas anderes zu sehen als Kassenautomaten, Friedhöfe und den Mittleren Ring.

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Was ich also sonst noch sah in meinem Leben, waren Lisa, Blumen und die Tragödien von vier alten Menschen. Lisas erste Frage hatte eine Schranke geöffnet, wir grüßten uns nun, wenn ich das Geschäft betrat, lächelten, stellten uns gegenseitig Fragen und tauschten mit immer größerem Vergnügen Belanglosigkeiten aus, während Lisa meinen Trauerstrauß band und ihn mir in die Hand drückte, wobei sie mich nun sogar ansah. Ihre Eltern dagegen, die manchmal im Laden waren, wenn Lisa mich bediente, oder mich manchmal auch selbst bedienten, wenn Lisa nicht da oder beschäftigt war, wurden in dieser Zeit immer kühler und abweisender, bis sie mir beinahe sympathisch wurden, und erst, nachdem ich mich mit Lisa zum ersten Mal verabredet hatte, an ihrem freien Tag in einem Café in der kleinen Stadt, wurden sie wieder freundlich, nun sogar ausgesucht freundlich und suchten mir immer demonstrativ die schönsten Gladiolen aus.

Ist es möglich, daß ich mich nicht mehr erinnere, wer den letzten Schritt tat? Intim wurde sie, das ist klar, aber wer entschied über die Zukunft? Wahrscheinlich war es so: Lisa erzählte mir, daß ihre Eltern seit jeher ihr und ihrem Mann, sollte es ihn jemals geben, das Blumengeschäft vererben wollten, und sie, Lisa, habe da auch nichts dagegen, sie wüßte ja auch gar nicht, was sie sonst tun sollte. Und ich war dann derjenige, mußte es auch wohl sein, der die Entscheidung traf. Lisa verstand meine Art zu leben, sie verstand die Aushilfsjobs, das Nichtstun, die Friedhöfe. Sie war der einzige Mensch, der jemals genau erfahren hat, wie ich mein Leben am Mittleren Ring gelebt habe. Und sie hätte es auch verstanden – das hat sie mir gesagt, bevor es zu spät war –, wenn ich so hätte weiterleben wollen.

Zwei Jahre war ich mit Lisa zusammen, ehe sich mein Leben zum ersten und vorletzten Mal entscheidend wandelte. Ich gab (einunddreißig Jahre alt) mein Loch am Mittleren Ring auf und zog zu Lisa und ihren Eltern in die (»Große Kreisstadt« genannte) Kleinstadt meiner Großeltern. Wir heirateten und zwängten uns erst einmal in Lisas enge Zimmer hinter dem Blumenladen, die geräumige Wohnung im ersten Stock hielten meine Schwiegereltern besetzt. Ich war zunächst – was Lisa, sieben Jahre jünger, schon hinter sich hatte – einfacher Floristenlehrling, mußte in die Berufsschule, Laden, Schule, Laden, Schule, drei Jahre lang. Dann war ich Angestellter, wie die Frau, im Laufe der Jahre zogen sich die Eltern immer weiter von der Arbeit zurück, die Mutter ging als erste in Rente, schließlich der Vater, und als ich vierundvierzig war, Lisa siebenunddreißig, gehörte das Blumengeschäft uns. 

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Alles war noch so ziemlich im Urzustand (Lisa und ich waren noch angestellt, ich war seit etwa zwei Jahren mit meiner Lehre fertig), als mein Vater, fünfundsechzigjährig, eineinhalb Jahre nach seinem Renteneintritt, einer Hirnblutung erlag. Er wurde niedergestreckt, so erzählte es meine Mutter (die von einem »Hirnschlag« sprach), als sie gerade das Abendessen auftrug. Eine Woche später erlangte er noch einmal, für einige Tage sogar, »sein Bewußtsein« zurück, und die Ärzte verliehen der Hoffnung Ausdruck, daß er überleben könnte. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich eine Hoffnung ausdrückte, denn was er zurückerlangt hatte, war eher ein niederes Sein, er erkannte uns nicht, sabberte und schien nichts mehr zu wissen und zu können. Eines Nachts kam es zu irgendeiner unerwarteten und unerklärlichen Komplikation, plötzlich setzten alle Lebensfunktionen aus, und diesmal erlangte er nichts mehr zurück. Die exakte Todesursache hätte nur durch eine Obduktion geklärt werden können, die meine Mutter, mein Onkel und ich einstimmig ablehnten. Mein Vater wurde auf dem wohlbekannten Westfriedhof beigesetzt, es war die erste Beerdigung, an der ich teilnahm, und wenn es nicht durch meine Arbeit im Trauerblumengeschäft, mit der ich gewissermaßen mein Hobby zum Beruf gemacht hatte, schon längst geschehen gewesen wäre, wären mir spätestens an diesem Tag meine Friedhofsspaziergänge endgültig vergangen.

Meine Eltern hatten ein Jahr vor diesem Unglück, nachdem sie sich beide gleichzeitig zur Ruhe gesetzt hatten, ihr großes Menzinger Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen war, vermietet und eine ebenso große Vier-Zimmer-Altbauwohnung in Nymphenburg gekauft, die ihnen für ihren Lebensabend angemessener erschien. Sie waren beide noch sehr agil gewesen, geistig und körperlich, und hatten nun alles nachholen wollen, was sie in ihrem vier Jahrzehnte dauernden Berufsleben verpaßt hatten. Mein Vater hatte als Physiker für einen großen Luft- und Raumfahrtkonzern gearbeitet, meine Mutter hatte als Innenarchitektin ein vornehmes Einrichtungsgeschäft geführt, und natürlich waren sie viel zu selten auf ihren geliebten Kunst- und Kulturreisen gewesen, auf denen sie sich einst, als sie beide noch Studenten waren, kennengelernt hatten. Kaum war ihre Nymphenburger Wohnung angemessen eingerichtet, starb mein Vater, bevor sie irgendetwas hatten nachholen können. Alleine fand meine Mutter keine Kraft mehr zu reisen,

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doch alles in allem verkraftete sie das Unglück besser als zunächst befürchtet, die »heilige russische Literatur« – wie sie immer sagte – half ihr wohl dabei, ebenso die deutsche des späten neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, außerdem Beethoven und, wenn ich es recht weiß, die Musik der deutschen Romantik.

Alles, habe ich geschrieben, war damals noch so ziemlich im Urzustand – doch die Beziehung zwischen Lisa und mir war zu dieser Zeit, nach nur fünf Jahren Ehe, schon in ihr Endstadium eingetreten. Nicht, daß wir unglücklich waren oder eine mißratene Ehe führten; ich glaube, wir liebten uns sogar. Doch es schien uns angemessen, von diesem Gefühl möglichst wenig Aufhebens zu machen. Unsere Intimität hatte sich seit jeher fast ausschließlich auf das Geschlechtliche beschränkt; nur ganz am Anfang, als Lisa noch neugierig auf meine Lebensweise gewesen war, hatten wir, wenn wir uns einmal in der Woche abwechselnd bei mir am Mittleren Ring und bei ihr zwischen den Trauerblumen trafen, auch verbal so manches Intimes ausgetauscht. Und auch fürs Geschlechtliche hatten wir nach dem ersten zärtlichen Abtasten sehr schnell eine angemessenere Form gefunden: Es war ein harter, brutaler, beinahe animalischer Akt, frei von Sentimentalitäten und recht kurz von Dauer. Während der ersten Jahre waren wir richtig süchtig danach, es gab Zeiten, in denen wir es mehrmals täglich taten, mit dem größten Vergnügen mittags, wenn ihre Eltern mittagaßen, was wir nie taten, – oftmals im Stehen, im Flur hinter dem Laden, ohne uns völlig auszuziehen und immer wieder von Kundenbesuch unterbrochen. Bald ließ unsere kalte Leidenschaft natürlich nach, und auch die Brutalität, von der wir nie wegkamen, erstarrte zur Konvention.

Ansonsten hatten wir während der ersten Ehejahre unseren Alltag sorgfältig von jedem Flöckchen Liebe leergefegt. Wir standen gleichzeitig auf, frühstückten einander gegenüber, arbeiteten nebeneinanderher, aßen zu zweit oder zu viert zu Abend, sahen schließlich nebeneinander in unserem winzigen Wohnzimmer, nebeneinander im Bett oder getrennt, einer im Wohnzimmer, einer im Bett, fern und verabschiedeten uns nebeneinander in die Nacht – und während alldem lächelten wir uns nicht an, berührten uns nicht, küßten uns nicht und sprachen nur das Notwendigste miteinander, meistens geschäftlich. An unserem freien Tag schliefen wir bis mittags, fuhren hin und wieder nachmittags mit dem Auto in die große Stadt, nach Schwabing, nach Haidhausen, zum Gärtnerplatz, tranken dort ein paar Tassen Kaffee, rauchten zusammen eine Schachtel Zigaretten, gingen durch die Straßen und abends etwas essen. Unsere intimen Gespräche waren versiegt, wir wußten alles voneinander und interessierten uns für nichts. Doch wie schon

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gesagt: Wir waren nicht unglücklich dabei. Wir fühlten uns nicht unbehaglich und einsam in der Funkstille. Wir mochten das so, es war einfach unsere Art zu lieben.

