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»Die Kunst blickt hinter den Ereignishorizont«

Im Vorfeld der Veröffentlichung des lyrisch-musikalischen Podcasts »Die Stadt und das Paar« auf Literatur.Review wurde ein Interview mit dem Autor der so betitelten Gedichtfolge geführt, mit Stefan Grosser, der »Die Stadt und das Paar« seinem work in progress »homo sapiens. Bericht eines Schiffbrüchigen« entnommen hat, einem neunbändigen und mehrtausendseitigen Epos über den Schiffbruch des modernen Menschen. Um den Hörern des Podcasts und den Lesern dieser Website einen Einblick zu gewähren in Konzeption und Komposition der monumentalen Dystopie des »homo sapiens« soll dieses Interview hier in zwei Teilen dokumentiert werden.

Das Gespräch fand statt am 17. Mai 2024 in München, im heimischen Arbeitszimmer von Stefan Grosser, inmitten seiner Bibliothek. Es hatte gegen 16:30 Uhr begonnen, und nach ungefähr 25 Minuten nahm es folgende Wendung:

P.A.M.: Da stellt sich mir jetzt aber eine vielleicht etwas unangenehme Frage: Warum sollte ich als Leser diese Dystopie denn überhaupt lesen, wenn sie – wie du sagst – ein unplausibles Zukunftsszenario ist und eigentlich nur so etwas wie der Traum oder wahrscheinlich eher der Alptraum eines ganz spezifischen Milieus aus der alten Bundesrepublik? Also, dieses Unbewußte, das in den Seelen deiner »mittelbürgerlich«-bundesrepublikanischen Charaktere steckt und das sich am Ende in einer Katastrophe manifestiert, ist das universell? Trifft es auch auf Indien zu, China, Rußland, oder ist das eben eine bundesrepublikanische Geschichte? Also: Sind deine Charaktere universelle Charaktere und mithin auch von allgemeinmenschlichem Interesse?

S.G.: Nun, der Titel des Gesamtwerkes, der Übertitel dieser ganzen 9 Bände ist ja etwas größenwahnsinnig: »homo sapiens. Bericht eines Schiffbrüchigen«. Und in diesem Größenwahn deutet sich natürlich auch schon an, daß es nicht ausschließlich um ein kleines, abgekapseltes Milieu gehen soll, sondern daß sich darin, in den Konflikten und den Dämonen und Träumen dieser Menschen, auch Allgemeinmenschliches spiegelt. Da verhalten sich meine 9 Bände nicht anders als jeder andere Roman auch. Immer wird ja Besonderes dargestellt, eine besondere Epoche, eine besondere Gesellschaft, und dann wird – im Gelingensfall – das Besondere transparent auf das Allgemeine … Aber ich denke, ich muß an diesem Punkt auch auf die vielbeschworenen »vernunftgeschichtlichen Entwicklungen« kommen, die ja, wie gesagt, im Fokus meines Interesses stehen, neben anderen. Wenn wir bisher über Sehnsüchte, Ängste, Dämonen gesprochen haben, waren wir ja eher bei den tiefenpsychologischen Aspekten. Zentral für das, was ich »vernunftgeschichtliche Entwicklungen« genannt habe, ist in meinem »homo sapiens« der philosophische Diskurs der Auflösung des Subjekts, seit Nietzsche vor allem. Und dieser Diskurs der Auflösung des Subjekts – oder vielleicht sollte man eher sagen: der Auflösung des abendländischen Subjekts – ist ja aufs Engste verwoben mit dem »größten neueren Ereignis« (wie es bei Nietzsche heißt): dem Tode Gottes. Dem Verlust der alten, festen Werte- und Orientierungstraditionen. Und in diesem großen, ja mindestens seit der Aufklärung sich abspielenden Drama ist meine kleine (auch wenn es 9 Bände sind), meine letztlich kleine Geschichte über vielleicht ein paar Jahrzehnte am Übergang zum 21. Jahrhundert eingebettet. Es geht also durchaus auch – wieder einmal – um die Frage: Wie können Menschen leben, wenn es keine Orientierung mehr gibt, und (das war ja Nietzsches Frage, die nicht beantwortet ist bis heute, die vielleicht nie beantwortet werden kann) wie können die Menschen eigentlich leben, wenn es keinen Gott mehr gibt? Was bedeutet das eigentlich? Die Menschen haben Gott getötet, sagt Nietzsche, aber die Dimension dieses Ereignisses wird von ihnen überhaupt nicht erfaßt. Letztlich ist meine Geschichte in diesen großen philosophischen Kontext eingebettet, und, um auf deine Frage zurückzukommen, diese großen philosophischen Fragen sind natürlich in höchstem Maße allgemeinmenschliche Fragen.

