Das verschlossene Portal

Erzählungen
Alle Figuren in diesen Erzählungen sind fiktiv,
auch wo sie realen Personen ähneln mögen.
Nichts, was einer Figur zugeschrieben ist,
bezieht sich auf eine reale Person.
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Eine Reise ins Land unseres Lebens
Am Hafen dann fanden sie eine kleine Pension, es war ein Wunder, daß sie überhaupt noch etwas sahen, denn in der ganzen Stadt schien der Strom ausgefallen, der Sturm hatte wohl ein paar Lichtmasten entwurzelt, und der Regen war so stark, daß die Tropfen wie Hagelkörner in ihre Köpfe schlugen. Drinnen in der dunklen Pension herrschte höllische Aufregung. Eine unsichtbare Deutsche schluchzte irgendwo in einer finsteren Ecke etwas von der Nacht der Apokalypse, die Gäste traten sich gegenseitig auf die Füße, stolperten über Gepäckstücke und über das ohrenbetäubende Geschrei der Italiener, die an der Rezeption mit gläsernen Kerzenständern und riesigen Kandelabern hantierten, in deren silbernen Armen sich das Chaos am Empfang in verzerrten Lichtreflexen wiederholte. Der Sturm dort draußen schien so stark zu sein, daß er sogar durch die dicken Steinmauern der Hafenpension pfiff, man versuchte die Flammen der Kerzen mit den hohlen Händen zu schützen, und irgendwo in der Decke oder in der gespenstischen Finsternis des Treppenaufgangs heulte die gejagte Luft wie ein Rudel fliegender Wölfe. Julian und Lara drängten sich an die Rezeption und baten auf Italienisch um ein Zimmer, aber die alte Dame schleuderte ihnen nur mit starren Augen eine Schimpftirade entgegen, von der sie kein einziges Wort verstanden, fuchtelte wild durch die flackernde Luft als wollte sie in einem kalabrischen Exorzismus alle ausländischen Gäste aus ihrem heimgesuchten Städtchen austreiben, die in ihrer Gesamtheit wohl für dieses Jahrhundertunwetter verantwortlich waren, und schimpfend wandte sie sich schließlich um, griff nach der Holzvertäfelung an der Wand, streckte Julian und Lara, immer noch schimpfend, einen Schlüssel entgegen und wies ihnen, ohne sie nach ihrem Namen, ihrem Ausweis oder nach sonst irgendetwas zu fragen, mit ihrem spitzen Kinn, auf dem im Kerzenschein ein paar durchsichtige Haare glänzten, den Weg zum finsteren Treppenaufgang. Beherzt packte Julian einen der Kerzenständer, die sich auf der Theke der Rezeption dem Wind entgegenstellten, und schritt voran, hinauf in die aufgewühlte Nacht der Pension, gefolgt von seiner Freundin, die mit zwei Reisetaschen über ihren Schultern im unsteten Schein der Kerze die Zimmernummer auf dem Schlüssel zu entziffern suchte. Schweigend, seit vielen Stunden schweigend, schweigend seit ihr Verstand sich mit dem Sturm in die Atmosphäre der rasenden Wolken erhoben hatte, um mit einem einzigen mächtigen Atemzug alle duftenden Pinien der kalabrischen Küste zu entwurzeln, schweigend ließ sich Lara in dem winzigen Zimmer in voller Kleidung auf das schmale Doppelbett fallen, von dem sie quietschend begrüßt wurde, rollte sich zusammen und schien sofort das Bewußtsein zu verlieren. Julian blies die Kerze aus, zog den kurzen rauhen roten Stoffvorhang vor dem Fenster auf und wollte sich vergewissern, daß ihnen die Windschutzscheibe ihres Autos mit diesem unbegreiflichen Unwetter keinen Streich gespielt hatte. Erschrocken trat er einen Schritt vom Fenster zurück, als er sah, daß vom Hafen her über die sinkenden Schiffsmasten hinweg mit großer Geschwindigkeit eine weiße Luftwelle auf ihn zuwehte. Der Regen wurde
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zu Hagel, schraffierte die schwarze Nacht weiß und nagelte Blätter, Zweige, Stoffetzen, Insekten, Holzsplitter in die Scheibe. Vom Hafen war nichts mehr zu sehen. Ohne sich auszuziehen, legte sich Julian neben seine Freundin aufs Bett. Sie berührte leicht mit ihrem Kopf seine Seite. Er hörte den Orkan, das wütende Meer, den Hagel, der alles zerriß. Erst jetzt spürte er wieder wie kalt es war und wie das Geschrei der hysterischen Italienerin von unten durch die bloßliegenden Heizungsrohre über das unheimliche Treppenhaus der bebenden Pension in seinen Gehörgang drang.