Wahrscheinlich hatte wirklich die Art und Weise, wie Lisa Blumen verkaufte, unsere Beziehung geprägt; schließlich war sie mir ja einst überhaupt nur wegen ihrer absonderlichen Umgangsformen aufgefallen. Und es waren auch gerade ihre kleinen Unverschämtheiten der Kundschaft gegenüber, die mich an ihr am meisten erregten. In unserem ganzen gemeinsamen Berufsleben habe ich Lisa beim Blumenverkaufen nicht ein einziges Mal freundlich erlebt, im Gegenteil, sie wurde im Laufe der Jahre sogar richtig grob. Sie schaffte es, einem Kunden den Rücken zu kehren, um ihn zu fragen, was er wolle, und ihn anschließend, während sie ihm seinen Strauß zusammensteckte, vollkommen zu ignorieren, sogar geradezu durch ihn hindurch zu laufen, als wäre er gar nicht da. Ich liebte es, dieses unverfrorene Blumengör zu beobachten, zumal ich mich noch genau daran erinnern konnte, wie überflüssig und fehl am Platze ich mir selbst immer vorgekommen war, wenn Lisa mir früher Gladiolen verkauft hatte. Manchmal, wenn sie gerade wieder einen trauerzerfurchten Kunden grußlos und ohne ihn anzusehen abgefertigt und aus dem Laden entfernt hatte, fragte ihre Mutter sie, ob sie nicht mal versuchen könne, das etwas höflicher zu machen, wobei meine Schwiegermutter mehr über meinen Blick erschrocken schien, mit dem ich Lisas Blumenverkäufe verfolgte, als über diese unabänderlichen Blumenverkäufe selbst, in die sie sich schon vor vielen Jahren gefügt hatte. Lisa sagte da nur (ich habe ihre Worte noch im Ohr): »Mama, Leute werden immer sterben, und immer werden andere Leute sie dann mit Blumen versorgen!« Womit sie wohl recht hatte, und ich kann mich leider nicht mehr erinnern, ob ich schon damals von diesem Gefühl erfüllt war, das mich heute beschleicht, wenn ich daran zurückdenke, von diesem Gefühl nämlich, daß noch niemand auf so originelle Weise wie ich sein Hobby zum Beruf gemacht hatte.

Lisa und ich, beide waren wir froh, als die Alten sich endlich aus dem Geschäft zurückzogen – nicht nur, weil sie nun auch endlich bereit waren, mir und Lisa die obere Wohnung zu überlassen und sich selbst mit den Zimmern hinter dem Laden zu bescheiden. Heute, da ich all diese Landschaften so an mir vorüberziehen sehe, frage ich mich, wie wir uns zu viert in diesem kleinen Laden überhaupt Tag für Tag beschäftigen konnten. Traditionell war es so, daß die Frauen sich hauptsächlich um den Verkauf, die Männer um den Einkauf kümmerten; darüberhinaus wickelten mein

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Schwiegervater und ich gewöhnlich die besonderen Aufträge ab, bereiteten zum Beispiel den Blumenschmuck für Beerdigungen und Trauerfeiern vor. Dennoch standen wir uns in diesen Jahren oft alle gegenseitig auf den Füßen herum, und vielleicht war es etwas übertrieben, wenn ich irgendwo den Eindruck erweckt habe, ich hätte mein halbes Leben lang härteste Arbeit geleistet. Wirklich harte Arbeit kam auf Lisa und mich erst zu, als die Alten endlich Rentner waren; allerdings war das Härteste an dieser Arbeit auch dann nicht unbedingt das Blumenverkaufen, sondern eher das Restleben der verrenteten Blumeneltern. Dieses endende Leben war nichts weiter als ein endloses Sterben, und wenn damals ich mit meinem verschuldeten Trauerblumengeschäft, meiner dürren und knochenharten Lisa und meinen lebenslang sterbenden Schwiegereltern nicht ständig meiner Mutter begegnet wäre, so würde ich heute schreiben, was meinem Vater geschehen war, sei immer noch das Gnädigste.

Früher, zu Lebzeiten meines Vaters, war das Verhältnis zwischen meinen Eltern und meinen Schwiegereltern leidlich gewesen, da jene, gebildet wie sie waren, gerne gebildete Konversation betrieben, mit der diese gerne gedient hätten. In den ersten Jahren nach dem Tod meines Vaters wurde meine Mutter bei den Familiengesprächen empathischer, wohl weil sie um jedes Gespräch froh war. Zu dieser Zeit, als wir noch alle vier im Blumengeschäft arbeiteten, schaute meine Mutter ungefähr einmal im Monat bei uns vorbei, auf einen Kaffee bei meinen Schwiegereltern oder auf ein Abendessen bei uns allen, nachdem sie zuvor ihren Vater auf dem Friedhof gegenüber sowie ihre Mutter im Altersheim besucht hatte, die, inzwischen um die Neunzig, bewegungsunfähig und geistig verwirrt in einem vergitterten Anstaltsbett vor sich hin dämmerte. Meine Mutter, damals Mitte, Ende Sechzig, war selbst ziemlich gealtert, trug seit dem Tod meines Vaters nur noch Trauerkleidung, war ergraut und recht verknittert, aber noch keineswegs rückwärtsgewandt, sie sprach noch kaum von ihrem verstorbenen Mann und versuchte, ihr karges und asketisches Witwendasein hinter ihren gebildeten Worten und hinter großzügigen Nachlässen zu Lebzeiten zu verbergen.

Nachdem meine Schwiegereltern sich endgültig zur Ruhe gesetzt hatten, kam meine Mutter auf meine und Lisas Bitten hin etwas öfter zu Besuch, um den beiden beschäftigungslosen Alten Gesellschaft zu leisten, denn schon nach wenigen Wochen Ruhestand hatten sich die ersten Abgründe aufgetan: Lisas Eltern, die ihr ganzes Leben lang Blumen verkauft hatten, wußten nicht mehr, was sie tun sollten. Sie saßen den ganzen Tag lang in ihren tristen Zimmern hinter dem Laden, sahen fern, lasen Illustrierte, lösten Kreuzworträtsel oder hielten bis spät in den Nachmittag hinein

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Mittagsruhe. Wenn sie hin und wieder zum Abendessen oder nach dem Essen zum Fernsehen zu uns nach oben kamen, beklagten sie sich, daß sie keine Aufgabe mehr hätten, doch wenn wir sie dann aufforderten, uns mal wieder im Laden ein bißchen zur Hand zu gehen, belehrten sie uns, daß sie jetzt Rentner seien und das Blumengeschäft uns gehöre. Mein Schwiegervater verkraftete dies Rentnersein anfangs etwas besser als seine Frau, ihm blieb wenigstens noch zweimal in der Woche der Einkauf im Supermarkt, der schon seit langem zu seinen Aufgaben zählte: Das rechte Hüftgelenk meiner Schwiegermutter war abgenutzt, schon die letzten Jahre auf den graumelierten Steinfliesen des Blumengeschäftes waren eine arge Quälerei gewesen, und nun, im Ruhestand, litt sie unaufhörlich. Bereits beim Aufstehen berief sie sich auf ihre Hüfte, und um diese zu schonen, ruhte sie dann von früh bis spät in ihren Hinterzimmern; man konnte beinahe zusehen, wie sie alterte. Nur, wenn meine Mutter sich zum Kaffee angemeldet hatte, gab ihre Hüfte plötzlich Ruhe, und an solchen Tagen konnte es vorkommen, daß sie sich bereits Stunden, bevor der Besuch erwartet wurde, zu uns in den Laden stellte, herausgeputzt wie zu einem späten Rendezvous, plappernd und imstande, die Kunden zu bedienen.

Meine Mutter, die sich zunächst nur mir zuliebe um Lisas Eltern gekümmert hatte, schaffte es tatsächlich, die beiden ein wenig aufzumuntern, und als sie merkte, daß sie helfen konnte, schien sie plötzlich auch sich selbst zu helfen. Zwischen den drei Eltern entspann sich, für alle überraschend, eine kleine Freundschaft. Regelmäßig zweimal in der Woche schneite meine Mutter bei uns in den Laden herein und wehte flugs – kaum daß sie uns zuwinkte – durch die Blumen hindurch nach hinten, wo sie schon bei gedecktem Kaffee- oder Frühstückstisch erwartet wurde. Manchmal half sie dann abends meiner Schwiegermutter beim Kochen, manchmal auch vormittags meinem Schwiegervater beim Wohnungsputz, und drei- oder viermal chauffierte sie die beiden sogar hinaus zu irgendwelchen Ausflugslokalen am Starnberger See oder in den Bergen. Lisa und mich amüsierte es, daß meine Mutter, mit ihren gut siebzig Jahren von allen die Älteste, sich um die andern Eltern bemühte wie deren nie geborene Enkelin, aufsässig und unternehmungslustig, und ihnen mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit sogar diese sporadischen Ausflüge abtrotzte, von denen die beiden verhinderten Großeltern, so sehr sie sich zuvor auch gesträubt haben mochten, jedesmal tagelang zehrten. Das Lachen allerdings sollte uns vergehen, als nach einigen Monaten selbst die Überredungskünste meiner Mutter

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nicht mehr fruchteten: Immer schon waren eigentlich die Hüftschmerzen zu stark oder das Augenlicht zu schwach, war man zu müde, zu krank oder zu alt gewesen; nun aber erhob sich meine Schwiegermutter, während sie klagte, nicht mehr von ihrem Platz auf dem Sofa, und mein Schwiegervater, der sonst immer wortkarg zwischen den Fronten gestanden hatte, schob nun die Sorge um ihr Hüftgelenk vor.

