homo solus oder Die Spuren der anderen
Ein Fragment
Alle Figuren in dieser Erzählung sind fiktiv,
auch wo sie realen Personen ähneln mögen.
Nichts, was einer Figur zugeschrieben ist,
bezieht sich auf eine reale Person.
Die Spuren der anderen
Es macht mir ein melancholisches Glück,
mitten in diesem Gewirr der Gässchen, der Bedürfnisse, der Stimmen zu leben:
wieviel Geniessen, Ungeduld, Begehren, wieviel durstiges Leben und Trunkenheit des Lebens
kommt da jeden Augenblick an den Tag!
Und doch wird es für alle diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen bald so stille sein!
Wie steht hinter Jedem sein Schatten, sein dunkler Weggefährte!
Es ist immer wie im letzten Augenblicke vor der Abfahrt eines Auswandererschiffes:
man hat einander mehr zusagen als je, die Stunde drängt,
der Ozean und sein ödes Schweigen
wartet ungeduldig hinter alle dem Lärme – so begierig, so sicher seiner Beute.
Und Alle, Alle meinen, das Bisher sei Nichts oder Wenig, die nahe Zukunft sei Alles:
und daher diese Hast, diess Geschrei, dieses Sich-Uebertäuben und Sich Uebervortheilen!
Jeder will der Erste in dieser Zukunft sein, – und doch ist Tod und Todtenstille
das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zukunft!
Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit
fast gar Nichts über die Menschen vermag
und dass sie am Weitesten davon entfernt sind,
sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen!
Es macht mich glücklich, dass die Menschen
den Gedanken an den Tod
durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen
den Gedanken an das Leben
noch hundertmal denkenswerther zu machen.
Friedrich Nietzsche, Der Gedanke an den Tod
Man konnte kaum mehr die Hand vor Augen sehen. Sie war sehr langsam geworden und hatte ihn irgendwo vor sich im Schneegestöber verloren, und als sie plötzlich mitten auf der Piste eine schemenhafte Gestalt auftauchen sah, warf sie sich sofort mit einem kleinen Sprung in der Luft herum und blieb, die Ski quer zum Hang, einige Meter über ihm stehen. Ihr Bremsmanöver mußte sehr professionell ausgesehen haben, sie war ein bißchen stolz darauf und wischte sich mit ihrem rechten Fäustling den Schnee von der Skibrille, um zu sehen, ob er ihr vielleicht applaudiere. Sofort jedoch kam ihr ihre Eitelkeit, in dieser prekären Situation, lächerlich vor, und nun war sie sich auch gar nicht mehr so sicher, ob dieser Schatten da unter ihr wirklich Wolferl war oder nicht vielleicht eher ein auf zwei Meter Höhe abgebrochener Baumstamm. Noch einmal wischte sie sich die Brille ab und schützte sie dann mit beiden Fäustlingen – wie vor zu starkem, blendendem Sonnenlicht – vor den wildgewordenen Flocken, die so dicht und so rasend durch die Gegend wirbelten, daß der Schneefall fast wie Nebel über der Piste lag. Nun sah sie, daß es doch Wolfgang war und kein Baumstumpf, denn er winkte ihr zu und schien ihr zu bedeuten, sie solle sich vor dem Sturm hinüber in den Wald retten.
Da sie diese Idee selbst schon gehabt hatte, kam sie ihr sehr vernünftig vor. Sie setzte sich ohne zu zögern, in die Richtung, in die ihre Ski zeigten, in Bewegung und schob sich mit ihren Stöcken quer über den Hang durch den Tiefschnee auf den Waldrand zu, der dort drüben nur als ein etwas dunklerer Nebel zu erkennen war. Erst nach
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einigen Metern blickte sie sich um, und da sie ihn nachkommen sah, packte sie wieder der Ehrgeiz, und sie wollte vor ihm zwischen den Bäumen sein. Fast gleichzeitig erreichten sie den Wald, und als Wolfgang sie nun an der Schulter packte und sie zu sich herumdrehte, hörte sie endlich seine Stimme:
»Marta«, schrie er, »net in den Woid! Weiterfoarn!«
»Aber du hast doch auf den Wald gedeutet«, schrie sie zurück.
»I hob dir g’wunken, du soist zu mir runterkommen! Aber ma’ sicht ja nix! Wir müssen weiterfoarn! Wenn wir stehnbleim, schneit’s uns ei und wir erfrieren! Wir müssen zur Hüttn! Los! Auf geht’s!«
Er wollte sich schon abstoßen, zurück auf die Tiefschneepiste, doch dann beugte er sich nochmal zu ihr zurück und schrie:
»I mach ganz langsam! Und du bleibst dicht hinter mir! I weiß scho’, wie wir z’ fahrn ham!«
Der Schneesturm war ganz plötzlich gekommen und selbst für Wolfgang, der Skilehrer war und die Berge hier und ihr Wetter gut kannte, völlig überraschend. Es hatte den ganzen Tag leicht und gefällig aus einem weißen Himmel geschneit, und aus einer so stabilen, tief winterlichen Wetterlage war, solange sich Wolfgang erinnern konnte, noch nie ein solch massiver Schneesturm erwachsen. Da Wolfgang an diesem Tag keine Skikurse mehr gab, hatten sich er und Marta schon nach der Mittagseinkehr in die Tiefschneepisten abgesetzt, während Martas Ehemann sich mit
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seinen Kumpanen auf den normalen Abfahrten langweilen mußte. Für fünfzehn Uhr war der allgemeine Treffpunkt in der Hütte vereinbart worden, etwas früher als sonst, weil man nach den obligatorischen Runden Jagertee noch geruhsam ins Hotel zurückkehren wollte, um sich rechtzeitig für den Jahreswechsel frisch zu machen: Es war der 31. Dezember 1969.
Doch schon auf ihrer ersten Tiefschneefahrt hatte sich von Süden, vom Großglocknermassiv her binnen weniger Minuten der Himmel verdunkelt, es war ein starker Wind aufgekommen, und es hatte ein heftiges Schneegestöber eingesetzt. Wolfgang war, als er diesen Himmel sah und den Gletscherwind spürte, sehr erschrocken, hatte es sich allerdings nicht anmerken lassen, um Marta nicht zu beunruhigen, und wahrscheinlich auch, weil er sich seine Fehleinschätzung der Wetterlage nicht eingestehen wollte. Marta hingegen fand an dem Gestöber großen Gefallen, sie fühlte sich, in dem von allen Seiten auf sie einstürmenden Pulverschnee, wie von einer unbeherrschbaren Gewalt davongetragen. Zunächst hatte der Sturm auch wirklich wieder nachgelassen, und Wolfgang – ein gefährlicher Leichtsinn, wie er sich nun zugeben mußte – hatte sich sogar dazu überreden lassen, noch einmal den halben Hang hinaufzusteigen, um noch die abzweigende Tiefschneepiste zu nehmen. Dort jedoch war es dann richtig losgegangen, in seinem Schrecken war Wolfgang wohl zu schnell geworden, und als er mitten auf der Piste auf sie war-
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tete und zuinnerst beunruhigt nach oben in das weiße Chaos starrte, hatte er gewußt, sie mußten sich nun in Sicherheit bringen, sonst könnte das Jahr für sie beide auf unvorhergesehene Weise zu Ende gehen.