Julian und Lara hatten sich zum ersten Mal sieben Jahre zuvor im Garten des Francesco Petrarca geliebt. Julian war damals mit seinen Eltern auf Hochsommerurlaub im Thermengebiet der Euganeischen Hügel südwestlich von Padua. Er war schon zweiundzwanzig Jahre alt, studierte Philosophie und wohnte alleine in einer kleinen Studentenwohnung in Schwabing, aber er fuhr mit seinen Eltern immer noch seit seiner frühesten Kindheit jedes Jahr im August nach Italien, an die Adria, in die Toskana oder in die Colli Euganei; die frühen Italienurlaube mit seinen Eltern waren nicht nur ein großes, unentbehrliches Puzzleteilchen seiner Kindheit, sondern sie waren mit ihren Bildern von domestizierten Löwenweibchen und ihren fauchenden Jungen am Strand von Milano Marittima, von vergessenen Schafen in eingestürzten Ställen verlassener und verfallener Gehöfte, aus deren weißen Skeletten wilde Olivenbäume wuchsen, oder von den Venediggemälden Sorrentinos im nüchternen Foyer, die ein atmosphärischer Bestandteil der duftenden Kühle eines Thermenhotels waren, zu einer Wurzel seines Wesens geworden. Das Land Italien hatte für Julian Farbe, Geruch und Geschmack einer mythischen Erinnerung angenommen, der die Gegenwart nichts anhaben konnte. In den Colli Euganei, einer märchenhaften vulkanischen Hügellandschaft von beinahe tropischer Intensität mit Mandelbäumen, Feigen, mittelamerikanischen Zwergkakteen, Eukalyptus, Goldregen, Judas- und Perückenbäumen, Ölbäumen, Salomonssiegeln und Dichternarzissen, mit sanften, pelzig überwucherten, halbkugelförmigen Anhöhen und bizarren spitzen Gesteinspilzen, verbrachten Julian und seine Eltern ihre zwei italienischen Wochen in einer großen Touristenenklave mit mehreren Luxushotels, Thermal-, Tennis- und Fitneßanlagen, Reitstall und Zoo, wanderten und fuhren durch die magische Natur, besichtigten malerische mittelalterliche Dörfer, die Teil der mysteriösen Vegetation geworden waren, flogen nach Venedig aus, badeten in fünfunddreißig Grad warmem Wasser und in fünfunddreißig Grad warmer Luft, spielten Golf und schlemmten in einem schloßgleichen Clubhaus geheime Spezialitäten aus Venetien. Eines Abends saßen sie im Hotelpark um eine Grappaflasche herum, teilten sich die Sommernacht mit den Zikaden, und Julian sah am Rande des Lichts, in dem sie saßen, zwei Mädchen vorübergehen, die ihm auffielen, da sie außer ihm wohl die einzigen Menschen in dieser ganzen Thermallandschaft waren, die nicht aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts stammten. Später, als seine Eltern zu Bett gegangen waren und er alleine auf einer Parkbank in der Nacht saß und ein Zigarillo rauchte, sah er aus den Augenwinkeln die Mädchen den Kiesweg entlang auf ihn zu kommen, hörte ihre Schritte, konnte gerade noch das Zigarillo verschwinden lassen, bevor sie sich neben ihn gesetzt und ihn in die Mitte genommen hatten. Sie kamen ebenfalls aus München, machten zu zweit mit dem Auto eine Rundreise durch Oberitalien, wohnten für ein paar Tage in einer kleinen Pension in einem der Dörfer der Hügel, waren heute aus-