Vielleicht ist es unfair, das alles einfach als Ausreden abzutun, aber ich ärgere mich noch heute, wenn ich durch das Dauerrattern meiner verrinnenden Zeit die weinerlichen Klagen wiederhöre, daß sie nie mehr aus ihren Hinterzimmern herauskämen, – überlagert von den nicht zu entkräftenden Argumenten, warum es gerade heute unmöglich sei, diese Hinterzimmer zu verlassen. Da half es auch nichts, einen Ausflug ein, zwei Wochen im voraus zu planen, notfalls sagten sie sogar noch ab, wenn meine Mutter schon vor ihnen stand, um sie ins Auto zu laden. Es ist leider wahr: Mein Schwiegervater, verblendet vom Grauen und Grünen Star, konnte kaum mehr sehen, und meine Schwiegermutter konnte kaum mehr gehen. Während aber der Blinde sich einige Jahre vor seinem Tod noch operieren ließ, um sehenden Auges den letzten Gang anzutreten, legte die Lahme ihre Scheuklappen nie wieder ab; sie hätte ein künstliches Hüftgelenk gebraucht, doch irgendwer hatte wohl von »Prothese« gesprochen … Alle, ihre Ärzte, ihre Tochter, ihr Schwiegersohn, dessen Mutter, alle außer ihrem Mann (der fürchtete, sie könnte aus der Narkose nicht mehr erwachen) rieten ihr zur Operation, doch je eindringlicher alle wurden, desto verstockter wurden sie. Eines Tages kamen sie vom Arzt – meine Mutter hatte sie gefahren – mit Krücke zurück, und meinem inneren Auge erscheint das winterliche Bild, wie die Alte da so mit drei Beinen durch die Tür des Blumenladens humpelt, als das Fanal zur Katastrophe: Von diesem künstlichen Bein viel peinlicher berührt, als sie es von einem künstlichen Hüftgelenk je hätte sein können, lag sie nunmehr von früh bis spät im Morgenrock auf dem Bett und jammerte. Nur für meine Mutter raffte sie sich noch auf und ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank; doch durch den Elefantenpanzer ihres Leides drang auch ihre nie geborene Enkelin nicht mehr zu ihr durch. Seit sie erstmals Hand an eine Krücke gelegt hatte, haßte die Blumenoma sich selbst, und wann immer man ihr unter die Augen kam, fing sie an zu winseln, ihr Leben sei nichts mehr wert, es sei überhaupt kein Leben mehr, am liebsten würde sie sterben. Und zu meiner Mutter (die mir das mit einer Empörung erzählte, die ihr selbst unheimlich war) sagte sie nun immer öfter, es sei nicht gut, so alt zu werden, man müsse vorher

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sterben, am besten so früh und schnell wie … Natürlich: Sie sagte zu meiner Mutter, man müsse so früh und so schnell sterben wie mein Vater.

Das ging kaum einige Wochen lang gut. Meine Mutter, die dagegen ankämpfte, daß sie diese senile Klage als Verhöhnung empfand, verlor wohl immer öfter ihren inneren Kampf, denn die Blumenoma beklagte sich nun nach jedem Besuch bitterlich über sie. Und der Opa, der vor dem Gejammer, Gewinsel und Geklage seiner Frau nicht nach Nymphenburg fliehen konnte, verfiel auf die verzweifelte Idee, seine Einkaufsstrategie zu ändern und nicht mehr zweimal wöchentlich, sondern jeden Nachmittag zum Supermarkt loszuziehen, um wenigstens für eineinhalb Stunden am Tag friedlich unterwegs zu sein. Das allerdings verführte seine Frau dazu, ihm, solange er zu Hause war, mit dem Vorwurf in den empfindsamen Ohren zu liegen, er schere sich nicht um ihr Schicksal, und sie sei ihm völlig gleichgültig, – was ihn wiederum dazu veranlaßte, nicht mehr im Supermarkt, sondern in verschiedenen kleinen Läden einzukaufen, in der Bäckerei, der Metzgerei, dem Gemüseladen, der Drogerie, wofür er in seiner Verdüsterung den halben Nachmittag brauchte. Und so waren Lisa und ich nicht mal überrascht, als meine Mutter eines Tages – es muß wohl an einem Montag, unserem Ruhetag, gewesen sein, denn wir waren oben in unserer Wohnung – plötzlich vor unserer Tür stand, völlig aufgelöst, und mit letzter Selbstbeherrschung berichtete, Lisas Mutter habe sie beschuldigt, ein Verhältnis mit ihrem Mann zu haben; sie sei mit der Krücke auf sie losgegangen und habe sie – »höchst behende« (ich höre es noch ganz deutlich) – aus dem Zimmer geprügelt.

Und so sah dann der letzte Besuch meiner Mutter in unserem Blumenhaus aus. Künftig fuhren Lisa und ich von Zeit zu Zeit zu zweit nach Nymphenburg, um dort in der geräumigen Vierzimmerwohnung die Hilfsbereitschaft meiner Mutter nicht völlig versiegen zu lassen. Meine Schwiegermutter aber hatte sich für den Rest seiner Tage in den Kopf gesetzt, daß ihr Mann sie mit meiner Mutter betrüge, und wenn er jeden Nachmittag viele Stunden lang unterwegs war, so lag das nicht etwa an seinen erblindenden Augen oder der unerträglichen Trostlosigkeit, sondern daran, daß er sich jeden Nachmittag mit seiner »Nymphenburger Hure« traf, um jeden Nachmittag mit ihr in Nymphenburg »herumzuhuren«.

Diese Katastrophe dauerte – man mag es kaum glauben – zwölf Jahre. Zwölf Jahre vergingen zwischen dem letzten Besuch meiner Mutter in unserer Kleinstadt nordwestlich von Menzing und dem Tod meines Schwiegervaters mit neunundsiebzig Jahren. In diesen zwölf Jahren gab es nach meiner Erinnerung nicht einen einzigen Augenblick der

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Liebe oder auch nur der Freundschaft und des Respekts zwischen meinen Schwiegereltern – sie bekämpfte ihn bis aufs Blut, und ihm verschwammen die Bilder vor seinen Augen: der Graue und der Grüne Star und die Unvereinbarkeit seiner Erinnerungen mit der lichtlosen Gegenwart. Selbst in den letzten Monaten vor seiner ersten Operation, als er nur noch Schattenrisse sah, ließ er es nicht zu, daß Lisa seine Einkäufe mitübernahm; er hatte die Schritte zwischen den einzelnen Läden abgezählt und seinen Parcours in inwendige Teilstrecken gegliedert, auf denen er so sicher wandelte wie durch eine leere Welt. Aber auch später, als er wieder sehen konnte, tastete er sich immer wieder, mehrmals in der Woche, meistens nur abends oder montags, um uns nicht bei der Arbeit zu stören, zu Lisa und mir und weinte, weil er die sinnlose Feindseligkeit seiner Frau und seines endlos zu Ende gehenden Lebens nicht länger hinnehmen wollte. Sie dagegen weinte nie; sie wetterte und zeterte, und wo bei ihm die Trauer weste, gärte bei ihr der Haß. Wenn er zu Hause war, keifte sie ihn unablässig an, beschimpfte ihn als »ekelhaften Hurenbock«, der noch mit achtzig seine hilflose Frau betrüge, und sprach ihn schuldig an ihrem Unglück. Und wenn er einkaufen und sie es leid war, den Fernseher oder die Fenster anzukeifen, kam sie – bekleidet bloß mit dem Morgenrock, den sie nur noch nächtens auszog – auf ihrer Krücke oder später auf ihren beiden Krücken oder noch später in ihrem Rollstuhl in den Laden gehumpelt oder gerollt und setzte ihr Geschimpfe auf ihren Mann und die Blumen vor der verstörten Kundschaft fort, und wenn wir ihr dann mit sanfter oder endlich mit roher Gewalt in ihr Hinterzimmerchen heimleuchteten, so schimpfte sie auch auf uns, die wir an ihrem Unglück schuld waren, weil wir keine Kinder wollten und sie so um das Glück betrogen, Oma zu sein.

Und auch meine Mutter, die für Lisa und mich nach dem Eintritt der Katastrophe anfangs so etwas wie ein Fluchtpunkt gewesen war, verlor sich nun rasch im wirbelnden Unglück. Sie hatte sich nach diesem grotesken Angriff mit der Krücke nie mehr um einen anderen Menschen bemüht, nur noch um sich selbst (und um mich), doch auch ihre Hilfsbereitschaft und auch die heilige Literatur oder der Rausch der deutschen Romantik konnten ihr den Ehemann nicht mehr ersetzen. Sie sprach immer öfter von ihm und wurde immer engherziger. Sie konnte den wachsenden Lebensüberdruß der beiden Blumengreise, den sie nur noch aus unseren Berichten kannte, nicht mehr verwinden. »Was sollen all die Worte und die Noten«, sagte sie, »wenn sie keine Referenz mehr haben.« Und sie schien die Literatur und die Musik tatsächlich aufzugeben, vielleicht, um sich aus der furchtbaren Sympathie mit dem Abgrund zu befreien,

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doch sie verkapselte sich nur, selbstbezogen und hartleibig in ihrer geräumigen Vierzimmerwohnung, immer hermetischer im Tode. »Wir hätten noch so viel unternehmen können«, klagte sie, »eigentlich hatten wir unser ganzes Leben noch vor uns. Warum mußte er sterben?« So kam es zu der absurden Situation, daß am Ende nicht nur meine Schwiegermutter meinen Vater um seinen frühen Tod, sondern nun auch meine Mutter meine Schwiegermutter um das lange Leben meines Schwiegervaters beneidete. Sie konnte – nicht mehr die Frau, die sie gewesen war – nicht verstehen, daß ihr Mann, der noch so lange hätte leben wollen und können, in seinen besten Jahren hatte sterben müssen, während diese beiden »ungebildeten Alten« – wie sie sie jetzt nannte –, die nichts mehr anzufangen wüßten mit ihrem Leben und am liebsten sterben würden, nicht sterben könnten und noch als »biblische Greise« gegen ihren Willen weiterleben müßten. Der wuchernde Menschenhaß setzte ihr altes Ressentiment gegen Lisa wieder frei, das eigentlich eher das meines Vaters gewesen war, sie grüßte sie nicht mehr, übersah und überhörte sie und sagte mir ins Gesicht – so als wäre Lisa gar nicht da –, daß ich besser mein »Loch am Mittleren Ring« geheiratet hätte als dieses »flegelhafte Kampfhuhn«. Lisa kam daraufhin nicht mehr mit nach Nymphenburg, ich zerstritt mich mit meiner Mutter und besuchte sie bis zu ihrem Tod nicht mehr öfter als drei- oder viermal im Jahr.