Während sie sich nun dicht hintereinander und dicht am Waldrand den Tiefschneehang hinunterschoben, nahm das Unwetter tatsächlich infernalische Ausmaße an. Marta sah nur noch als schwachen Schatten den Waldrand neben sich und erahnte mehr die Bewegung vor sich, die wohl Wolfgang war. Ihr Gesicht war taubgefroren vom Sturm, sie konnte kaum mehr atmen und hatte das Gefühl, sie würde nun gleich von Todesangst überwältigt. Das Tiefschneefahren war die größte Leidenschaft, die sie bisher kennengelernt hatte, und sie versuchte, die Wut gegen sich selbst und gegen Wolfgang zu bekämpfen, der sie nicht deutlich genug vor den Gefahren eines erneuten Aufstiegs gewarnt hatte. Sie waren völlig allein auf dem Hang, der eben noch in einer vollkommen Stille und Leblosigkeit mit seiner unberührten Pulverschneedecke vor ihnen gelegen hatte, und plötzlich drohte dieser Pulverschnee sie in einem heulenden Sturm unter sich zu begraben, und die wunderbare Einsamkeit von vorhin war zu einer entsetzlichen Bedrohung gewachsen.
Es war ein ungesicherter, gesperrter Hang auf gut 1500 Metern Höhe, und als sie anfangs seine meterdicke Schneepolsterung mit schnellen, gekonnten Schwüngen durchteilt hatten, war die Stille wahrhaft umfassend und großartig gewesen: Wenn sie stehenblieben und schwiegen, hörten sie überhaupt nichts, und wenn sie ein biß-
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chen länger stehenblieben, hörten sie plötzlich den Schnee fallen, sie hörten wirklich die großen Flocken mit einem sanften, rührenden Knirschen auf die Schneedecke niedersinken. Nun dröhnte ihnen der Sturm in den Ohren, und die bewaldeten Bergwände und vereisten Felsformationen, die den Hang zu allen Seiten überragten, hatten sich hinter einer gräßlichen Fratze verborgen.
Wolfgang war sich nicht sicher, ob Marta die Gefahr, in der sie schwebten, richtig einschätzen konnte. Er selbst war schon manches Mal auf Skiern in einen Schneesturm geraten, hatte sogar einmal an einer riskanten Rettungsaktion auf dem Maurerkogel teilgenommen, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals selbst eine solche Angst erlebt zu haben. Natürlich drohte auf einem unbefestigten Tiefschneehang bei diesen Mengen Neuschnee immer eine Lawine, doch größer schien ihm die Gefahr, daß sie die Orientierung verlieren und den Durchstieg durch den Wald zu den planierten Pisten verpassen könnten. Sie tasteten sich eigentlich nur noch vorwärts, schoben sich an wie Langläufer und kamen auch nur fürchterlich langsam voran, und er vermutete, sie könnten nur noch maximal eine Stunde durchhalten. Der Sturm, der direkt von den Gletschern der Hohen Tauern herabzustürzen schien, war ihm längst durch den Skianzug gedrungen, er fror, als wäre er nackt, und er wußte nicht mehr nur, sondern fühlte es nun auch, daß den menschlichen Körper nichts so sehr lähmte wie eine derartige Kälte. Zum Glück, dachte er, waren sie nicht in den anderen Hang gegangen, denn dort gab es unten am Fuß keinen Durchstieg mehr, nur noch die Schluchten
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hinab ins Tal; sie hätten, um zurück zu den offiziellen Pisten zu gelangen, den ganzen Hang wieder hinaufsteigen müssen, was bei diesen Verhältnissen, zumindest für Marta, einem Todesurteil gleichgekommen wäre.
In diesem scheinbar endlosen Weiß hatte Wolfgang jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Er wußte nicht mehr, wie lange sie schon gegen diesen Schneesturm kämpften und auf welcher Höhe des Hanges sie sich inzwischen bewegten. Mit aller Kraft konzentrierte er sich auf den Verlauf des Waldrandes, damit ihm die Richtungsänderung am Fuß des Hanges, wo der Durchstieg war, nicht entginge und sie nicht plötzlich auf der anderen Seite wieder nach oben stiegen. Mehrmals blieb er, verunsichert durch eine Kurve, zu der der Wald sie zwang, stehen und versuchte, hangauf- oder hangabwärts irgendetwas zu erkennen, doch als er dann nie etwas sah außer dem allgegenwärtigen Schnee und Martas vereistem Astronautenkopf, und als er dann, wieder in Bewegung, auch weiterhin das Gefälle spürte, überkam ihn fast panikartig die Ahnung, daß dieser Hang niemals enden und sie immer weiter, endlos den Waldrand entlang, talwärts zwingen würde, daß sie niemals irgendwo ankommen, sondern immer weiter durch diesen eisigen Wahnsinn absteigen müßten. Als sie dann, nach Ewigkeiten, dennoch den Fuß des Hanges erreicht hatten, bemerkte es Wolfgang sofort: Er spürte, daß es nicht mehr abwärts ging, und er spürte, daß sie, allmählich und kaum merklich zuerst, eine andere Richtung eingeschlagen hatten, die nicht mehr korrigiert wurde. Sie schoben
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sich in den Wald, wo sie geschützter waren, arbeiteten sich durch die engstehenden Nadelbäume hindurch, bis sie nach wenigen Metern an eine Böschung kamen, an der sie zunächst ihre Ski hinabwerfen und dann, steifgefroren wie sie waren, mit den Skischuhen voran hinabrutschen mußten.
Sie waren auf einem flachen, sehr schmalen Zieher, der sich, von dichtem Wald gesäumt, einige hundert Meter hinüber zu einer der offiziellen Pisten zog. Da sie hier besser sahen als auf dem exponierten Tiefschneehang und das Gefälle harmlos war, fuhren sie in langsamen, etwas ungelenken Schwüngen weiter und erreichten bald die Einmündung in die Piste, wo sie stoppten. Das Schneegestöber hatte keineswegs nachgelassen, und vor ihnen tobte erneut ein bedrohliches, weißes Nichts. Fünfzehn Minuten unter ihnen lag die rettende Hütte, in der sich die anderen wahrscheinlich längst versammelt und vielleicht schon die Bergwacht wegen ihres Ausbleibens verständigt hatten. »Wir foarn jetz’ normal weiter«, entschied Wolfgang. »Du kennst die Pistn auch: Wir bleim am rechten Rand! Und wenn’s di hi’haut, dann schreist wia narrisch!«
Und Marta schrie tatsächlich einigemal, denn die Unebenheiten der Piste waren nicht zu unterscheiden von den Wirrnissen des Gestöbers, und einmal wäre sie beinahe gegen den verschleierten Wald geprallt. Sie verlor ihre Mütze und beinahe auch einen Stock, den sie noch im allerletzten Moment wiederfand. Nach diesem Sturz hatte sie das Gefühl, das Bewußtsein zu verlieren, als sie wieder auf den Skiern stand, wurde ihr schwarz vor Augen, der
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Schweiß brach ihr aus, und sie schwang, ohne etwas wahrzunehmen, nur noch rein instinktiv den Hang hinab, schwitzte in der eisigen Kälte.