P.A.M.: Ich höre dahinter bei dir schon einen Wunsch oder eine Vorstellung, daß es so einen Überbau geben soll, ist das richtig? Daß die Menschen so etwas haben sollten: Orientierung, Werte, Gott. Habe ich das richtig verstanden?

S.G.: Ja, das kann man schon so sagen. Allerdings schreibe ich natürlich Literatur, Belletristik, und keine Philosophie oder Ratgeber-Literatur. Das heißt, es geht vor allem darum, zu erforschen, eine existentielle Situation des Menschen zu erforschen (mit Kundera zu sprechen), zu erforschen, wie können die Menschen leben, wenn es so etwas nicht mehr gibt?

P.A.M.: Und diese Erforschung, diese große philosophische Diskussion, wird die innerhalb deiner 9 Bände in den Essays stattfinden, oder wird die auch in der Interaktion, in den Dialogen der Charaktere vorkommen?

S.G.: Auch in den Interaktionen und Dialogen der Charaktere, ja! In den Essays natürlich und, was einen ganz entscheidenen Teil der 9 Bände ausmacht, in den großen Collagen! Es gibt ganze Texte, ganze kleine Bände dieser 9 Bände und große Abschnitte des zweiten großen Romans, des »homo fluidus«, die nur aus Zitaten zusammengefügt sind. Riesige Collagen der gesamten Geistesgeschichte umfassen Jahrtausende der Philosophie, der Literatur, der Wissenschaft, und vor allem auch in diesen Collagen findet die philosphische Diskussion und auch die Gottesdiskussion statt, in der Zusammenfügung von zunächst vollkommen konträren und nicht zusammengehörigen und aus den unterschiedlichsten Epochen herrührenden Zitaten. Es gibt Originalzitate, es gibt verwandelte Zitate, es gibt ganze kleine, unverändert übenommene Werke oder größere umfassend transformierte, die alle konfrontiert werden mit unzähligen anderen und so in radikal neue Kontexte geraten. Diese Collagen sind wie Gespräche von all den Autoren aus Jahrtausenden miteinander. Aber aus anderer Perspektive betrachtet, wieder ausgehend von den Geschichten aus dem Mittelbürgertum, werden diese Collagen gewissermaßen die Rückseite oder die unausgesprochenen Tiefenschichten der Gespräche der Figuren … Und hier sind wir jetzt, ich möchte fast sagen: gleichsam am Mittelpunkt der Erde! Das Thema der Gespräche der Menschen miteinander ist ein sich unterschwellig entwickelndes Hauptthema von Band 1 bis Band 9. Was passiert, wenn Menschen miteinander sprechen? Sprechen da zwei Subjekte miteinander? Ist der sprachliche Austausch schon eine Auflösung der Grenzen der einzelnen Subjekte? Findet von Anfang an eine Verschmelzung der miteinandersprechenden Subjekte statt? Waren es überhaupt je zwei fest konturierte, unterscheidbare Subjekte? Oder entwickelt sich etwas, was man »Subjekt« nennen kann, vielleicht tatsächlich erst in diesem Austausch von zwei oder mehreren Menschen miteinander? Da gibt es eine 50-seitige Collage, die nichts anderes als die Tiefenschichten eines Gesprächs zwischen zwei Menschen zur Sprache bringt, eines Liebespaars (ein Ausschnitt daraus ist auch Teil der Lesung »Die Stadt und das Paar«), wo die Verschmelzung der beiden im Gespräch auch durch die Verschmelzung ihrer Sprachen dargestellt wird, bis zur Auflösung von Semantik und Syntax und Grammatik. Wie gesagt: Das ist jetzt wirklich der Mittelpunkt der Erde! Bis einschließlich Band 6, des »homo fluidus«, läßt sich ein geheimer, sukzessiver Verwandlungsprozeß des homo sapiens in den homo fluidus aufspüren, des vernunftbegabten Menschen mit seiner »Sprache des Seins« in den flüssigen oder fließenden Menschen mit der »Sprache des Werdens«. Dann aber treten wir ein in die Phase der Zeugung der »Sphärischen Sprache«, die schließlich in Band 9 geboren wird. Das ganze 9-bändige Werk entpuppt sich aus dieser Perspektive als die geheime Geschichte der Sphärischen Sprache und des Sphärischen Gesprächs. Und hier tut sich plötzlich noch einmal etwas völlig Neues auf, eine weitere Wandlung, sozusagen eine dritte Perspektive auf das Gesamtwerk: Ganz am Anfang habe ich ja gesagt, daß man es aus zwei verschiedenen Perspektiven beschreiben müsse, je nachdem, welchen Ausgangspunkt man wähle. Aus der apokalyptischen Rahmenhandlung von Band 1 und 9 heraus betrachtet, tritt die Binnenhandlung von Band 2 bis 8 wie die Vorgeschichte der Apokalypse auf, scheint so aber gar keine Verbindung aufzuweisen zum Endzeitszenario, das dann seinerseits – wir haben ja vorhin darüber gesprochen – völlig unplausibel wirkt. Dagegen aus der Binnenhandlung heraus betrachtet, scheint die Rahmenhandlung wiederum nur ein Traumbild oder eine Manifestation des Unbewußten der Mittelbürger zu sein. Aber aus der Perspektive der Sphärischen Sprache offenbart sich das Endzeitszenario plötzlich doch als völlig plausibel und entwickelt sich folgerichtig aus der Binnenhandlung! Auf einmal findet sich der Leser in einer ungeheuerlichen glaubhaften Zukunftsprojektion, und auf einmal scheint auch gar nicht mehr so eindeutig zu sein, daß es sich wirklich um eine Dystopie handelt: Die Wirklichkeit der Sphärische Sprache, die sich im Geheimen entwickelt hat, mutet nämlich, sobald man die Augen in ihr aufschlägt, wie eine in der Dystopie verborgene Utopie an!