Nun kommt die schlimmste Zeit meines Lebens, schlimmer als einst die Albträume vom Schrankenwärter. In seinen letzten beiden Jahren nämlich konnte mein Schwiegervater nicht mehr einkaufen gehen: Er hatte die wuchernden Krampfadern, Venenentzündungen und Thrombosen in seinen Beinen so lange versteckt, bis er sich vor Schmerzen nicht mehr rühren konnte. Seine Unterschenkel, als wir sie endlich zu sehen bekamen, glühten in einem schillernden Rotblau und waren fast auf doppelten Umfang angeschwollen. Es war eine Krankheit zum Tode, er verbrachte einige Tage in der Klinik, bekam Medikamente und Stützstrümpfe, aber eine Besserung war wohl – warum auch immer – nicht mehr zu erwarten. Lisa war nun Mädchen für alles ihrer sterbenden Eltern, und ich war im Blumengeschäft fast völlig auf mich allein gestellt. Jede Stunde wurde zur Qual. Lisas Vater, dessen Tage nun ebenfalls die Gestalt der Hinterzimmer angenommen hatten, war mit dem tödlichen Haß seiner Frau infiziert und beantwortete schon ihr morgendliches Gekeife mit Gebrüll, und irgendwann im Laufe jedes Tages schaukelte sich ihr Streit zu einer Schlacht auf, die die Enge der Hinterzimmer sprengte, im Laden hörte man ein erschütterndes Zetermordio, das mich noch um meine

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abgestumpftesten Trauerkunden fürchten ließ. Mehrmals in diesen letzten Jahren warf sie, ohne je zu treffen, mit einem Küchenmesser nach ihm, und einmal zertrümmerte er mit ihren Krücken die Glastürchen des Wohnzimmerschrankes. Auch Lisa und ich gehörten für die beiden Kampfgreise nun eher zur feindlichen Umwelt, sie ignorierte uns nach Möglichkeit, während er ihre alte Gewohnheit übernommen hatte und mehrmals täglich zu mir in den Laden schlurfte, in zerschlissenen Pantoffeln, mit heraushängendem Hemd und rot unterlaufenen, verquollenen Augen, und ungeachtet der Kundschaft zu winseln und zu schimpfen begann und mit Mord und Selbstmord drohte. Lisa, die ganze Arbeitstage zwischen den Gladiatoren zubrachte, um sie vom Endkampf abzuhalten, holte ihn wieder zurück, und manchmal hatte sie dabei Tränen in den Augen – es war die einzige Zeit in unserem gemeinsamen Leben, in der ich Lisa weinen sehen konnte. Stillschweigend wünschten wir uns beide, es möge zu Ende gehen, doch die Bilder, wie es dann tatsächlich zu Ende ging, werden mich noch über das Ziel meines Lebens hinaus verfolgen: Das Blut versackte ihm in den Waden, und von den Zehenspitzen aufwärts färbten sich seine aufgeblähten Beine allmählich schwarz. Nur eine beidseitige Amputation hätte ihn retten können, doch solange er bei Bewußtsein war, wehrte er sich mit letzter Kraft gegen diese Zumutung, und als er im Morphium- und Fieberwahn nur noch delirierte, waren es Lisa und ich, die die Ärzte von einer Amputation abhielten. Sein Todeskampf dauerte fast drei Wochen. Drei Wochen Höllenqualen, die nicht einmal das Morphium zu lindern schien, denn er stöhnte auch im Delirium beinahe unaufhörlich, und in einem beängstigend regelmäßigen Rhythmus entfuhren ihm grauenvolle Schreie, die noch heute meine vereiste Fensterscheibe zum Klirren bringen. Als er starb, waren seine Beine bis über die Knie verkohlt. Wir begruben ihn auf dem Friedhof gegenüber seinem Blumengeschäft, seine Frau, seine Tochter und ich.

Meine Mutter war dann die nächste, die starb, nur wenige Monate später, fünfundachtzigjährig. Sie hatte, soweit man weiß, einen schönen Tod, sie wachte wohl eines Morgens einfach nicht mehr auf. Unschön allerdings war, daß man sie erst fünf Monate nach ihrem Tod fand – schließlich sprach ja auch ich nur noch selten mit ihr. Als ich sie dann in ihrem Bett vor dem laufenden Fernseher liegen sah, hatte sie mit meiner Mutter keine Ähnlichkeit mehr.

Blieb nur noch Schwiegermama. Sie war, seit dem Tod ihres Mannes, ein pflegeleichter Fall. Wir hatten ihr sein Leid verschwiegen, hatten ihr während seines Todeskampfes gesagt, er wolle sie im Krankenhaus nicht sehen, was ihr natürlich sehr willkommen gewesen war, um ihn mit noch größerer Berechtigung beschimpfen zu können. Doch als wir

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ihr dann die Todesnachricht überbrachten, brach sie in einem Weinkrampf zusammen, weinte fast den ganzen Tag. Plötzlich war aller Haß von ihr abgefallen, keine Rede mehr davon, daß er sie die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens durchgehend betrogen habe. Ihr Verstand schwand schnell, schon wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes fragte sie uns jeden Nachmittag – nicht vorwurfsvoll oder gehässig, sondern sehnsüchtig und besorgt –, warum er wohl heute so lange zum Einkaufen brauche. An ihre Kindheit und an die erste, glückliche Zeit ihrer fünfundfünfzigjährigen Ehe konnte sie sich mit einer unbegreiflichen Deutlichkeit erinnern, die Gegenwart indessen entschwand ihr, sie nahm nicht mehr wahr, was in ihr und um sie herum verfiel, hatte gleichsam schon einen Aussichtspunkt jenseits ihres Todes bezogen. Wir lehnten es ab, sie in ein Heim zu geben, ich erinnerte mich mit Schrecken an meine Großmutter, die sechsundneunzigjährig in jenem Ding nicht weit von unserem Blumengeschäft verstorben war, ohne daß ich sie jemals besucht hätte. Wir behielten sie bei uns in unseren Hinterzimmern und pflegten sie dort zu Tode, vor allem Lisa natürlich. Sie zog von ihrem Rollstuhl in ihr Endlager um, wir mußten sie führen, wenn sie raus mußte, bald konnte sie gar nicht mehr aufstehen, wir mußten sie füttern und ihre Notdurft verrichten. Sie überlebte ihren Mann nur um knapp fünf Jahre und starb sechsundachtzigjährig an einem Schlaganfall. Wir begruben sie neben ihm, nur Lisa und ich. Lisa war fünfundfünfzig, ich bin zweiundsechzig.

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Plötzlich wach geworden,
wollte ich mit einer Taxe zum Bahnhof jagen,
da mir schien, daß ich verreise –
erst in der folgenden Minute machte ich mir mühsam klar,
daß gar kein Zug für mich auf dem Bahnhof stand,
gar keine Stunde gekommen war.
Witold Gombrowicz, Ferdydurke

Am Morgen nach der Beerdigung meiner Schwiegermutter erwachte ich mit dem Gedanken, daß nun auch mein Leben zu Ende sei. »Mein Leben«, lautete mein Gedanke, nicht etwa: unser Leben – und als ich darüber nachsann, warum ich an diesem Morgen, der uns beiden am Abend zuvor noch wie der Morgen einer großen Erleichterung vorgekommen war, meine neben mir schlafende Frau Lisa aus meinen Gedanken entfernt hatte, wußte ich plötzlich, daß nun nicht etwa mein Leben zu Ende war, sondern unser Leben.

Wenn ich es genau bedenke, bin ich mir nicht sicher, – nun, da ich Gedanken in Gefühle und Gefühle in Gedanken zu verwandeln habe –, ob dieses Erwachen, mit dem sich mein Leben zum zweiten und letzten Mal entscheidend wandelte, wirklich ein Gedanke war oder nicht doch eher ein Gefühl; allerdings bin mir völlig sicher, daß ich seit diesem gedachten oder gefühlten Morgen der großen Erleichterung in jenem Gefühl lebe, das seit jeher für mich bestimmt gewesen war und das ich nun – auch dessen bin ich mir völlig sicher – nie wieder verlassen werde: in dem Gefühl, alleine durch eine leere, unsichtbare, hermetische Welt zu streifen.