Die Hütte tauchte wie eine Fata Morgana aus dem Schneesturm auf. Es war ein großes, mehrstöckiges Bauernhaus, und sein dunkles Holz schien, als wären es Wasserfarben, mit dem nebligen Weiß zu verlaufen. Wolfgang und Marta fuhren mit ihren Skiern auf die unter diffusen Schneeverwehungen begrabene Terrasse. Sie hörten, als sie vor der Tür ihre Ski abschnallten, Musik und Gelächter, und die Erleichterung, dem eigenen Leichtsinn entronnen zu sein, ließ sie beinahe einstimmen.
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Der Krieger ist müde im Sommer
Was aber ist denn das Religiöse? Der Gedanke an den Tod.
Ich sah meinen Vater sterben, ich weiß, daß ich sterben werde,
und jener Gedanke ist mir der vertrauteste;
er steht hinter allem, was ich denke und schreibe,
und die Neigung, alle Dinge in seinem Licht und Zeichen zu sehen, ist mir so natürlich,
daß der Ergebnissatz meines letzten Romans:
»Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen
dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken«
eine wirkliche Überwindung bedeutete, –
welche, wie meine Freunde wissen, für mein Denken und Handeln allerlei
wenig verstandene Folgen gehabt hat.
Thomas Mann, Fragment über das Religiöse
Es war eine mondlose Julinacht gewesen, warm und schwül und ohne Wolken, und nun, eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, waren endlich auch die Sterne verschwunden. Vom Englischen Garten wehte langsam der erste Hauch des Tages herüber und spannte einen kristallklaren Morgenhimmel über die Häuserdächer im Osten, während im Westen noch die Nacht regierte, angefochten nur von einem dünnen, milchigen Schein, der noch viel zu schwach war, die Dunkelheit zu vertreiben. Die Zeit blieb stehen, und die Stadt verharrte für einen Augenblick in einem Zustand vollkommener Muße, irgendwo im Niemandsland zwischen Nacht und Tag. Von den Kronen der Stadtbäume übertönte noch die Freude der Vögel über die angekündigte Sonne die Geräusche des Morgens, denn die Straßen waren noch leer und friedlich, nur vereinzelt durchschnitt Kraftwagenlärm die Dämmerung, und die unzähligen Geschäfte entlang der großen Straßen waren verschlossen und finster. Nur in den Bäcker- und in den Metzgereien bereiteten die Bedauernswertesten die Frühe vor, indem sie ihre duftenden oder stinkenden Waren in die Glaskästen der Theken schlichteten. Auch auf den Bürgersteigen war kaum ein Mensch zu sehen, und die wenigen Frühaufsteher eilten stumm und nachttrunken mit glattschwarzen Aktenkoffern zu ihren Autos oder mit aufgeriebenen Tragetaschen zu den Bushaltestellen und U-Bahnhöfen. Die Bürgersteige waren naß, als hätte in der Nacht ein Sommergewitter die Hitze aus der Luft gewaschen, und der alte Mann wunderte sich darüber, wußte er doch, daß nachts keine einzige Wolke über den Himmel gezogen war. Er hatte selbst auch kein Auge zugetan, er war nur Stunde um Stunde schwitzend in seinem Bett gelegen und hatte vergeblich versucht, in Wachträumen der unerträglichen Hitze und den winselnden Stechmücken zu entfliehen, und nun war er zu einem Morgenspaziergang auf die Straße gegangen, um den Tod zu verscheuchen. Die erwachende Großstadt roch nach verfaulenden Küchenabfällen.
Der alte Mann trug eine beige Baskenmütze, und sein Gesicht hatte die Form einer angefressenen Birne. Er ging gebückt, benutzte einen Regenschirm als Spazierstock, und von seiner linken Hand baumelte eine kleine Plastiktüte. Er atmete schwer und geräuschvoll durch den offenen Mund, er hatte Schmerzen in der Lunge und im Kreuz, die Mückenstiche juckten am ganzen Körper, und seine Augen lagen tief und winzig in ihren Höhlen und starrten auf den nassen Gehsteig vor seinen Füßen. Er wollte die Hauptstraße überwinden, eine breite Pappelallee, die in Richtung des südlichen Himmels auf das Siegestor zustrebte, und er brauchte so lange, bis er ihre vier Spuren überquert hatte, daß die Autos längst schon wieder grün sahen und auf ihn loszugehen drohten wie irregeleitete Stiere. Er beantwortete ihren Jähzorn mit einer kaum merklichen, verächtlichen Kopfbewegung. Er schlurfte zum Englischen Garten, gen Sonnenaufgang, in ein wunderschönes altes Viertel, in dem riesige, knorrige Bäume prächtige Paläste aus der Zeit der Jahrhundertwende verdeckten. Hier schienen so viele Häuser den Krieg überlebt zu haben oder in ihrer ursprünglichen Form wiederaufgebaut worden zu sein, daß die Gegenwart die Gegenwart vergessen machte. Auch der alte Mann hatte den Krieg überlebt, allerdings nicht in seiner ursprünglichen Form. Er war vierundsiebzig Jahre alt und als junger Soldat in Rußland gewesen, wo seine Jugend geblieben war. Heute lebte er von einer Maurerrente allein in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung und verbrachte seine Tage damit, durch die Großstadt einkaufen zu gehen. Im Winter kämpfte er gegen das Nichts in seiner Wohnung, das alle grauen Tage zu einer einzigen endlosen schwarzen Nacht verschmolz, kämpfte gegen die unablässig auf alles herabsinkende Kälte und gegen die unablässigen Erkältungen, und im Sommer kämpfte er gegen die Hitze.