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nahmsweise hier in der Luxusanlage auf den Pferden des Reitstalls ohne Sattel ausgeritten, hatten in einem der Hotels zu Abend gegessen, langweilten sich nun und versuchten, ihn zu verführen, er glaubte zu träumen, da er solchen Frauen bislang nur in modernen Filmen begegnet war, aber er konzentrierte sich in seiner panischen Verwirrung auf die ältere mit den deutlicheren Formen, die ihrer Freundin nur behilflich sein wollte, und so glaubte er, doch nicht begehrt zu werden, als seine Auserwählte an der Hotelbar etwas vergessen hatte, um ihrer Freundin nicht länger im Weg zu stehen. Da wurde er müde und fühlte sich sogar erleichtert, als er alleine in seinem Zimmer zu Bett ging. Doch als ihn in der Dunkelheit das Bedauern heimsuchte, das bei seiner plötzlichen Verabschiedung in der Stimme der Jüngeren gelegen hatte und ihm erst jetzt im ersten Kreis des Schlafes im Bewußtsein klang, begriff er plötzlich das Spiel der beiden Mädchen, fuhr entsetzt aus seinen Kissen, zog sich wieder an und suchte sie vergeblich in dem mehrere Hektar weiten Touristenpark. Sie waren verschwunden, zurückgekehrt in ihre namenlose Pension irgendwo inmitten der märchendunklen nächtlichen Hügel. Schlaflos versuchte er sich davon zu überzeugen, daß ihm die Jüngere ohnehin nicht gefallen hatte, obwohl er sich weder an ihr Gesicht noch an ihren Körper erinnern konnte, und außerdem hätte es ja sowieso nicht klappen können, da er heute nachmittag ja schon ausgiebig onaniert hatte. Erst bei Morgengrauen schlief er ein, und im blendenden Licht des frühen Tages saß er bleich, wortkarg, mit leerem, flauem Magen auf dem Rücksitz des Wagens, der über die Hügel glitt. Arquà Petrarca, ein kleines holpriges Dorf aus Stein und Moos und Zeit, war benannt nach dem Dichter Francesco Petrarca, der hier im vierzehnten Jahrhundert sein Leben verklingen ließ. Und im Haus des Petrarca, einer mächtigen Villa über den Hügeln, umwachsen von Olivenbäumen und Weinreben, traf er die beiden Mädchen vor der sechshundert Jahre alten Katze des Dichters. Die Ältere ließ Lara und Julian sofort allein, sie tauschten, während Julians Eltern ohne Überzeugung ein paar alte Dokumente betrachteten, Worte über die Schönheit des Ortes und des Hauses aus und spazierten beiläufig in den Garten hinaus, wo sie in den hintersten Winkel krochen und sich im Sonnen- und Schattenmosaik der Blüten und Blätter liebten. Danach steckten beide verlegen dem anderen etwas zu, und zwei Wochen später trafen sie sich an einem Regentag auf der anderen Seite der Alpen, sie waren nervös, unsicher und ein bißchen verschämt. Einige Zeit lang zwängten sie sich ängstlich und unglücklich in den Rhythmus ihres Alltags und ihrer Freundschaften und flohen schließlich für die letzten Tage vor Semesterbeginn wieder in die Euganeischen Hügel, wo sie in jener Pension wohnten, die Lara und ihre ältere Freundin im August dort ausfindig gemacht hatten. Sechs Jahre lang fuhren Julian und Lara zweimal im Jahr nach Italien, einmal im Frühjahr, einmal im Hochsommer, sie blieben immer nördlich von Rom, an der Riviera, in der Toskana, an der Adria, in den Euganeischen Hügeln, am Gardasee, wo sie eines Frühlings noch den Frost wie ein weißes Licht über den Blättern der Ölbäume fanden, in Mailand, in Verona, in Venedig. Italien wurde ihnen zu ihrer wahren Heimat, zum Land ihres Lebens, wie Julian sagte, und im Laufe der Zeit glaubte er zu entdecken, daß die Natur und die Städte in Deutschland keine Geschichte kannten und deshalb keine Tiefe besaßen, daß sie von jeder Vergangenheit abgeschnitten waren und daß Deutschland, selbst wenn an manchen seltenen verborgenen Orten sein