Noch am selben Tag begann ich mit den Vorbereitungen. Ich versuchte, alles vor Lisa zu verbergen, und da wir uns schon seit vielen Jahren nicht mehr füreinander interessierten (uns vielleicht nie füreinander interessiert hatten), schien sie tatsächlich nichts zu merken. Wochenlang lebten wir weiter nebeneinanderher, als wäre nichts geschehen. In der letzten Nacht vor meiner Abreise packte ich im Keller einen Rollkoffer, Kleidung, Reiseutensilien, Kulturbeutel, Essen, ein paar Bücher aus dem Nachlaß meiner Mutter, Papier und Stifte, um Lisa von unterwegs einen Brief zu schreiben, schließlich hatte ich unser gemeinsames Leben doch gemocht. Ich verließ dieses Leben an einem klaren Märzmorgen kurz nach Sonnenaufgang, ohne ein Wort zu meiner Frau, die entweder noch schlief oder unter der Dusche stand.

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Mit der Schnellbahn fuhr ich von der Großen Kleinstadt Richtung München-Hauptbahnhof, und als ich in Menzing den spurlos verschwundenen Bahnübergang passierte, der mir einst in meinen schlimmsten Albträumen erschienen war, sah ich das abgerissene Schrankenwärterhäuschen an meiner Nase vorbeirasen. Zwischen meinem Gesicht und dem schattenhaften Kopf des Jungen hinter der Fensterfront stob explosionsartig eine graue Wolke Restlaub auf und zerplatzte. Der Bahnübergang war längst vorüber, und während die Schnellbahn weiter ruhig durch den Münchner Westen glitt, blickte mein inneres Auge dem Schrankenwärterhäuschen nach, das in einem Staubwirbel über den zusammenfließenden Gleisen verschwand, bis sich schließlich ganz Menzing in einem trüben Fluchtpunkt aufzulösen schien.

Eine Traurigkeit erfaßte mich, wie ich sie noch nie in meinem Leben empfunden hatte. Fast hätte ich geweint, angesichts des halbierten Schrankenwärters, der mir dort oben hinter seiner Fensterfront verzweifelt und sehnsüchtig zuwinkte. Wie hatte ich ihn nur, nach allem, was wir zusammen durchgestanden hatten, so brutal aus meinem Leben entfernen können? Ich fühlte mich schuldig an dem schrecklichen Unglück und schämte mich wie zum ersten Mal. Und wie zum ersten Mal hörte ich jenen Satz, den ich seither – als wäre er der wirklich gemeinte Gedanke zu dem hermetischen Gefühl – nie wieder verlassen habe und in dem es mir letztlich wohl unmöglich geworden ist, den Abschiedsbrief an Lisa zu schreiben.

Am Hauptbahnhof bestieg ich einen Schnellzug nach Berlin, wo ich bis zum nächsten Morgen im nächsten Hauptbahnhof warten mußte, ehe mich mein Schlafwagen nach Moskau aufnahm. Sobald Deutschland hinter mir lag, legte ich mein Papier auf das Fenstertischchen, um an Lisa zu schreiben, doch die Frau, die ich dreiunddreißig Jahre lang geliebt und vor wenigen Stunden verlassen hatte, war mir so fern und fremd, daß ich mich kaum mehr an sie erinnern konnte. Der Schrankenwärter dagegen, vor mehr als einem halben Jahrhundert vergessen, war mir völlig gegenwärtig, und an jedem Bahnübergang, den ich passierte, konnte ich ihn in seinem Häuschen stehen sehen, halbiert mit breiter Büste und mondrundem Kopf, kurbelnd und mir verzweifelt und sehnsüchtig zuwinkend.

Ich schrieb kein Wort an Lisa, dafür den Anfang dieser dreiteiligen Beichte, und in meiner schwerelosen Kapsel hatte ich die letzte Spur des Menzinger Bahnübergangs noch vor dem Umspurbahnhof getilgt. Dann jedoch kam die schlimmste Zeit meiner Reise. Ich kam nicht weiter, konnte den ganzen Abend nichts essen, mußte Schaffner und

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Zöllner mehrerer Schichten und Länder ignorieren, ebenso die Landschaften, die draußen wegsanken, las und hörte immer wieder jenen einen Satz und bemerkte irgendwann, daß ich über meinem Satz vergessen hatte, zu schlafen, da das künstliche Weiß, in dem mich mein Papier seit vielen Stunden anstrahlte, verblaßt war. Auf der anderen Seite des Fensters, wo ich weiter alles hinter mir ließ, war es wieder Tag und über Nacht wieder Winter geworden. Der Himmel schleifte in langen, verrußten Vorhängen über die Erde, die von oben langsam ausbleichten.

Von jenseits verfolgte ich die Rückkehr des Winters in eine lautlos tobende Landschaft. Ich war so müde, daß ich auch nichts frühstücken konnte, und für jeden Satz, den ich wiederlas und wiederabschrieb, auch für jenen einen, schien ich die gesamte verlorene Zeit zu brauchen, die sich draußen immer dichter und dicker über das dämmernde Rußland legte, das ich sah, aber nicht wahrnahm. Als ich am Vormittag meines dritten Reisetages im verschneiten Moskau ankam, hatte ich vom Mittelteil meiner Lebensbeichte gerade mal zwei fragwürdige Absätze aufs Papier gebracht.

Bei der Buchungsprozedur – unerklärliche Wochen in der Vergangenheit – hatte es einen Moment gegeben, da ich beinahe von meinem Lebensplan zurückgetreten wäre: Es hatte mich sehr geärgert, daß ich die mythische Verbindung zwischen Ankunfts- und Zielort für eine Nacht in einem Moskauer Hotel unterbrechen sollte. Jetzt, nach zwei zerrütteten Tagen und zweieinhalb schlaflosen Nächten, dankte ich dem weichen russischen Himmel und meinem unfreundlichen Reiseveranstalter für diese glückliche Fügung der Fahrpläne, und als ich am Nachmittag des vierten Tages, nach fünfzehn Stunden Schlaf in einem Himmelbett und mehreren Mahlzeiten, auf dem Moskauer Jaroslawler Bahnhof in die Transsibirische Eisenbahn einstieg, um meine siebentägige Reise ans andere Ende der Welt anzutreten, fühlte ich mich frisch und gesund, als wäre ich gerade erst geboren worden.

Die Transsib, der legendäre »Rossija«, ist ein fünfhundert Meter langes, allerdings eher sanftes Ungetüm. Wütend dagegen war der Schaffner, als er begriff, daß ich zwei Fahrkarten für eine Person hatte, um in einem Zwei-Bett-Abteil für mich alleine bleiben zu können. (Wahrscheinlich war mein Reiseveranstalter wegen dieses meines Sonderwunsches so unfreundlich gewesen; hätte er aber diesen auch nicht erfüllen können, wäre ich wirklich zurückgetreten). Dem Schaffner versuchte ich mit Händen und Füßen und mit mir selbst unverständlichen Worten verständlich zu

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machen, daß ich Schriftsteller sei und meine Ruhe brauche, um die Transsib und auch ihn in hymnischen Versen besingen zu können, was ihn tatsächlich etwas zu besänftigen schien – vielleicht war es aber auch das Trinkgeld, das ich ihm gleich im vorhinein für die ganze Reise zusteckte.

Ich hatte also, wie in meinem Schlafwagen Berlin-Moskau, ein Abteil für mich allein. Darin richtete ich mich ein, um sofort bei Abfahrt den Brief an Lisa schreiben zu können, legte mein Papier auf das Fenstertischchen, beschrieb schon mal einen Umschlag mit ihrer Adresse, und als sich der größte Zug der Welt in Bewegung setzte, die Hälfte dieser Welt zu durchqueren, wußte ich plötzlich – bevor ich auch nur »Liebe Lisa« schreiben konnte –, wie ich die Mitte meines Lebens beichten mußte.

Und so begann – ohne jeden Zweifel – die schönste Zeit meines Lebens. Die Bahnstrecke von Moskau durch Sibirien über den Ural, den Jenissej, vorbei am Baikalsee, entlang der mongolischen Grenze und des Amur bis nach Wladiwostok, 9300 Kilometer von der größten Stadt Europas bis ans fernöstliche Ufer des Pazifischen Ozeans, gehört sicher zum Eindrucksvollsten, was man erfahren kann. Ich jedoch bekam von all den vorbeiziehenden Landschaften nichts mit. Tag für Tag, von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht, nur unterbrochen vom Frühstück und vom Abendessen im Speisewagen, von den regelmäßigen Teelieferungen des Schaffners Semjonytsch und von den ekelerregenden Kulturleistungen im Waschraum, kritzelte ich im gelben sibirischen Winterlicht oder im ebenso gelben Kunstlicht meines transsibirischen Abteils den Mittelteil meiner Lebensbeichte, und obwohl ich mich an das Kleinstadtgrauen viel exakter erinnern konnte als an die verschwimmende Menzinger Frühzeit, die ich zwischen Berlin und Brest neu zusammengeschöpft hatte, war es auch weiterhin, wie in der schlimmsten Zeit meiner Reise zwischen Brest und Moskau, viel schwieriger, dem unendlichen Sterben des Erwachsenseins eine lesbare Form zu verleihen als früher den Ewigkeitsphantasien der Kindheit. Unter den Erschütterungen der Erinnerung, die mit den Erschütterungen des versinkenden Europas zusammenklangen, mußte ich fast jeden Absatz mehrfach wiederschreiben, und im Laufe der Tage überpolsterte sich mein Abteil mit verworfenem weißen Papier, als wollte es der versunkenen Welt auf der anderen Seite des Fensters entsprechen. Das tagundnachtgleiche Rattern meiner Erde und das Klirren meines Fensters löste Buchstabe um Buchstabe aus den Sedimenten meines Seins. Mit jedem Wort, das im Rhythmus meines einen Satzes von mir abfiel, wurden meine Tage leichter; mit jedem ungeträumten Traum meine Nächte voller. Und mit jeder

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Morgendämmerung tagte ich in eine Welt, die sich immer umfassender in mir spiegelte, während ich mich in ihr spiegelte, und ihre transzendente Bewegung wurde restlos identisch mit meiner Bewegungslosigkeit. Jeder erste Tagesschein in dieser schönsten Zeit meiner Reise zwischen Moskau und Belogorsk verhieß mir ein neues Leben vollkommener Freiheit und Einsamkeit, in dem ich nichts tun mußte, außer mich erneut bis zum Tod rückstandslos, im Rhythmus der Weltrotation und jenes meines einen Satzes, in Worte und ihre Zwischenräume zu verwandeln. Das Fenster meines Gefährtes ließ sich nicht öffnen (es läßt sich auch jetzt noch nicht öffnen), die Tür verschloß ich von innen (wann immer möglich), ich mußte mit niemandem sprechen, weil alle mich verabscheuten (und immer noch verabscheuen, ausgenommen Semjonytsch, der sicher noch nie so viel Trinkgeld bekommen hat), und jedes Blatt, das nicht weiß auf den Boden schneite, sondern geschwärzt meinen Papierural neben dem leeren Briefumschlag erhöhte, bewies mir – im goldenen Zeitalter zwischen Moskau und Belogorsk – aufs neue den Solipsismus.