Ganz nahe am Englischen Garten wurden die fröhlichen Vögel immer lauter, und irgendwoher kehlte ein Gurren, und der alte Mann blieb stehen, um zu sehen, ob er Tauben gehört hatte. In der Plastiktüte, die an seiner linken Hand baumelte, trug er unter anderem auch sein Frühstück, ein Wurstbrot mit einer Spur Butter, in Bröselform mit sich herum, um es den Tauben zu verfüttern, denn bei unablässiger Hitze litt er nicht nur an Schlaflosigkeit und an kirschgroßen Mückenstichen ganzkörpers, sondern auch an Appetitlosigkeit, und wenn er versuchte, etwas zu essen, mußte er sich meist übergeben. Er hatte einen mumifizierten Luftballon im Bauch. Er blickte um sich, in die zugeschwollen Gärten der Villen und den schmalen Gehsteig entlang, der unter den schwellenden Fliedern und Goldregen zu einem Laubengang geworden war, und da er nirgendwo Tauben sah, ging er weiter, zwischen den erwachenden Häusern hindurch auf einen kleinen Fußweg, der über den Fluß in den Englischen Garten führte. Auf der Brücke blieb er stehen und beobachtete den schmalen Fluß, wie er sich dahinwälzte durch die Lunge der Großstadt, und beobachtete die riesigen, verwinkelten Häuser am rechten Ufer mit ihren Erkern und großflächigen Balkonen, auf denen man direkt über dem angenehm flüsternden Wasser die Sommerabende verbringen konnte, und die Bäume auf der anderen Seite des Flusses waren so groß, daß ihre ausladenden Äste fast bis auf die Terrassen der Häuser herabfielen. Wildenten rauschten durch die Früh, von hinten über den Kopf des alten Mannes hinweg und landeten krachend im Wasser. Darüber erschrak der alte Mann nicht, es erschien ihm klar und natürlich, obwohl er kaum denken konnte, aber er erschrak über anderen Krach hinter ihm, und als er sich umwandte, sah er einen jungen Mann im Trainingsanzug über die Holzbrücke joggen und im Englischen Garten verschwinden. »He«, murmelte er und irgendwas mit »laufen« und »gewalttätig«, und dann drehte er um und ging zurück in die alten Straßen.
Inzwischen war es hell, die Sonne war aufgegangen und blinzelte schüchtern zwischen den Bäumen hindurch, grelle Strahlen wurden von den Fensterscheiben in den oberen Stockwerken der Villen auf ihn zurückgeworfen. Die Straßenlaternen erloschen plötzlich und gemeinsam, und es mutete an wie das willkürliche Ende der Nacht. Hier hinten, am Rande des Englischen Gartens, gab es noch Nachtreste, nur hier und da fuhr jemand im Kraftwagen zur Arbeit, doch von der Hauptstraße hörte man bereits die Selbstgefälligkeit der Linienbusse und die Aufregung der Autos und auch schon die Sirenen, an denen die Tage in der Großstadt kreischend krankten und die fast tödlich waren, sobald sie nahekamen. Der alte Mann dachte dann, daß seine Ohren zerrissen, wie er es im Krieg gedacht hatte, und er faßte sich an beide, wie um zu fragen, ob sie noch da seien. Heute, an diesem traumhaften Julimorgen, wußte der alte Mann nicht so recht, wo er hingehen sollte. Er hatte sich für heute abend mit dem Jungen verabredet, sie wollten sich auf einer der Bänke an der Akademie treffen, dort, wo sie sich zu Beginn dieses Sommers kennengelernt hatten, und der alte Mann wußte nicht, was er tun sollte, um bis heute abend zu überleben. Vielleicht war auch die Aufregung über diese Verabredung schuld daran, daß er heute nacht überhaupt nicht geschlafen hatte, jedenfalls freute er sich, seit er das letzte Mal mit dem Jungen telefoniert hatte, so sehr darauf, daß er vor Angst, der Junge könnte nicht kommen, fast wahnsinnig wurde. Neben seinem zerbröselten Frühstück trug er in der Plastiktüte zwei heile Tafeln Schokolade für den Jungen mit sich herum, und er konnte es kaum erwarten, ihn sie essen zu sehen. Der alte Mann ging die Straße am Englischen Garten entlang, überholt von Radfahrern und hektischen Passanten, und versuchte, seine Gedanken auf die Frage zu konzentrieren, was er nun tun solle. Von fern steuerte er wieder in Richtung Westen zur Hauptstraße, der vierspurigen Pappelallee, allerdings fand er sich nun viel weiter südlich. Er steuerte an einem der größten und schönsten Gebäude der Welt vorbei, einem Palast inmitten eines Parks, in dem mittags die Versicherungsangestellten auf einem Kiesweg im Kreis liefen wie Sträflinge im Gefängnishof. An der letzten Kreuzung vor der Hauptstraße blieb er lange stehen und beobachtete mit offenem Mund und starren Augen den anschwellenden Autostrom. Die Autos hupten sich gegenseitig an und hupten die Radfahrer an, und die Radfahrer schimpften und fuhren dabei beinahe ineinander, und die Fußgänger schüttelten ihre Köpfe. Die Straßenkehrer, die noch den Dreck des vergangenen Tages aus den Mülleimern und den mißbrauchten Straßenrändern und Grünanlagen kratzten, sahen die schimpfenden Menschen und lachten. Der alte Mann hatte keine Lust, zu lachen oder nach Hause zu gehen, er hatte seine Wohnung die ganze Nacht in seinem Alpwachen gesehen, und so ging er weiter zur Hauptstraße und ging dort nach links, weiter nach Süden, wo da hinten irgendwo, einige Minuten entfernt, die Akademie lag. Hier, auf der Hauptstraße, entdeckte der alte Mann nun, warum die Bürgersteige naß waren, obwohl es in dieser Höllennacht nicht geregnet hatte: Kleine, gelbe Fahrzeuge lachten über die Gehwege, spritzten Wasser auf das hundedreckverkrustete Pflaster und schrubbten es mit rasend schnell rotierenden Bürsten sauber. Der alte Mann blieb stehen, um nicht naßgespritzt zu werden, ließ den automatischen Straßenkehrer vorüberlachen und ging dann weiter in Richtung Akademie, obwohl seine Verabredung zwölf Stunden in der Zukunft lag, zwölf Stunden im endlosen Augenblick seines Alters.