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Licht, seine Stimmung, sein Wetter und seine Landschaft etwas mysteriös Italienisches annahmen, nur durch die Erinnerung an und die Ähnlichkeit mit Italien gefiel, daß es gewissermaßen nur mittelbar, aus zweiter Hand schön war und deshalb eher traurig, melancholisch, wehmütig stimmte, daß es in seiner nachgeahmten Schönheit das Fernweh nach der ursprünglichen weckte. Im siebten Jahr ihrer Liebe wurde ihnen auf ihrer Reise im Frühjahr Laras Handtasche gestohlen, mit allen Papieren und allem Geld, und im Sommer entschieden sie sich, diesen August zu Hause zu verbringen, da sie München, diese italienischste aller deutschen Städte, im Hochsommer überhaupt noch nicht kannten. Es war ein fürchterliches Jahr, weder im Juli noch im August wurde es Sommer, nur an einem einzigen Tag konnten sie sich im Englischen Garten in die Sonne setzen, und Mitte August sagten sie, daß es seit dem vergangenen Herbst ununterbrochen regne und stürme. Sie eilten vom Italiener, bei dem sie zu Abend gegessen hatten, frierend durch eine ungemütliche Nacht, hatten vor lauter Wind und Regen keinen Spaß mehr an ihren gefüllten Mägen und trafen im Auto, als sie sich gemeinsam im Takt dieses mißratenen Sommers vor Kälte und Ekel schüttelten, wütend und mißmutig die Entscheidung, unverzüglich aus diesem abscheuerregenden Land zu verschwinden. Zuhause in ihrer Wohnung packten sie sofort ihre wichtigsten Sachen zusammen, legten sich ohne schlafen zu können nebeneinander ins Bett und brachen um halb drei Uhr in der Früh in Richtung Italien auf.
Erst auf der leeren Autobahn in den Süden jenseits der Stadtgrenzen bemerkte Lara, daß der Mond sie wie ein stilles Fernlicht im Rückspiegel beobachtete. Er stand weiß und alabastern und klar und deutlich am Himmel. Kurz vor der österreichischen Grenze, am Beginn des Niemandslandes der Alpen, das den Norden vom Süden schied, versenkte Lara mit einem Knopfdruck die Fensterscheibe neben Julians Nase in der Beifahrertür und weckte so ihren Freund, der noch innerhalb der Stadtgrenzen von München eingeschlafen war. Ungläubig schnupperte er in die laue Nachtluft hinaus, die nach südlichem Fernverkehr roch und ihn dazu verführte, die Hand in den weichen Fahrtwind zu stemmen. Nach der menschenleeren Grenze, an der sie im Schrittempo die Geister vergangener Zöllner passiert hatten, schlief Julian wieder ein. Lara, die noch bis zum Brenner am Steuer blieb, hätte es an der Stelle ihres Freundes niemals, nicht einmal nach einer so ruhelosen Reisevorbereitung wie dieser, vermocht, auf dem Beifahrersitz einzuschlafen, denn die ersten nächtlichen Stunden einer langen Autofahrt waren für sie immer noch unverständlich und fesselnd wie ein Flug durch einen vollkommen jenseitigen Raum. Sie fühlte sich wie in einem ewigen Tunnel der Leere zwischen zwei verschiedenen Leben, Zeiten und Welten. Der Geruch der Autobahn nach Fremde und vergifteter Nacht, der durch alle Nähte des Wagens sickerte, das Geräusch der vorbeigleitenden Zeit, die Augen der anderen Autos und das blaue Licht der Fernverkehrsschilder über der Straße, das die Namen scheinbar imaginärer Ziele in flüchtigen Schattenstreifen aufs Armaturenbrett warf, all diese sinnlichen Manifestationen einer Bewegung jenseits menschlicher Grenzen gaben ihr das Gefühl eines neuen Aufbruchs, obwohl diese Bewegung, die sie mit all ihren Sinnen vernahm, nicht die ihre war, ihre eigenen Körper, festgebunden an eine fremde Geschwindigkeit, waren im Auto doch noch stiller als im Schlaf. Oben auf dem Brenner, dem höchsten Punkt ihrer Reise, ging Lara auf der italienischen Seite auf die Toilette, und Julian vertrat sich auf dem Asphalt des Parkplatzes die Füße, rauchte eine Zigarette und blickte an den Schat-