Das einzige, was ich in dieser schönsten Zeit meines Lebens – außer der schlimmsten Zeit meines Lebens – mitbekam, war Schnee, Schnee in Massen, so maßlos viel Schnee, wie ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Ich weiß nicht, ob dies sibirische Normalität ist Ende März, ich weiß nur, daß die Transsibirische Eisenbahn, je tiefer sie in Taiga und Waldsteppe eindrang, immer mehr der Transsibirischen Eisenbahn ähnelte, die einst – auf ihrem Weg von Brest nach Wladiwostok – das Menzinger Schrankenwärterhäuschen passiert und mich hinter meiner Fensterfront in die Wolken erhoben oder unter einer Lawine begraben hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich den Zug an meiner Scheibe vorbeidonnern, und immer wieder geschah es, daß ich aus dem dicken weißen Nebel, in den er meine Schaltzentrale tauchte, nicht mehr auftauchte und an der nächsten Station vom Bahnsteig aus mit einem langstieligen Eiskratzer die äußere Scheibe meines verschlossenen Abteilfensters von den Krusten der Vergangenheit befreien mußte. Zeitlos verschneite Wald- und Sumpfhorizonte wandelten durch solcherart freigekratzte Gucklöcher zwischen meine Zeilen, Stunde um Stunde, Tag um Tag, ewig unwandelbar wie mein eigener Widerschein auf dem weißen Papier. Eines Tages jedoch, als ich wieder einmal zufällig von meinen Zwischenräumen aufsah, erblickte ich anstelle der Ewigkeit, in der ich mich sonst wiedererkannte, für wenige Sekunden ein im aufwirbelnden Schnee verschwindendes Auto, das an einem schrankenlosen Bahnübergang wartete; das Gesicht war vorüber, und als ich wieder Schwarz auf Weiß sah,

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glaubte ich, ein Wrack im Straßengraben gesehen zu haben, aus dessen scheibenlosen Fenstern der Schnee über die verrostete Karosse quoll. »Sicher«, dachte ich, »steht es hier seit mehr als einem halben Jahrhundert.« Das war an jener Station meiner Reise, wo meine Mutter mit einer Krücke verprügelt wurde und die Katastrophe eintrat.

Am Abend meines sechsten Reisetages, wenige Minuten, nachdem der Zug in den Bahnhof des russisch-fernöstlichen Belogorsk eingefahren war, schloß ich die Mitte meines Lebens ab. Ich räumte den Papiermüll weg, der mein Abteil seit Jahrzehnten überpolsterte, und wankte, als der Zug zu seiner letzten Nachtfahrt anfuhr, zum Abendessen in den Speisewagen. Fast hätte ich mir vorstellen können, mit jemandem zu sprechen, so schwerelos fühlte ich mich; es hätte aber ohnehin niemand mit mir sprechen wollen, auch war der Speisewagen kaum besetzt. Irgendwann während der Mahlzeit, als sich mehr Passagiere eingefunden hatten, hörte ich plötzlich hinter meinem Rücken, zum ersten Mal seit Moskau, die deutsche Sprache: »Ach, das ist ja entsetzlich, was Sie da reden«, tönte eine Frauenstimme. »Aber das Gefühl, das man Liebe nennt, ist bei den Menschen doch vorhanden, und es kann nicht nur Monate und Jahre, sondern auch ein ganzes Leben lang dauern!« Aber als ich mich umwandte, um vielleicht doch noch mit irgendjemandem zu sprechen, konnte ich nicht ausmachen, wer diese Worte aufgeregt hatte. Alle Passagiere unterhielten sich ruhig. Das Rasseln des Speisewagens übertönte die meisten Gespräche. Ich erinnere mich, daß ich die rätselhaften Worte in meinen Teller nachsprach und zu mir selbst sagte: »Ich muß sie später aufschreiben, sonst gehen sie verloren.«

Eigentlich wollte ich den Schlußteil nicht mehr schreiben. Ich war erschöpft und zerrüttet von meiner lebenslänglichen Beichte, sehnte mich nach dem Nichts und wollte die restlichen vierundzwanzig Stunden meiner Reise schlafen und aus dem Fenster sehen. Ohnehin hätten eine Nacht und ein Tag nicht gereicht für das Ende – ganz abgesehen davon, daß ich Abstand brauchte von einem Geschehen, das ich gestehen wollte; ich konnte doch schlecht die unmittelbare, gegenwärtige Gegenwart erzählen: »Die Zeit verfließt, sie verrinnt, es strömt die Zeit.« – Nein, ich wollte noch etwas lesen, während ich das schwere russische Essen verdaute und dann zum letzten Mal mein Bett aufklappen. So, in

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dieser stoischen Gemütsverfassung, schloß ich mich, wie jeden Abend, in mein Abteil ein, kramte aus meinem Rollkoffer die Bücher aus dem Nachlaß meiner Mutter hervor und stapelte sie auf dem Tischchen neben meinem Papierstapel und dem leeren Briefumschlag mit Lisas Adresse darauf, den füllen zu wollen ich schon lange aufgegeben hatte. Doch als ich das erste Buch zur Hand nahm, aufschlug und die ersten Sätze las, begann das produzierende Triebwerk in meinem Innern unwillkürlich weiterzuschwingen. Der Anfang des Endes stand mir wortwörtlich vor Augen. Und so stapelte ich das Buch zurück, legte mir zum letzten Mal mein Papier vor, nahm – um ein retardierendes Moment einzufügen – auch noch kurz die anderen Bücher zur Hand und wiederholte sodann den Morgen der großen Erleichterung.

Warum war unser gemeinsames Leben am Morgen der großen Erleichterung zu Ende? Hätte es nicht jetzt erst beginnen sollen? War es nicht wunderschön, obwohl es noch gar nicht begonnen hatte? War es schön oder schrecklich, alleine durch diese leere, unsichtbare, hermetische Welt zu streifen wie über einen aufgelassenen Friedhof? Ich stelle mir diese Fragen jetzt, da mein Ziel nicht mehr fern ist, damals jedoch stellte ich weder mir noch Lisa irgendwelche Fragen und sie mir auch nicht. Es war fast so (in den unerklärlichen Wochen nach dem Morgen der großen Erleichterung), als hätten die vier alten Menschen nie gelebt, unser wunderschöner Blumenalltag war derselbe wie im Urzustand, nur ohne Eltern, freie Tage und Geschlechtsverkehr. In der Rückschau kommt es mir so vor, als hätte ich damals (in den Wochen bevor ich sie verlassen habe) bei Lisa manchmal so etwas wie eine unterschwellige Fröhlichkeit wahrgenommen, so als hätte sie – des guten Endes gewiß – darauf gewartet, daß ich begriffe, was geschehen war; vielleicht aber verkläre ich jetzt auch nur; vielleicht habe ich nichts wahrgenommen, vielleicht wartete Lisa auf nichts, vielleicht war ihr ebenso klar wie mir, was als Einziges, Letztes noch kommen konnte …

Immer wieder, während ich die letzte Nacht in diesen Schlußteil verwandelte, blickte ich auf den leeren Umschlag mit Lisas Adresse darauf, der neben meiner Beichte und den Büchern meiner Mutter liegt, und dachte (und ich blicke auch jetzt darauf und denke und schreibe): »Das steht auf einem anderen Blatt!«

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Meine Reise ist zu Ende. Vor wenigen Minuten hat sich die Transsibirische Eisenbahn in der Morgendämmerung des letzten Tages über die monumentale, doppelstöckige Amurbrücke von Chabarowsk gewuchtet und nach Süden, auf die letzten 750 Kilometer ihrer Fahrt eingeschwenkt. Erst da habe ich bemerkt, daß draußen kein Schnee mehr liegt. Über Nacht, während ich mich meiner Pazifischen Heimat entgegengeschuftet habe, ist alles weggetaut. Ich werde jetzt nur noch jenen einen letzten Satz niederschreiben, werde mein beschriebenes und gestapeltes Papier in den Briefumschlag mit meiner alten Adresse darauf stecken, um Dir, liebe Lisa, von Wladiwostok aus anstelle eines Abschiedsbriefes diese Lebensbeichte zu schicken, werde meinen Rollkoffer packen wie damals im Blumenkeller, und dann werde ich aus dem Fenster sehen und warten, bis Rossija, das sanfte Ungetüm, sein Ziel erreicht hat. Es wird noch bis zum Abend dauern. Dann, in Wladiwostok, werde ich mich von Schaffner Semjonytsch verabschieden, aus meinem Waggon, der sieben Tage mein Leben war, auf den Bahnsteig treten und dort jenen einen Satz sagen, den ich seit Menzing nie wieder verlassen habe und den ich auch – dessen bin ich mir völlig sicher – nie wieder verlassen werde. Ich werde an der Endstation aus der Transsibirischen Eisenbahn steigen und werde sagen:

»Und hier ist Wladiwostok: Elftausendfünfhundert Kilometer östlich von Menzing.«

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Die dreigeteilte Lebensbeichte »Die Transsibirische Eisenbahn« fand sich im Nachlaß der legendären Dachauer Blumenhändlerin Lisa Talk. In einem modrigen Kellerraum voller deutscher Musik des neunzehnten sowie deutscher und russischer Literatur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts tauchte ein Großbriefumschlag auf, der – dem Poststempel zufolge – im Jahr 2034, 52 Jahre vor dem Tod und der Haushalts- und Geschäftsauflösung der Lisa Talk, in Wladiwostok abgeschickt worden war. Der Umschlag barg einen Stapel loser, durchnumerierter Manuskriptblätter, »Die Transsibirische Eisenbahn. Für Lisa« betitelt, beschrieben von einer erschütterten, zittrigen, hastigen Hand und korrumpiert von Feuchtigkeitsschäden. Hier liegt die Textgestalt vor, die mit Hilfe der letzten Instanz für Dachauer Stadtgeschichte rekonstruiert werden konnte, des Historikers und ehemaligen Bürgermeisters Dr. Simon Taub, in dessen Monographie über die Talk (die jedem unverzichtbar sein sollte, der sich für den Westen der Autonomen Metropolregion München und dessen tiefe Geschichte interessiert) die kritische Fassung des Textes publiziert worden ist: Simon Taub: Die unsterbliche Blumenhändlerin. 108 Jahre Lisa Talk in Dachau, Dachau: Würm 2091 (Privatdruck), S. 317-389. Vgl. ebd. S. 370-388 zu der vieldisputierten Frage, ob es sich bei der dreigeteilten »Transsibirischen Eisenbahn« wirklich um die Lebensbeichte des seit inzwischen 65 Jahren verschollenen R. C. Talk handelt.

Wer nach dieser Disputation noch nicht resigniert hat, dem sei des weiteren noch jenes Rätsel an Herz und Verstand gelegt, mit dem Simon Taub die Herausgabe der kritischen Fassung beschließt (ebd. S. 389): Nach dem unvermittelt und ohne Weiterführung eingeführten klassischen Menzinger Aphorismus »Morské oko« stellt der legendäre Editor die bis heute unbeantwortete (bzw. unendlichbeantwortete) Frage, welche 5 Bücher neben »Ferdydurke« von Witold Gombrowicz der Autor der »Transsibirischen Eisenbahn« – wer immer er sei – aus dem Nachlaß seiner Mutter in jene mitgenommen und dort mit zittriger Hand zittiert hat …

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Morské oko

In einer mitteleuropäischen Sprache, die ich nicht spreche, weiß man, daß Bergseen Meeresaugen sind. Vor vielen Jahren, als ich mit meinen Eltern ein einziges Mal in einem klaren, nur von den hohen Gipfeln getrübten Bergsee badete, wollten die grundlosen Tiefen mir etwas sagen, das ich erste heute verstehe: »Morské oko«, sprach es von unten und oben. »Gib auf. Es gibt kein Entrinnen.«

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Abendland

Sascha Stephan klingelte nicht, sondern schloß sowohl unten die Ein­gangstür zum Wohnblock als auch oben im sechsten Stock die Wohnungstür mit sei­nem Zweitschlüssel auf und stand plötzlich unbemerkt hinter seinem Vater, der vor der Stereoanlage auf dem Wohnzimmerboden kniete und das Klavierkonzert lauter drehte, um seinen Widerstand gegen den Lärm des Dunstabzugs aus der Küche kund­zutun. Im Auto hatte Sascha Stephan sich vorgestellt, wie er mit seinem Schlüssel die Eingangstür zum Wohnblock und oben die Wohnungstür aufschloß und dann den Dunstabzug und Horowitz hörte (aber noch niemals den Fernseher) und das Essen roch, und plötzlich war es ihm vorgekommen, als säße er schon alle Zeiten im Auto und müßte auch für alle weiteren Zeiten im Auto sitzenbleiben und würde niemals ankommen, doch hungrig, wie er war, auf das Abendessen seiner Mutter, hatte er dann jede Rücksicht fahrenlassen, hatte Geschwindigkeitsbegrenzungen mit Füßen getreten, Fußgänger mit der Hupe, Radfahrer mit der Lichthupe und Personenkraftwagen mit Gift und Galle gejagt, hatte rote Ampeln überfahren oder stehend mit dem Motor geheult. Früher hatte sich Sascha Stephan noch geschämt, wenn er hinter dem Steuer seine Gewißheiten verriet, hatte sich sogar geschämt, wenn er sich überhaupt hinter das Steuer setzte, obwohl er auch früher, zu Beginn seines konsequenten Lebens in Gewißheit, nur selten irgendwohin zu Fuß gegangen oder mit dem Rad oder gar mit dem Öffentlichen Personennahverkehr gefahren war, heute scherte er sich nicht mehr um den Wider­spruch zwischen seinen Worten und seinen Taten, nicht einmal, wenn er bei einem seiner abendlichen Spaziergänge durch Schwabing die Bildzeitung kaufte oder im Vorbeigehen einen Penner als Sozialschmarotzer beschimpfte oder einem vorm Supermarkt angeketteten Hund gegen den Bauch trat. Saschas Vater allerdings, Julian Stephan, glaubte noch immer, daß sein Sohn sich schämte, weshalb er ihn jede Woche, wenn Sascha plötzlich wieder vor ihm im Wohnzimmer stand, zur Begrüßung fragte, ob er wieder mit dem Auto da sei, obwohl Sascha auf diese Frage nicht mehr wie früher ratlos mit den Schultern zuckte und sich peinlich berührt vor die Balkontür stellte und seufzend und schniefend auf die Antennen und Satellitenschüsseln der Nachbarwohnungen starrte, sondern nur noch gleichgültig und abwesend mit dem Kopf nickte und müde seinen Gewohnheitsplatz am Eßtisch einnahm. Julian Stephans Fragen nach der Fortbewe-

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gungsart seines Sohnes blieb denn auch bei den Abendes­sen, zu denen Sascha regelmäßig einmal in der Woche, freitags oder samstags, zu seinen El­tern fuhr, regelmäßig der einzige persönliche Satz, denn die beiden letzten Generationen der Familie Stephan hatten sich schon lange nichts mehr zu sagen. Nur aus Gewohnheit, aus Loyalität gegenüber der eigenen Vergangenheit oder auch aus einer uneingestandenen Sehnsucht heraus hielten Julian und Simone und Sascha Stephan an der wöchentlichen Einladung zum Abendessen fest, die nicht einmal mehr ausgesprochen wur­de, sondern nur noch als selbstverständliche und unhinterfragbare Gewißheit allen Wochen des Jahres die Gestalt einer einzigen zeitlosen Stunde verlieh. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten Eltern und Sohn Stephan überhaupt nicht mehr mitein­ander gesprochen, hatten monatelang nicht einmal mehr diplomatische Noten ausgetauscht, da Sascha Stephan – im klassischen Sprachgebrauch seines damaligen elektronischen Brieffreundes Alexander Kurz – sich für unabhängig und dem Mutterland den Krieg erklärt hatte. Er war aus seinem Elternhaus ausgezogen, in das Schwabinger Appartement einzuziehen, das er schon vor Jahren geerbt hatte, und hatte die Grenzen zum feindlichen Ausland seiner Eltern und ihres Freundeskreises geschlossen, und erst als die Firma Stephan pleitegegangen und die Villa Stephan zwangsversteigert worden war, hatte Sascha einen eingeschränkten Grenzverkehr zwischen Schwabing und Perlach erlaubt. Ihre offene Großraumvilla hatten die Stephans in einer noblen Gartenstadt am westlichen Stadtrand erbaut, in einer kleinen Anliegerstraße, die im Laufe der frühen Jahre allmählich von all ihren Freunden kolonisiert worden war, damals, vor dem Beginn seines Lebens in Gewißheit, hatte Sascha im schurwollgepolsterten Wohnreich der Villa Stephan, das Ausmaße gehabt hatte wie heute das Schwabinger Appartement und die Perlacher Sozialwohnung zusammen, seinen Platz an der Stirnseite der Menzinger Edelholztafel eingenommen, den Abendessen beizuwohnen, die seine Eltern für die Straße gaben, hatte gesoffen und geschlotet und die im Laufe der späteren Jah­re hysterisch entartende Fröhlichkeit der schrumpfenden Mittelbürger verfolgt, bald fünf, bald zehn, bald dreißig, Champagner, Barolo, Monte Christo, tagundnachtgleiche Menüs und tafelquer gekreischte Anekdoten aus den Sandbunkern des Dachauer Golfplatzes, in denen Gelage eskaliert waren, die Sascha Stephan heute monströs und unglaubwürdig erschienen. Vielleicht war es auch tatsächlich nur seine Erinnerung, von seinen Gewißheiten und vom Tod seines einzigen Menzinger Freundes berauscht, der ihn nach dem Kriegsausbruch über die Zerstörungen in der Straße der getauften Villen auf dem Laufenden gehalten und dessen Tod das letzte Gespräch zwi­schen den verfein-