Die Akademie der Bildenden Künste war ein schloßähnliches Monumentalgebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, aus der Gründerzeit, im Stil der italienischen Renaissance erbaut, mit einer breiten, von bronzenen Reiterstatuen gesäumten Auffahrtstreppe. Auf der der Straße abgewandten Seite war sie von einem weitläufigen Garten umgeben, in dem ein fast walddichter Baumbewuchs eine sanft gewellte Blumenwiese beschattete. Auf der Straßenseite dagegen, der Schauseite mit der Auffahrtstreppe und der palastähnlichen Fassadenarchitektur, begrenzten zwei mit dem Lineal gezogene Baumreihen die Rasenfläche zu beiden Seiten der Treppe, und unter diesen Bäumen standen auf einer Länge von wohl dreihundert Metern mehrere Sitzbänke. Das war seit Jahren der Lieblingsplatz des alten Mannes, hier saß er im Sommer bei schönem Wetter fast jeden Tag mehrere Stunden lang im Schatten der Bäume, meist erst am späteren Nachmittag bis zum Abend, und es war nicht nur deshalb sein Lieblingsplatz, weil es hier so beschaulich und stadtlebendig war, sondern hauptsächlich deshalb, weil hier jeden Tag viele Studenten ein- und aus- und vorbeigingen, die er ansprechen und mit denen er – wenn sie ihm zuhörten, was selten vorkam – seine Einsamkeit teilen konnte. Meist ging der alte Mann aus seiner Wohnung geradewegs die Hauptstraße entlang zur Akademie, er mußte nur der Pappelallee bis zum Siegestor folgen, das man kilometerweit die Straße hinab und hinauf sehen konnte und das er meistens »Kriegstor« nannte, und dann war sie auch schon da, rechter Hand, die parkplatzgesäumte Akademiestraße, die gerade eben so lang war wie das Bauwerk der Akademie selbst. Heute, an diesem aufgeregten Hochsommertag, hatte er nur die Hälfte des Weges auf der Hauptstraße zurückgelegt, wo bereits die lächerlichen Künstler und Straßenhändler ihre häßlichen Gemälde und ihre pipifaxigen Bücher- und Schallplattensammlungen aufbauten, und obwohl er sich nach dem Umweg über die Randbereiche des Englischen Gartens und nach seiner durchwachten Nacht wie tot fühlte, als er ankam, nahm er noch die gesamte Baumreihe ab, um sich die sympathischste aller Bänke auszusuchen. Schließlich setzte er sich auf eine der hinteren im Schatten, da er sich nur allzugut an die siebenstündige Schwitzerei in der Nacht erinnerte, mußte jedoch sehr bald feststellen, daß sein ausgemergelter und übermüdeter Körper nicht mehr schwitzte, nur noch fror, so daß er wieder aufstand und wieder nach vorne, in die Nähe des Kriegstores schlurfte, und sich dort auf jener Bank niederließ, auf der er damals den Jungen kennengelernt hatte und die zur Hälfte in der Morgensonne lag. Damals, es war im schönen, warmen Mai gewesen, in der ersten zusammenhängenden Zeit des Jahres, war er wie üblich irgendwann am Nachmittag hierhergekommen und hatte gleich gesehen, daß auf einer der ersten Bänke ein junger Mann saß und ein Buch las, und trotzdem hatte er zunächst noch die Baumreihe abgenommen, hin und wider, doch dann hatte er den jungen Mann gefragt, ob da noch frei sei, und da dieser bejaht hatte, hatte er sich hingesetzt und angefangen zu reden, und dann hatte der junge Mann aufgehört zu lesen und hatte ihm zugehört. Am Schluß hatten sie sich für einige Tage später an der gleichen Stelle verabredet, und es war so unglaublich gewesen, daß der junge Mann tatsächlich gekommen war, denn bislang war noch niemals einer von denen gekommen. Der alte Mann hatte erfahren, wo der junge Mann wohnte und wie er hieß, daß er noch bei seinen Eltern Georg und Marta Traube in Obermenzing wohnte und Sascha hieß und daß er zweiundzwanzig Jahre alt war und angehender Schriftsteller, und dann hatte der alte Mann seine Telefonnummer über die Auskunft erfragt und hatte ihn angerufen, und der junge Mann war wiedergekommen und hatte ihm wieder zugehört, und seitdem nannte er ihn bei sich den »Jungen«. Sie hatten sich inzwischen schon vier- oder fünfmal getroffen, auch wenn der Junge nicht immer Zeit hatte und er in den letzten Wochen sogar immer weniger Zeit gehabt hatte, und so war der erste Teil des Sommers ganz erträglich gewesen. Der alte Mann liebte den Jungen, auch wenn er das nicht wußte, und er brachte ihm jedesmal etwas mit, eine Flasche Diät-Speiseöl, eine Packung Eiernudeln, Vanillepuddingpulver oder Milch-Schoko-Streusel. Oder, wie er es heute getan hatte, zwei heile Tafeln Schokolade neben den Taubenbröseln.
Als der alte Mann auf der Bank in der Morgensonne saß, seinen Regenschirm und seine Plastiktüte neben sich legte und sich müde zurücklehnte, da spürte er erst, wie schlecht er sich fühlte. Sein ganzer Körper war ein Mückenstich, die Krümmung seines Rückens quälte ihn wie das Atmen, und von seinem langen Weg schmerzten ihm die Füße. Von der durchwachten Nacht und dem tagelangen Hungern hatte er ein grabartiges Gefühl im Magen und sein Hals war zugeschwollen, wie immer, wenn er nicht aß. Der alte Mann kratzte sich an den Unterschenkeln und an den Armen und suchte, irgendwie seinen Rücken zu vermeiden. Dann begann er wieder zu schwitzen. Er zog sich die Jacke aus, in der er eben noch gefroren hatte, und dann saß er im kurzärmeligen Hemd in der immer aufgehenderen Sonne, und der immer aufbrausendere Großstadtverkehr wühlte ihm von weither ein uraltes Dröhnen in den Kopf, die immer abnehmenderen Menschen, die ihn alle nur undeutlich grüßten, nahm er nur noch abnehmend war, weil er plötzlich, während er sich kratzte, bemerkte, daß er seine Augen nicht mehr offenhalten konnte, und so schlief er schließlich ein auf der Holzbank unter den Platanen, in denen die Flamingos gurrten, sank leicht zur Seite und schlief so fest, daß er träumte wie in kalten Winternächten. Er träumte vom Schlafen und von seiner Wohnung, und dann träumte er von dem Jungen, der eine Frau war und in seiner Wohnung, und dann träumte er von den Kämpfen und den Kriegen und den Kraftproben mit den Mücken, die so groß waren wie Pferde und durch die Luft schwammen, und er träumte von dem Jungen, der irgendjemand war, den er an der Akademie angesprochen hatte, und der nicht zuhörte und der auch nicht wiederkam. Und beim Schlafen sank er ganz langsam immer mehr zur Seite, bis sein Kopf schließlich nach hinten kippte und er aus den Träumen gerissen wurde, aber er wachte noch nicht restlos auf, er restete weiter vor sich hin, wobei die aufgeregten Autos und die kreischenden Sirenen auf der Hauptstraße und das Lachen der Studenten sich zu brüchigen Fragmenten seiner Halbträume verwandelten, die ihn im Innersten schmerzten und ihn zusammenzucken und erschrecken ließen, und dann kratzte er sich wieder, er spürte, daß er sich im Schlaf kratzte und wurde sich bewußt, daß er schlief, und als er aufwachte, war es Vormittag und die Großstadt war, wie sie jeden Tag war, und die Sonne war so heiß, daß er keine Luft mehr bekam.