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ten der Berghänge empor in den Himmel. Der Schleier aus schmutziger Autobahnluft und dem düsteren Licht der verlassenen Grenzstation erlaubte keinen Blick auf Sterne oder Wolken. Dann ließ sich Lara auf dem Beifahrersitz nieder und schloß die Augen, und noch beim Einschlafen spürte sie, wie Julian sie die Südseite der Alpen hinab in die helle italienische Ebene lenkte. In den blauen Sommer des Mittelmeeres. Der sie endlich wieder zum Schwitzen bringen sollte. Lara erwachte vom Geruch Italiens, diesem scharfen, süßen Rauchgeruch nach verbrennenden Zitrusfrüchten, der von nirgendwoher kam. Es war kurz nach halb sechs, sie waren kurz vor Verona, am Südende des Gardasees, über den letzten Ausläufern der Alpen dämmerte ein müder Tag. Einige Kilometer vor ihnen stand das Licht wie ein Balken orangefarbenen Blütenstaubs zwischen den Berghängen, dort, wo ein Sonnenstrahl durch einen schmalen Riß in den Wolken auf die Erde fiel, doch als sie die Stelle erreichten, war der Tag auch hier wieder schwach und trüb. Julian hielt die dicke Wolkendecke immer noch für den natürlichen Morgendunst des italienischen Sommers, bis Lara ihn auf die schwarzen Ränder der Wolken aufmerksam machte, die den Regen trugen. Bislang waren Julian und Lara stillschweigend davon ausgegangen, daß sie wohl in die Euganeischen Hügel zurückkehren würden, aber als sie nun den bewölkten Himmel über Oberitalien sahen, bogen sie ebenso stillschweigend nicht nach Venedig ab, fuhren an Verona vorbei nach Süden und durchquerten die Poebene in Richtung Toskana. Doch in der Toskana, wo sonst eine zarte, betörende Sonne die Olivenhaine verzauberte und die Zypressen mit schillerndem Silberstaub überzog, wurden die Wolken immer dunkler und schwerer, so daß Julian wieder das Licht anschalten mußte und vor Ungeduld die Geschwindigkeitsbegrenzungen übersah. Wenige Kilometer nach Florenz begann es zu regnen. Julian und Lara sprachen nicht miteinander, aber als der Regen stärker wurde, ein leichter Wind aufkam und die Außentemperatur auf der Autostrada del Sole laut der digitalen Anzeige des Thermometers auf dem Armaturenbrett langsam zu sinken begann, überwanden sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Südgrenze der Toskana. Um zehn Uhr hatten sie Rom hinter sich gelassen, und Lara fragte mit belegter Stimme, ob er sich mal wieder ausruhen und ihr das Steuer überlassen wolle, aber Julian, der die Geschwindigkeit, mit der sie das Land ihres Lebens durcheilten, von Minute zu Minute unwillkürlich und unmerklich erhöhte, antwortete nicht einmal mit einer schwachen Geste. Die undeutlichen Hänge des Vulkans verloren sich in den Regenwolken, und aus dem Golf von Neapel stieg wie aus einer grauen Glut ein zäher Nebel empor. Am frühen Nachmittag war die Temperatur auf fünf Grad gesunken, und der Regen schlug so heftig gegen die Scheibe, daß Julians Wahrnehmung zu schmerzen begann und er nur noch langsam vorwärtskam. Es wurde fast Nacht zwischen den süditalienischen Bergen, und wenn Lara durch das Seitenfenster in das gespenstische Dunkel kuckte, kam es ihr vor, als jage der Wind Bäume, Menschen, Häuser und Autos über den Himmel. Bald wußten sie nicht mehr, wie spät es war, wollten es auch nicht wissen, und die Uhr schien ihnen merkwürdige Zahlen zu verkünden, die keine Bedeutung ergaben. Sie wußten nicht, wo sie waren, wußten nur, daß sie langsam in die kargen Tiefen des Südens vordrangen, der Küste zu, und die Scheinwerfer der Autos auf der anderen Seite der Straße flogen in zu tausendundeinem Tropfen zerfließenden Lichtern über sie hinweg. Und als sie aus dem Schlund des letzten Tunnels tauchten und das Meer sie mit seinen überlebensgroßen Schwingen umfing, da prallte der Sturm mit seiner ganzen