P.A.M.: Okay, du hast mich jetzt super neugierig gemacht! Und da würde mich natürlich noch interessieren: Kannst du etwas Konkreteres zu dieser bislang völlig abstrakt gebliebenen »Sphärischen Sprache« sagen? Was ist das für eine Sprache, und was für Eigenschaften hat sie, daß sie solche unglaublichen Effekte erzielt? Was kann ich mir darunter vorstellen?

S.G.: Ehrlich gesagt, habe ich schon so viel preisgegeben vom Schiffbruch des modernen Menschen, daß ich das Geheimnis der Sphärischen Sprache jetzt lieber nicht lüften möchte.1 Die Lösung dieses Rätsels sollte sich der Leser selbst erlesen. Du hast ja gefragt, warum du diese Dystopie überhaupt lesen solltest. Das ist die Antwort: Das Rätsel der Sphärischen Sprache läßt sich nur lösen, indem man den Bericht eines Schiffbrüchigen liest. Und es ist ein faszinierendes Rätsel! Die Rahmenhandlung dieses »Berichtes« ist ja nochmal eingerahmt von einer Herausgeberfiktion, genaugenommen ist es sogar eine komplexe Struktur mehrerer ineinandergeschachtelter Herausgeberfiktionen, die in einer sehr fernen Zukunft angesiedelt sind, ungefähr im Jahr 1500 post retem (also: »nach dem Netz«), und die fiktiven Herausgeber in dieser fernen Zukunft schreiben aus der Wirklichkeit der Sphärischen Sprache. Für die Herausgeber ist das unserer Rationalität unplausibel scheinende Endzeitszenario alles andere als unplausibel, ebenso wie die für uns inkohärente Vorgeschichte. Wie es schon im Verhältnis von homo sapiens zu homo fluidus war, dessen Sprache der homo sapiens nicht mehr verstehen konnte, so ist es auch im Verhältnis der Sprache des Werdens, die die Kunst uns verstehen gelehrt hat, zur Sphärischen Sprache: Der homo fluidus, zu dem wir mittels der großen Verwandlerin der Kunst geworden sind, kann die Sphärische Sprache nicht verstehen, die Wirklichkeit der Sphärischen Sprache liegt für uns gleichsam hinter dem Ereignishorizont. Aber die Kunst blickt hinter den Ereignishorizont. Und wer den »homo sapiens« liest, seinen »Bericht eines Schiffbrüchigen«, der kann auch einen Blick werfen hinter den Ereignishorizont.

P.A.M.: Also: höchsten Respekt!

S.G.: Vielen Dank!

P.A.M.: Ein so offenes Werk zu schreiben und es dann auch noch so vorzustellen … Danke, Stefan!

S.G.: Ich danke dir!

  1. An dieser Stelle des Gespräches hätte es nicht überflüssig erscheinen dürfen, den Namen von Peter Sloterdijk und den Titel seiner »Sphären«-Trilogie zu erwähnen, Ursprung und unerschöpfliche Quelle des Begriffs der Sphäre auch in der neugeborenen »Sphärischen Sprache«. Der »Sphären«-Trilogie verdankt der »homo sapiens« so viel, daß es im Grunde angemessen wäre, Peter Sloterdijk unter die »besonders einflußreichen« Persönlichkeiten in der Parenthese der »Quellen, Einflüsse, Zuflüsse« aufzunehmen, was auch geschehen, wenn diese Parenthese nicht für unmittelbare persönliche Einflüsse reserviert worden wäre. ↩︎