Er fühlte sich, als müßte er sterben. Im Schlaf hatte er so stark geschwitzt wie in keiner seiner schlaflosen Alptraumnächte, er war am ganzen Körper naß, seine Kleider klebten an seiner Haut. Er hatte Kopfschmerzen und war völlig entkräftet, außerdem haßte er sich, weil er nichts so sehr haßte, wie einen ungewollten Schlaf. Seine Mütze war ihm halb vom Kopf gesunken, er setzte sie sich wieder auf, stand auf, zog seine Jacke an, obwohl er schwitzte, nahm seinen Regenschirm und seinen Plastiktüte mit dem Frühstück für die Tauben und der Schokolade für den Jungen und ging die Akademie entlang von der Hauptstraße weg, so schnell und weg, als fliehe er die Bank, auf der ihn sein zerrütteter Körper eben überwältigt hatte. Mit in den Zehennägeln pochendem und stolperndem Herzen schritt er die beiden Baumlineale und die weiten Abstände zwischen den davorstehenden Bänken ab, erkannte, daß niemand darauf saß und bog schließlich in die enge Straße mit den vielen Kneipen und den Kinos ein, in der die Autos in zweiter Reihe parkten und die Radfahrer auf den Fußwegen fuhren und klingelten, und er schimpfte ihnen hinterdrein mit seinem Regenschirm wie dem Jogger heute morgen. Er spazierte lang und weit die ganze Straße hinauf und wieder hinab, wobei er an dem U-Bahn-Abgang vorbeikam, in den er einmal den Jungen verabschiedet hatte, er vermied es, hinabzublicken. Bisweilen blieb er mitten auf dem Bürgersteig stehen, um die jungen Leute zu betrachten, die an kleinen, runden Tischen im Freien vor den Türen der Kneipen saßen und Pipifax tranken, ohne zu merken, daß der Bürgersteig für ihn zu schmal war. Manche der ungehaltenen Passanten hielten ihn für einen Obdachlosen, so heruntergekommen sah er aus mit seinem von Schlaflosigkeit und falschem Schlaf angefressenen Gesicht und seiner zerschlissenen Kleidung. Irgendwo blieb er stehen, weil er ein paar Tauben entdeckte, die im Schatten eines aus dem Pflaster schwellenden Baumes gurrten, holte aus seiner Plastiktüte den Beutel mit dem zerbröselten Wurstbrot, das in der Sonne zu stinken begonnen hatte, und streute ein paar Brösel den gierig aufflatternden Vögel vor die Schnäbel, bis er plötzlich selbst Hunger bekam und wie ein Schlafwandler anfing, das Vogelfrühstück selbst zu essen. So stand er da, umtost vom Vormittagsgetriebe der Großstadt, belächelt oder ignoriert von den vorbeieilenden Menschen, und kaute mühsam die Brösel, während die Tauben ihm um die Füße stelzten und nach den Schuhen pickten. Er hatte noch mehr als die Hälfte des zerstückelten Wurstbrotes übrig, als er es wieder wegpackte und sich auf den Rückzug zur Akademie machte. Ein Zeitungskasten bannte ihn mit einer Schlagzeile, und er fluchte über die Türken und die ganzen, dieses Zeug. An der Akademie setzte er sich diesmal auf eine der Bänke im Schatten, die bald in der Sonne stehen würde, und überlegte, was er tun solle.
Der alte Mann saß den ganzen Tag an der Akademie der Bildenden Künste und wartete auf den Jungen. Als die Sonne seine Bank im Schatten erreicht hatte und er seine Jacke wieder ausziehen mußte, fiel ihm der zu einem Wohnmobil umgebaute Transporter auf, der schräg vor ihm auf den Schrägparkplätzen der Akademiestraße abgestellt war. Der Wagen gehörte einem Kunststudenten, den der alte Mann vor einigen Wochen hier kennengelernt hatte und der wenigstens »Hallo« sagte und »Wie geht’s, müder Krieger«. Er hatte keine Wohnung in München gefunden, und auch wenn er eine gefunden hätte, hätte er sie nicht bezahlen können, und so war er auf die Idee gekommen, in seinem selbstgenachten Wohnmobil zu leben, was er nun bereits das zweite Semester tat. Der alte Mann mochte ihn nicht besonders, denn er konnte nicht zuhören, aber er sagte wenigstens etwas, wenn er schon nicht zuhören konnte. Der alte Mann beobachtete, wie die Sonne vom linken Rand der Häuserdächer auf der anderen Straßenseite immer höher und immer näher kam, wie die Blechdächer auf den Parkplätzen der Akademiestraße zu flimmern und die Luft darüber zu schmelzen begann, und irgendwann fiel dem alten Mann ein, daß dort hinten, ganz am Rand des Akademiegebäudes zwei Bänke hinter den beiden Baumreihen standen, dort, wo den ganzen Tag lang Schatten war. Der alte Mann fühlte sich viel wohler dort, er hatte nur Durst und seine Mückenstiche juckten. Er überlegte, ob er sich etwas zu trinken kaufen sollte, doch er war zu müde, und bald schlief er wieder ein. Nachher, als die Sonne sich bereits dem rechten Rand der Häuserdächer näherte, holte er sich doch im nächsten Laden eine Dose Fanta, die ihm guttat, doch je besser es ihm und je größer die Vorfreude auf den Jungen wurde, um so größer wurde auch seine Angst, der Junge könnte nicht kommen. Er rief sich die unglaubwürdigen Stunden in Erinnerung, die er mit dem Jungen auf den Bänken der Akademie verbracht hatte, die sommerlichen Abendstunden, als aus den geöffneten Fenstern der gegenüberliegenden Wohnhäuser Musik auf die Akademiestraße fiel und die Menschen an den Fenstern standen, ihre Köpfe in die langsam sich senkende Abendsonne reckend, und er war so stolz gewesen und so glücklich, daß er mit diesem lieben Jungen dort sitzen und ihm von Rußland, von seiner Heimat erzählen konnte und von all den Menschen, die nicht so lieb waren wie der Junge. Der alte Mann erinnerte sich an diese Abende ebenso lebendig, wie er sich an Rußland und den Krieg und den Tod erinnerte, und er saß auf seiner Bank im Schatten, sah alle fünf Minuten auf seine Uhr, deren Zeiger der Zeit schon seit Ewigkeiten nicht mehr hinterherkamen, und je neunzehnuhrer es wurde, desto sicherer war er, daß der Junge nicht kommen würde. Um halb neunzehn Uhr weinte er. Er saß auf seiner Bank im Schatten, die Sonne hatte den rechten Rand der Häuserdächer erreicht und verabschiedete sich nun, immer noch heiß und brennend, gen Westen, und der alte Mann weinte und konnte nicht mehr aufhören und schluchzte wie ein Kind. Dann stieg aus seinem Gedächtnis die junge Frau empor, die er in der letzten Nacht, irgendwann inmitten der Spinnernetzte der Schlaflosigkeit, auf der Straße unter seinem Wohnzimmerfenster beobachtet hatte. Sie war an der Bushaltestelle auf und ab gelaufen, mit wehendem Haar und viel zu enger Jeans, und war jedem Bus, jedem Auto und jedem Passanten hinterhergelaufen, hatte nach den Reifen oder den Schienbeinen getreten und immer wieder geschrieen, unzählige Male: »Du Haufen Scheiße, du! Du Haufen Scheiße! Du schwules Schwein! Du Haufen Scheiße, du! Du Haufen Scheiße!« Der alte Mann war traurig und glaubte nicht mehr, daß der Junge kommen würde.