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Gewalt gegen ihren Wagen und wollte sie von der Straße heben, erschrocken griff Lara nach der Hand ihres Freundes, der Meeresspiegel war höher als die Gipfel der Berge, Wasser verschluckte die Küste, Windhosen rissen wie riesige Arme zorniger Götter Bäume und Felsen aus der Erde, Schlammfluten überschwemmten die Straßen. Der Wagen kam nur noch im Schrittempo voran, niemand war mehr auf der Autobahn, sie waren alleine im Unwetter, immer wieder mußten sie anhalten und schwere Äste aus dem Weg räumen, irgendwo ganz in der Nähe bebte eine Lawine aus Schlamm und Geröll in die Tiefe, verschüttete einen verzweifelten Schrei des Windes. Irgendwann spät fanden sie im vom Regen zerteilten Scheinwerferlicht das Schild, auf das sie gewartet hatten. Die Ortschaft, die sie erreichten, war von wirren, kreisenden Blaulichtern erfüllt, deren zuckendes Echo die riesigen Stahlkörper versinkender Schiffe, die meterhoch über den Straßen schwammen, für starre Sekundenbruchteile der Finsternis entriß. Durch leere, glitschige Gassen rollte ihr Auto, dunkel und unkenntlich waren die Häuser, bis sie irgendetwas wie den Hafen sahen und den Schein von Kerzen durch die Glastür einer Rezeption. Sie ließen den Wagen direkt vor dem Eingang stehen, sprangen durch den Wolkenbruch drei Stufen hinauf in die Pension und fielen schließlich wortlos ohne zu denken alleine in den tiefen Brunnenschacht eines einsamen und unwiderstehlichen Schlafes.
In der Nacht hatte Julian mehrmals geglaubt, von lauten Geräuschen zu erwachen, er hatte Stimmen gehört, aufgeregtes Schreien, Wasser und Maschinen. Vom Bett aus hatte er durch das Fenster die Nacht gesehen, die von grellen Lichtern in allen erdenklichen Farben durchblitzt worden war. Jetzt sah er durch dasselbe Fenster einen sonnigen Morgen, einen hellblauen, sehr hellen Himmel und hörte nichts. Möwen vielleicht, ganz schwach. Und einen Motor. Julian und Lara blickten sich kurz in die Augen als sie aufstanden, das Wort richteten sie nicht aneinander. Unten stand die hysterische Italienerin von gestern abend mit zwei jüngeren Männern vor der Eingangstür der Pension auf der obersten der drei Stufen und blickte hinab auf das stille Wasser, das bis zur zweiten Stufe reichte und den gesamten Kai überflutet hatte. Es sah aus, als hätte der Hafen Schlagseite wie ein leckgeschlagenes Schiff. Ihr Auto stand im Wasser, etwas versetzt vor dem Eingang, Motorhaube und Dach waren vom Hagel verbeult. Wie beim Hochwasser in Venedig, das sie niemals erlebt hatten, bewegten sich die Menschen auf künstlichen Wegen aus aneinandergereihten Biergartenbänken über das Wasser. Ohne zu frühstücken, ohne für das Zimmer zu bezahlen, ohne mit jemandem zu sprechen, verließen Julian und Lara die Pension und balancierten mit ihren Reisetaschen einige Meter über die Bänke, bis Julian unvermittelt stehenblieb und über die kieloben schwimmenden Jachten und die vom Grund des Hafenbeckens kommenden Schiffsmasten hinweg aufs Meer hinaus blickte. Das Wasser war still und glatt wie unter einer dünnen Eisschicht gefangen, der Himmel war durchsichtig, irgendwo stand eine weiße Sonne. Nur dort drüben, auf der anderen Seite der Meeresstraße, drohten Wolken über Sizilien, aber es waren leuchtende Wolken, grell, gleißend, sie lagen wie ein unerklärlicher Glanz auf dem Land. Jetzt erst spürte Julian, wie kalt es hier draußen war. Er trug nur ein T-Shirt auf dem nackten Oberkörper, ebenso wie Lara, und sie hatten auch gar nichts Wärmeres dabei. Aber es war sehr, sehr kalt, es mußte Morgenfrost haben, so klirrend war die Luft, und tatsächlich sah Julian nun seinen ei-