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deten Stadtteilen veranlaßt hatte, (Alexander Kurz hatte sich mit einem alten Bärentöter absichtlich den Kopf weggeschossen, nachdem er im Laufe eines exzessiven schrumpfbürgerlichen Gelages mit demselben alten Bärentöter versehentlich seiner Frau Laura den Kopf weggeschossen hatte), vielleicht war es nur seine Erinnerung, die ihm seine Vergangenheit Blüten treiben ließ, sie verklärte und entstellte. Er sprach seit langem mit niemandem mehr darüber. Heute saß Sascha Stephan nur noch alleine mit seinen Eltern an einem runden Kunststofftischchen beim Abendessen und sprach über gar nichts, und auch die winzige Perlacher Wohnung erinnerte nur noch beiläufig an das riesige Menzinger Haus: durch das heimatlose Heimkino vielleicht, ein überdimensioniertes Geschenk der Straße, das seinen großen Moment an einem verlägerungskabelbedingten Anliegerstraßenkinoabend mit »Es war einmal im Wilden Westen« gehabt, inzwischen aber seinen Platz verloren hatte und auf Rädern hinter der Wohnzimmertür geparkt und je nach Bedarf an seinen heute nur noch zehn Meter langen Verwicklungen vor die zwei Sessel, in die Küche, ins Bad oder (meistens) ins Schlafzimmer gerollt wurde, wo es nur nachts stehenbleiben durfte, wenn niemand mehr (oder solange noch niemand) durch die Tür mußte, oder die sündhaft teure und zeitlose Stereoanlage aus den Achtzigern oder die beiden letzten metallic-schwarzen Designerchromledersessel oder ein paar Muranoglasfläschchen und Vasen aus tiefseeblauem Kristall oder den eineinhalb Meter hohen Stahlkerzenständer von Rosenthal auf dem billigen Laminatboden, der am allerwenigsten zu den Stephans paßte, der Sascha aber, als er mit dem ersten Nachkriegsvisum nach Perlach gekommen war, nicht so verblüfft hatte wie die Wohnzimmertür, die das Wohnzimmer vom Flur trennte, sich öffnen und sich schließen ließ und manchmal sogar tatsächlich geschlossen war, eine grundstürzende Veränderung, in der sich die Eltern dem Sohn damals zum ersten Mal als Menschen zu erkennen gegeben hatten, was Sascha heute noch ekelte. Aber obwohl (oder weil) nur so wenige Erinnerungen überdauert hatten, kam die Sozialwohnung Sascha manchmal, wenn er beim Abendessen hinter den Kerzen und dem flamboyanten Horowitz das kümmerliche Wohn­zimmer im Halbdunkel verfolgte, wie ein sarkastisches Echo des Einfamilienhauses vor, in dem die Stephans sich in jene Mittel- bis Schrumpfbürgerlegenden verwickelt hatten, die ihr Leben nun seit einiger Zeit so unpassend aussehen ließen. Dann lächelte Sascha Stephan manchmal insgeheim über seine Eltern und über sich selbst, ahnte vielleicht auch, daß sein Leben eigentlich ebensowenig wahr sein konnte, (erinnerte sich dabei an die gedeckte Holzbrücke, die über die Würm und ihr erweitertes Bett

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hinweg den alten und den neuen Friedhof miteinander verbunden und unter der die rebellische Menzinger Jugend im Auengebüsch ihr Grasversteck eingerichtet hatte, während die anderen – solange sich unter ihnen niemand versteckte – brav drüber standen, unter dem schützenden Brückendach, am liebsten bei Regen), wollte oder konnte aber noch nicht so weit gehen, sich schon wieder in Frage zu stellen. Erst am Abend dieses Abends, bei der beiläufigen Verabschiedung an der Wohnungstür im sechsten Stock des Wohnblocks, sollte Sascha Stephan in den ungesagten Worten seines Vaters und dem abgewandten Gesicht seiner Mutter eine Entdeckung machen, die ihn und sei­ne Gewißheiten zu Fall bringen mochten: die Entdeckung, daß auch seine Eltern irgendwelche Gewißheiten besaßen. Sascha Stephans Vater erschrak, als er sich in seinem Kampf an der Seite von Horowitz gegen den Lärm des Dunstabzugs aus der Küche vom Wohnzimmerboden erhob und dabei seinen Sohn bemerkte, der lautlos in die Wohnung ge­kommen und nun plötzlich wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit hinter ihm war. Julian Stephan zuckte nicht zusammen, sagte nichts, vergaß nur, seinen Sohn zu fragen, ob er wieder mit dem Auto da sei, holte Streichhölzer aus dem Wohnzimmerschrank und zün­dete mit einem einzigen Streichholz alle sechs Kerzen auf dem runden Eßtisch und, indem er sich die Fingerkuppe versengte, auch noch die eine einzelne Kerze in dem eineinhalb Meter hohen Stahlkerzenständer von Rosenthal auf dem billigen Laminatboden an.

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Das Buch

Es liegt vor mir. Gestern habe ich es bekommen, und ich glaube nicht, daß mein Leben es noch einmal verlassen wird.

Ich lebe in einem Dachgeschoß über den geschichtslosen Mittelbürgervillen Menzings, doch wann schaue ich schon raus. Ich schaue immer nur rein, in meine Bücherreihen und in mein Büchergebirge und in irgendeines der abertausend Bücher, die ich in all den Jahrabertausenden gehortet habe. Wer in ein Buch nicht nur hineinschauen, sondern hineinsehen will, der muß jahrtausendealt sein.

Gestern klingelte jemand. Es gibt nur eine einzige unerwartete Stimme aus der Sprechanlage, der ich den Türöffner drücke. Mein Vater, achtundneunzigjährig heutzutage, bringt mir immer mal wieder einige Bücher, die er sich auf Flohmärkten, bei Hausstandsauflösungen oder in irgendeinem Umzugschaos zueignen konnte. Gestern erzählte er (erheitert und erhitzt): der Verkäufer habe behauptet, dies sei die einzige Ausgabe – vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts – eines Buches mit Kunstdrucken von Schillers Goetheporträts. Das Buch gab uns die Zahl 1799 und zeigte uns, ohne jedes Wort, Dutzende hochwertiger Aquarelldrucke und einen ungeheuerlichen Gemäldedruck, und auf allen war Goethe unverkennbar.

Ich werde nie wieder schreiben. Seit Ewigkeit lebe ich in meinem Büchergeschoß, bestelle mir alles, was ich von draußen brauche, durch meinen Computer, dessen Bildschirm von einem Weltraumbild der Erde geschont wird, an die Dachgeschoßtür und schreibe Bücher, die nie veröffentlicht werden. Die Com-puterdrucke von siebenundzwanzig Romanen, zwölf Erzählungssammlungen und zwei Gedichtkladden schichten sich zu einem der höchsten Gipfel jenes umlaufenden Büchergebirges, das sich zwischen mich und die deckenhoch gereihten Bücher meiner Regalwandfluchten drängt, aus denen der unermeßliche Reichtum der Menschheitsgeschichte spricht. Unter Todesqualen verrate und verkaufe ich alle Jahrzehnte ein Buch, um weiterleben zu können, ich gehöre nicht nur der Erstausgabe des Gartens der Pfade, die sich verzweigen und der ersten Buchdrucke einiger der ersten Sprachwerke des abendländischen Geistes, zwischen deren Buchstaben und Papieratomen sich Urtiefen der Menschheit auftun. Ich schreibe nicht, um meinen Leib davon zu nähren, ich schreibe nicht, um zu veröffentlichen. Ich schreibe, um sprachlich, als Wort, meine

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Seele zu durchsehen, in deren Innerstem ich immer jenes atomkerngroße schwarze Loch zu erkennen suchte, das wir Universum heißen. Ewigkeitlang war ich lebendig und glücklich und mein Vater, dessen Wortsinn meine Menschheitsbibliothek unermeßlich bereichert hat, stolz auf mich.

Das Buch, das mich einst ebenso erhitzte und erheiterte wie meinen Vater und von dem ich seither als meinem Goethe oder meinem Schiller spreche, habe ich aufgeschlagen auf mein Stehpult und dieses mitten in mein Geschoß geortet, wo sich vordem der mannshohe Globus drehte, tags strahlt aus dem Dach Sonnenlicht, nachts Halogenlicht auf die beiden Buchseiten, die alles zeigen, und tags und nachts stehe ich vor und bin nur noch in ihnen. Die linke Seite bildet ein Aquarell, in dem Goethe auf einem baumgesäumten Kiesweg ein Rad schlägt, der Ton erinnert an Tischbeins lässigen Goethe von hinten am offenen Fenster in Rom, die rechte Seite bildet jenes einzige Gemälde, in dem in einem engen, runden, hohen Turmzimmer links in einer schmalen, hohen Maueröffnung zwei Krähen stehen und dorthinaus starren, woher das Licht zwei versetzt übereinanderstehende gleißende Quadrate an die Mauer hinter und über den zwei großen, schwarzen Vögeln wirft, deren hinterer auf dem unebenen Gesims exakt einen Kopf größer scheint.

Es ist das letzte Buch.

Und es liegt für immer vor mir.

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Band 5: Die Rückkehr aus Syrakus