»Ja, der Anton!«, sagte der Junge, als er plötzlich vor dem alten Mann auftauchte, mit zwanzig Minuten Verspätung. Der alte Mann hatte ihn nicht kommen sehen, denn die Lindenbäume verdeckten die Sicht auf den Bürgersteig der Akademiestraße, und dann war er auf einmal da, und der alte Mann zeigte die fast schmerzhafte Freude, in der sich sein Herz verkrampfte, nicht. »Ja, Grüß Gott!« sagte der alte Mann – er sagte »Grüß Goht«, nicht »Grüß Gott!«
Der Junge setzte sich neben ihn. Ein großer, hochaufgeschossener junger Mann, dürr, mit schmalen Schultern und vollem, langem Haar. Wie immer hatte er ein Buch bei sich. Er saß neben dem alten Mann im Schatten der Lindenbäume, hielt sein Buch mit beiden Händen fest und fragte, ohne den alten Mann anzublicken, wie es ihm gehe – das übliche Anfangsritual, auf das der alte Mann üblicherweise zu reden und der junge Mann üblicherweise zuzuhören begann. So war es auch heute, der alte Mann redete, wie er es bei allen Reden mit dem Jungen tat, von seiner Schlaflosigkeit und seinem rebellischen Magen, von den Mücken und von der unerträglichen Hitze. Er redete von seinem Nachbarn, dessen Lebenswandel ihm nicht gefiel, da er dauernd irgendwelche »Weiber daherbringt«, dauernd andere, dauernd neue, manchmal zwei auf einmal, er redete von seinen Schwierigkeiten im Waschsalon, weil alles so schwierig sei und so weit, und er redete von seinen Schwierigkeiten im Supermarkt, und zwischendurch sagte er üblicherweise »Ja, ja, gell, so is des halt« und blickte den Jungen mit lebendigen Augen an und lächelte und war so froh, daß der Junge da war und ihm zuhörte und ihn anblickte und ihm zulächelte. Eine Verkäuferin habe sich so schlimm benommen, während der Junge, der die Geschichte in- und auswendig kannte, in seinem Buch zu blättern begann, er habe aus seinem Geldbeutel die Pfennige hervorgekramt und gesagt, er habe soviel Pfenniggeld, das er loswerden könne, worauf die Verkäuferin gesagt habe »Na, wie schön!«, und es habe ihr zu lange gedauert, weil er so schlecht gesehen habe, und als er es schließlich geschafft hatte und der Verkäuferin vier Pfennige geben wollte, lächelte sie ihn an und sagte: »Wissen Sie was, ich schenk‘ Ihnen die vier Pfennig«, und der Junge sagte »Ja, ja, des is entsetzlich mit diesen Leuten«.
»Ja, und Sascha, kannst du mir vielleicht mal mit meinem Rasierapparat helfen«, sagte der alte Mann. »Ich weiß nicht, wie man den aufmacht, und man muß den doch saubermachen. Kannst du mir da helfen, hm, Sascha?«
»Ja, natürlich kann ich des«, sagte der Junge, »du mußt ihn halt des nächste Mal mitbringen.«
»Aber du kannst mich auch mal besuchen kommen bei mir«, sagte der alte Mann, »zu meiner Wohnung. Und dann kannst du des mal machen mit dem Rasierapparat.«
»Kann ich auch machen, klar!« sagte der Junge, lächelte und zuckte mit den Schultern. Und dann saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander, der Junge betrachtete durch die Lindenbäume hindurch den alternden Tag, die länger werdenden Schatten und das schwerer werdende Sonnenlicht, das immer gelber wurde und golden, und der alte Mann saß mit starren Augen da, und es sah aus, als versuche er, nach innen zu blicken, in sich hinein und die Außenwelt zu vergessen.
»Ja und Sascha«, sagte der alte Mann irgendwann, »du sagst nichts, erzähl doch du mal was.«
»Ach, ja«, sagte der Junge und lächelte verlegen in das freundliche Gesicht des alten Mannes, »bei mir gibt’s nich viel zu erzählen. Es tut mir übrigens leid, daß ich mich vorhin verspätet habe, ich mußte noch was arbeiten an meinem Romankapitel.«
»Ja, ich dachte schon, du kommst nimmer«, sagte der alte Mann mit unbewegter Stimme. »Ein Romankapitel schreibst du jetzt, und dann bist du fertig.«
»Nein, um Gottes willen, fertig bin ich noch lange nicht! Des is erst des zweite Kapitel. Des is dann irgendwann fertig.«
»Ach, fertig biste noch nicht«, sagte der alte Mann. »Ja, und du hast nichts zu erzählen. Ja, und ich, Sascha, gell, ich hab so viel zu erzählen. Wenn man schon so viel erlebt hat, gell, und so viele Erinnerungen.«
»Ja, ja«, sagte der Junge.
»Ja, so ist des halt«, sagte der alte Mann. »Wenn man so viel erlebt hat und so lange gelebt schon und so viele Erinnerungen.«
»Ja«, sagte der Junge und seufzte, »so ist des. Ich versuch halt, die Geschichte meiner Eltern zu erzählen.«
Und dann begann der alte Mann, von Rußland zu erzählen, was er immer irgendwann tat, vom Krieg und von der Gefangenschaft, doch er erzählte nicht vom Tod und vom Grauen, sondern davon, wie er ein bißchen Russisch gelernt hatte, und er erzählte vom »Russ« und daß der eigentlich ganz nett sei, der Russ, und dann sagte er, daß alle gestorben seien, seine Eltern und sein Bruder und seine Frau, und daß er keinen Sohn habe. »Und der Russ is ganz nett«, sagte er dann, »aber der Türk, des is schlimm. Da in der Zeitung da steht, daß alle Türken Deutsche werden sollen. Des geht doch net! Der Türk, na!«
»Ja, ja«, sagte der Junge.