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genen Atem. Sie retteten sich auf dem schmalen provisorischen Steg aus dem versinkenden Hafen und staunten in die verwüsteten Straßen der Stadt: Dächer waren abgedeckt, Scheiben zersprungen, Stromkabel zerrissen, ein Haus war unter der Wucht eines abgeknickten Baumes fast vollständig eingestürzt. Die Menschen waren erstarrt. Viele standen in kleinen Gruppen beisammen vor ihren Häusern und beschnupperten mit bleichen Nasen den unbekannten Sommermorgen. Gesprochen wurde nur leise, und wenn die beiden Fremden erschienen, verstummte das Gewisper ganz. Erschrocken sahen die Menschen ihnen mit eisigen Augen nach, bis die Reichweite ihrer Blicke erschöpft war. Julian und Lara erkundigten sich an der Anlegestelle, wann sie nach Sizilien übersetzen konnten. Es dauerte noch einige Stunden, bis der Fährbetrieb wiederaufgenommen wurde, und die Wartezeit verbrachten sie in einer kleinen ungemütlichen Bar, in der man ihnen nur widerwillig Cappuccino und Panini servierte. Die ganze Zeit blickten sie schweigend in die helle Kälte hinaus. Dann holten sie ihr Auto, das unter den strengen Augen der Italienerin nur widerwillig ansprang. Wie ein Amphibienfahrzeug zerwühlte es das unbewegliche Wasser. Auf der Fähre waren sie fast allein, außer ihnen wagten sich nur ein Pärchen mittleren Alters, ein Mädchen mit Hund und ein alter Mann, der in einen Wintermantel gehüllt an einem Tisch saß und unentwegt lautlos die Lippen bewegte, nach Sizilien. Im Bauch der Fähre war ihr Auto völlig allein. Julian und Lara standen an der Scheibe und starrten auf die näherrückende Insel, vor deren geheimnisvollem Glanz die Sonne verblaßte. Wäre es nicht so kalt gewesen, Julian und Lara wären am Bug des Schiffes an der Reling gelehnt und hätten über den Meeresspiegel hinweg nach Sizilien gerätselt. Kurz bevor sie anlegten, erlosch die Sonne hinter den Wolken, und wenn sie zurückblickten auf die Straße von Messina, blendete sie auf dem Wasser die scharfe Grenze zwischen Sonne und Schatten und die glitzernden Grüße des Meeres an der überfluteten Küste von Kalabrien. Erst als sie mit dem Auto aus dem Bauch der Fähre krochen, sahen sie, daß es schneite. Kleine, schnelle, flunkernde Flocken bestäubten Sizilien, und da es sehr kalt war, blieben sie liegen und überzuckerten das sonnenversengte Land. Langsam fuhren Julian und Lara auf der Landstraße die Ostküste Siziliens entlang, südwärts, von Messina nach Catania nach Siracusa. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen, die vielen kleinen Ortschaften, durch die sie glitten, wirkten verlassen, und der Anblick der verschneiten Küste vor dem blauen endlosen Sonnenmeer, das sich mit den weißen Hängen des Vulkans versöhnte, ersparte ihnen das Sprechen. Allmählich wurden die Flocken größer und langsamer, turtelten immer übermütiger zu Boden, und die Landschaft plusterte sich weiß. Die Fächer der Palmen und die bunten Arme der Zitronen-, Orangen- und Mandarinenpflanzen bogen und schüttelten sich unter den rasch wachsenden Schneepolstern, die vertrockneten Gestrüppsteppen erstickten. Auf den antiken Ruinen und auf den spitzen Glatzen der Zyklopenfelsen in der ratlosen Brandung ließen sich weiße Zylinder nieder. Wolken sanken herab, es schneite dicht aus einem dunkelnden Nebel, der bereits die Gipfel der Ölbäume verschluckte, eine magische Stille legte sich über das Leben, das einzige Geräusch, das die Reisenden noch hörten, war das dumpfe Knistern des Schnees unter ihren Reifen, das sie becircte und sie magnetisch durch eine verwunschene Winterlandschaft ans südlichste Ende des Kontinents zog. Irgendwo in einem kleinen Nest an der Südküste Siziliens quartierten sich Julian und Lara in einem Hotelzimmer ein. Julian legte sich sofort aufs Bett und schaltete den Fernseher
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an, Lara zwängte sich in ihren Bikini und ging zum Baden an den schneeweißen Strand. Sie sahen sich nicht mehr an, sahen sich nicht mehr, ihre letzten Tage lebten sie allein, jeder für sich, in einer weiten menschenleeren Grotte aus Schnee. Julian lag den ganzen Tag in seinem T-Shirt vor dem Fernseher und wandelte durch alle italienischen Kanäle, Lara lag den ganzen Tag in ihrem Bikini am immer weißeren Strand und wärmte ihren gefrierenden Körper hin und wieder im traurigen Afrikanischen Meer. Von Tag zu Tag schneite es heftiger, es hörte niemals auf, die Welt verstummte unter einem dicken Polster, es gab keine Geräusche mehr und keine Bewegung, nur noch Raum, einen unendlichen schweigenden Raum, in dem sich jeder Schall und jede Stunde in einen Windstoß aus pulsierenden Kristallen verwandelte, die sich mit ihren kleinen funkelnden Wurzeln wie das ewige Eis im Universum verankerten. Die Bediensteten des Hotels schwebten steif wie gefrorene Mumien durch die Flure, Julian erstarrte vor dem Fernsehgerät, und Lara färbte sich von den Zehenspitzen aufwärts, von der Nasenspitze abwärts schwarz vom weißweißen Frost. Die Möwen, die vielleicht noch irgendwo jenseits der Eisgrenze schrien, machten Lara wohl als einzigen schwarzen Punkt auf einem siziliengroßen weißen Gletscher im sommerblauen Meer aus. Doch eines Morgens, als Lara wieder in ihrem Bikini aus den Kissen stieg, bemerkte Julian die Erfrierungen an ihrem Körper, er sah ihr vom Balkon aus nach, wie sie mit ihrem Badetuch über den Schultern in einem arktischen Schneesturm verschwand, da schaltete er den Fernseher aus und trat hinaus in den tödlichen Wirbel. Mit bloßen Händen buddelte er sich durch den weißglühenden Staub vor dem Portal des Hotels, bis er auf die ersten Anzeichen seines versunkenen Autos stieß. Er setzte sich hinters Steuer, um zurück nach Deutschland zu fahren, denn er wußte, daß seine Freundin im Schneesturm verloren war. Der Motor blieb still, und so blieb auch Julian still hinter dem Steuer und verschwand langsam mit seinem Auto im Schnee. Plötzlich jedoch glaubte er durch das Eis der Windschutzscheibe hindurch einen schwarzen Schatten im unablässigen Weiß zu unterscheiden. Indem er das Eis von der Innenseite der Windschutzscheibe kratzte, einen kleinen Kreis Glas mit seinem Atem erwärmte und so den Schnee auf der anderen Seite der Scheibe schmolz, schuf er sich ein Guckloch so groß wie sein Auge, durch das er erstaunt seine Freundin Lara erkannte, die dort draußen wie ein Geist durch den unnatürlichen Winter spukte. Völlig nackt sprang und tanzte sie in ihrem erfrorenen Körper durch den Pulverschnee, schnappte wie ein kleines Mädchen mit Fäusten und Lippen nach den tobenden Flocken, drehte sich, wand sich schlangengleich mit biegsamen Gliedern durch den Sturm jubelnd und singend und lachend. Anmutig und wunderschön sah sie aus, und sie schien aus einem Märchen, ein phantastischer Traum, da der aufgewirbelte Schnee, der ihren geschmeidigen Körper führte, wie ein hauchdünner seidener Schal um ihre Schultern wehte. Aber Julian wußte nicht, warum sie fröhlich war.
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