Plötzlich erschien hinter den Linden auf dem Bürgersteig der Akademiestraße eine alte Frau, und sie kam zwischen den Bäumen hindurch zu der Bank, auf der der alte Mann und der Junge einträchtig nebeneinander saßen. Sie blieb direkt vor den beiden stehen, die verwundert zu ihr emporsahen, und die alte Frau lächelte ein wunderschönes, breites Lächeln, das so lieblich und freundlich war, ihr Gesicht sah plötzlich aus wie die Sonne. Sie strahlte dem Jungen ins Gesicht und wandte sich dann dem alten Mann zu und fragte auf Dunkelbayerisch: »No, wie is?« »Schlecht«, sagte der alte Mann, der sie schon öfter hier getroffen hatte. »Ich kann net schlafen und net essen.« Und dann lächelte die alte Frau wieder und blieb eine Weile, mit ihrem Lächeln und ohne Worte, vor der Schattenbank in der Sonne stehen, bevor sie wieder zwischen den Bäumen hindurch auf den Bürgersteig zurückging, ohne sich zu verabschieden, und sich nochmal umsah und lächelte. Sie war genauso klein wie der alte Mann und ging genauso gebückt, hielt sich aber nicht, wie der alte Mann, an einem Allwetterregenschirm fest, sondern an einem Einkaufsrollator, den sie vor sich herschob.
Nun kam Bewegung in die unbewegte Stimme des alten Mannes. »Ja und, Sascha, weißt du, ich muß immer an diese Abende denken, wo wir da vorne saßen auf der Bank, und es war Abend und so warm, und des war so schön, Sascha, weißt du, da muß ich immer dran denken. Da muß ich immer wieder dran denken, weil des so schön war, weißt du. Da denk ich immer dran.«
»Aber wir sitzen doch jetzt auch hier«, sagte der Junge.
»Ja, wir sitzen jetzt auch hier«, sagte der alte Mann, »Ja, des stimmt. Aber ich muß trotzdem immer dran denken, weißt du, des war so schön.«
»Aber, des is doch jetzt auch schön, oder?« sagte der Junge.
»Ja, des is jetzt auch schön«, sagte der alte Mann. »Aber irgendwann werden wir auch nimmer da sitzen, verstehst du, und dann muß ich immer dran denken, wie schön des war.«
»Aber wir können uns doch immer wieder hier treffen, jedes Jahr, wenn’s schön is«, sagte der Junge.
»Ah, ja, des sagst du so«, sagte der alte Mann, »aber ich weiß doch, wie des is. Irgendwann isses dann nimmer so und dann sitz ma nimmer da und dann muß ich immer dran denken. Ach, weiß du, so is des halt, wemma alt is und wemma so viel erlebt hat.«
»Ach, ja«, seufzte der Junge und lehnte sich zurück.
»Weißt du«, sagte der alte Mann und legte dem Jungen seine Hand auf den Oberschenkel, »ich muß immer dran denken, wie wir da vorne saßen. Daß des so schön war da.«
»Wir können uns ja auch da vor auf die Bank setzen«, sagte der Junge. »Wenn’s dir da besser gefällt.«
»Ah, na«, sagte der alte Mann, »wir brauchen uns net da vor setzen, da is ja auch Sonne, und da is viel zu warm.«
In diesem Moment fielen dem alten Mann die beiden Tafeln Schokolade ein, die er mitgebracht hatte, und er nahm die Hand vom Oberschenkel des Jungen, griff nach seiner Plastiktüte und faßte suchend hinein wie in ein Erdloch, in dem er irgendeinen verlorenen Gegenstand vermutete. »Ich hab‘ dir ja was mitgebracht«, sagte der alte Mann, und der Junge blickte ihn verlegen an und heuchelte Überraschung. »Oh«, sagte der Junge, als der alte Mann die beiden Tafeln Schokolade hervorzog, doch der alte Mann überreichte sie ihm nicht, er drückte mit den Fingern auf ihnen herum, und in seine Augen floß Entsetzen.
»Aber die sind ja geschmolzen«, preßte der alte Mann hervor. »Jetzt sind die geschmolzen«. Der Sommertag hatte die Schokolade geschafft, sie war fast flüssig unter dem erhitzten Verpackungspapier. »Nein, die sind ja geschmolzen«. Der alte Mann blickte dem Jungen entsetzt ins Gesicht.
»Des macht nichts«, sagte der Junge, nahm dem alten Mann die beiden formlosen Tafeln Schokolade aus der Hand und legte sie neben sich auf die Bank. »Vielen Dank.«
»Aber die sind doch geschmolzen«, sagte der alte Mann. »Die kannste ja gar net essen jetzt. Die kannste gar nimmer essen!«
»Des macht nichts«, beschwichtigte der Junge, »die wird ja wieder fest. Und im Augenblick will ich sowieso keine essen.«
»Willst keine essen!« sagte der alte Mann, und seine Stimme drohte zu brechen. »Aber kannst auch gar net essen. Die is ja flüssig. Ich wollt doch, daß dse ißt!«
»Aber, Anton, das macht doch jetzt wirklich nichts aus!« sagte der Junge und legte dem alten Mann für einen Moment seine Hand auf die Schulter.
So saßen sie eine ganze Weile da, schweigend, der alte Mann mit starren Augen und der Junge in seinem Buch blätternd, und irgendwann, als die Sonne schon hinter den Häusern im Westen verschwunden war und die Abendgeräusche der Stadt dumpf durch die dickflüssige Luft federten, legte der alte Mann wieder seine Hand auf den Oberschenkel des Jungen, und erst als der alte Mann, der immer noch vor sich hin starrte und nicht denken konnte, mit seiner Hand auf die Innenseite des Oberschenkels wanderte und seine Finger vorsichtig ausstreckte wie eine Schnecke ihre Fühler, erst da schlug der Junge beiläufig seine Beine übereinander und rutschte leicht von der Seite des alten Mannes, und kurz darauf sagte er, er müsse jetzt gehen, er müsse noch etwas für die Prüfungen tun. Der alte Mann wollte ihn nicht gehenlassen, redete von irgendetwas, nur damit der Junge nicht gehen konnte, doch nach ein paar Minuten standen sie sich gegenüber auf dem Bürgersteig der Akademiestraße und verabschiedeten sich. Der alte Mann ließ die Hand des Jungen nicht mehr los, drückte sie immer wieder und sagte: »Gell und bleib brav und mach nichts Schlimmes. Du bist brav, und werd nich so wie die Türken und die alle mit ihren Weibern, die nix anhaben und wo ma alles sicht.« »Ja«, sagte der Junge, der den alten Mann, wie er da so vor ihm stand, um zwei Köpfe überragte. Und als er ihn endlich losgelassen hatte, und der Junge schon ein paar Schritte gegangen war und nochmal gewinkt hatte, da rief der alte Mann: »Halt. Und Sascha…«. Und der Junge kam nochmal her und mußte dem alten Mann nochmal die Hand geben, und der Alte sagte: »Ich mag dich nämlich, gell«, und drückte die Hand des Jungen und lächelte und fragte: »Magst du mich auch a bißl, sag, Sascha, magst du mich auch?«
Woraufhin der Junge sagte: »Natürlich mag ich dich, Anton, sonst würd‘ ich doch wohl nicht immer herkommen, oder?«
»Ach ja«, seufzte der alte Mann und ließ ihn gehen.
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